Die Initiative Vision Zero Oncology hat sich die Digitalisierung auf die Fahnen geschrieben. Wie genau wird das Thema bearbeitet?
Stefanie Rudolph: Vision Zero ist eine All-Stakeholder-Initiative. Wir versuchen, alle an dem Prozess der Krebsversorgung und Krebsforschung Beteiligten in einer Art Selbstfindung dazu zu bewegen, sich zu überlegen, was jetzt eigentlich passieren müsste. Da erreicht man dann sehr schnell einen Konsens dahingehend, dass Deutschland bei der Digitalisierung der Medizin stark zurückhängt und dass wir uns extrem schwertun, Patientendaten zu nutzen – und zwar sowohl in der Versorgung als auch in der Forschung. Aufbauend auf dieser Erkenntnis haben wir einen Katalog von Erfordernissen und konkreten Handlungsempfehlungen erstellt. Das ist die Berliner Erklärung, die Anfang 2025 in der Version 2.0 vorgelegt wurde.
Was hat Vision Zero im Bereich Digitalisierung bisher politisch erreicht?
Christof von Kalle: Es ist uns gelungen, das Narrativ ein wenig umzudrehen – weg von einer Diskussion über Gesundheitsdaten als Problem hin zu einer Diskussion, die die Chancen in den Vordergrund rückt. Wir versuchen, die Bedeutung der Daten für das Überleben der Patientinnen und Patienten herauszustellen und das in einer Weise zu kommunizieren, dass es Politik und Öffentlichkeit verstehen. Datenschutz wurde in Deutschland immer interpretiert als Pflicht, möglichst wenig Daten zu prozessieren. Es gibt sogar den Begriff der Datensparsamkeit – der mit modernen Konzepten von datenbezogener Behandlung und Forschung, die vor allem auch die Patientinnen und Patienten schützt, nur sehr bedingt in Einklang zu bringen ist.
Mehr Datennutzung, weniger Datenschutz, ist das die neue Maxime?
Christof von Kalle: So würde ich das nicht sagen. Wir plädieren keineswegs für laxe Einstellungen bei der Datensicherheit. Es geht eher darum, beides gleichberechtigt zu diskutieren. Ein Beispiel: Die oberste Aufsichtsbehörde in Deutschland trägt den Namen „Bundesbeauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit“, kurz BfDI. Das „I“ kam in der Kommunikation des BfDI aber lange Zeit kaum vor. Hier wollen wir ansetzen, das sollte unserer Meinung nach anders sein.
Politisch wurde die Datennutzung in der letzten Legislatur bereits aufgewertet, auch im neuen Koalitionsvertrag wird Datennutzung ausdrücklich betont. Passiert wirklich was?
Stefanie Rudolph: Ich würde schon sagen, dass es Fortschritte gegeben hat, insbesondere mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz und dem Medizinforschungsgesetz. Bei klinischen Arzneimittelstudien wurden die Genehmigung und Durchführung stark vereinfacht etwa durch die Spezialisierung der Ethikkommissionen. Insgesamt wächst auch der Konsens, dass einheitliche Datenschutzanforderungen gelten müssen. Das sind schon Fortschritte. Aber es ist halt noch nicht allumfassend gedacht. Zudem gibt es immer wieder Ausnahmen und Sonderregeln, beispielsweise bei Nicht-AMG-Studien wie etwa im Rahmen des Nationalen Netzwerk für Genomische Medizin. Ein großer konkreter Erfolg von Vision Zero ist übrigens das „Recht auf Gefundenwerden“. Dabei geht es darum, eine Pflicht auf Seiten der Datenauswerter zu etablieren, überlebensrelevante Ergebnisse an die Patientinnen und Patienten zurückzuspiegeln. Nicht zuletzt den Aktivitäten der deutschen Krebs-Community ist es zu verdanken, dass dieser Gedanke im European Health Data Space als Recht der Patientinnen und Patienten verankert wurde. Also: Ja, es passiert was, aber noch nicht schnell genug.
Die neue Berliner Erklärung 2.0 von Vision Zero, die Anfang des Jahres vorgestellt wurde, gibt eine ganze Reihe an konkreten Handlungsempfehlungen. Was sind die Themen, die jetzt dringend angegangen werden müssen?
Christof von Kalle: Es muss jetzt wirklich an die Umsetzung gehen. Nicht nur darüber reden, sondern wirklich machen. Da sind wir noch lange nicht, zumal es bisher noch nicht einmal ein klar erkennbares Finanzierungskonzept für eine patientenrelevante Digitalisierung im Gesundheitssystem gibt.
Stefanie Rudolph: Das Recht auf Gefundenwerden ist da ein gutes Beispiel. Das steht in der EHDS-Verordnung, ok. Aber jetzt muss es natürlich auf nationaler Ebene auch implementiert werden. Dass Patientinnen und Patienten dieses Recht wirklich wahrnehmen können, so weit ist es in Deutschland noch lange nicht.
Kurz zum Verhältnis zwischen der Krebs-Community und den Datenschützern. Der letzte BfDI hat die schon erwähnte Datensparsamkeit immer sehr stark betont. Vor einem Jahr wurde diese Position neu besetzt. Ändert sich was?
Christof von Kalle: Immerhin wird über das Thema jetzt mal etwas offensiver und auch öffentlich gesprochen. Das war höchste Zeit. Als Initiative Vision Zero haben wir in einem Gespräch beim letzten BfDI unsere Positionen dargelegt und eine halbe Stunde lang nur Gegenwind bekommen, bevor das Gespräch dann konstruktiver wurde. Wir wollen an diesen Gesprächsfaden anknüpfen und hoffen auf einen Termin bei der neuen Bundesbeauftragten in der zweiten Jahreshälfte. In Deutschland leben wir bei der Digitalisierung eine merkwürdige Kultur von vorauseilendem Gehorsam, so dass die Realität weit zurücksteht hinter dem, was gesetzlich möglich wäre. Das ist zunächst nicht die Schuld des Datenschutzes, aber es hat natürlich schon mit der Kommunikation zum Thema Datenschutz zu tun. Wir sehen das Problem, dass Datenschutzbeauftragte sich oft nicht auch als Patientenschutzbeauftragte sehen. Wir müssen uns um ausgewogene Prozesse bemühen, die sowohl den Schutz als auch die Nutzung von Daten gewährleisten. So wie es jetzt ist, muss sich ein Datenschutzbeauftragter oder eine Datenschutzbeauftragte im Zweifel für das Nichtprozessieren entscheiden, weil er oder sie für die Folgen des Nichtvorhandenseins von Daten nicht einstehen muss, aber für den Fall eines Datenzwischenfalls wenig Rückendeckung hat.
Die neue BfDI hat neulich eine Krebspatientenorganisation für eine Kampagne kritisiert, die suggeriert, dass zu viel Datenschutz Patientenleben gefährde. „Nicht Datenschutz tötet, sondern Krebs“, schrieb sie daraufhin auf LinkedIn. Besteht die Gefahr, dass die Krebs-Community etwas zu konfrontativ wird?
Christof von Kalle: Wir verstehen das Argument und gehen sogar noch weiter: die Patienten versterben am Krebs und nicht am Datenverlust. Für Patienten mit Krebs sind Daten überlebenswichtig. Und sie nicht zu teilen ist nicht die sicherere Alternative, wie so manche Patientenaufklärung und öffentliche Diskussion nahelegt. Es ist ja nicht so, dass die Datensicherheit an sich hinterfragt würde. Wir stehen mit den Datenschutzbeauftragten auf der gleichen Seite des Problems. Es geht darum, wie man gemeinsam pragmatische Lösungen erreichen kann, die Patientinnen und Patienten vor ihrer Erkrankung bestmöglich zu schützen.
Entscheidend ist ja vor allem auch, was die Patientinnen und Patienten wollen.
Stefanie Rudolph: Genau, und in dem Zusammenhang ist es auch extrem wichtig und gut, dass Patientenvertreterinnen und -vertreter bei den Arbeiten von Vision Zero im Bereich Datenschutz intensiv mit eingebunden waren. Es kommt eben auch von dieser Seite immer lauter die Forderung, dem Wunsch der Patientinnen und Patienten zu entsprechen, und Daten tatsächlich zu teilen und zu nutzen.
Nochmal ganz konkret: Wo sind in den nächsten zwölf Monaten die wichtigsten politischen Handlungsfelder in Sachen digitales Gesundheitswesen?
Christof von Kalle: Ich persönlich finde ich die elektronische Patientenakte sehr zentral. Dass es damit jetzt endlich mal losgeht, kann man gar nicht hoch genug einschätzen, auch wenn die ePA im Moment noch nicht viel kann. Die ePA muss mittelfristig die aktuellen Behandlungsinformationen möglichst vollständig erhalten. Dort, wo das nicht ohne weiteres geht, Stichwort Bildgebung, braucht Verweise auf die Stellen, wo die Daten herunterladbar sind. Wichtig ist auch, dass der Datenfluss in Echtzeit geschieht und nicht mit monatelanger Verspätung. Sonst wird die ganze ePA unbrauchbar. Im Übrigen glaube ich, dass sich die ePA dann im Gebrauch weiterentwickelt. So war das bei den Smartphones auch. Irgendwann wird uns der Funktionsumfang der ePA 1.0 etwas peinlich sein, aber das ist ok. Nur so geht es vorwärts.
Stefanie Rudolph: Was ich neben der ePA auch noch wichtig finde, ist die Inbetriebnahme des Forschungsdatenzentrums und den Einstieg in die tatsächliche Nutzung dieser Daten. Hier ist im Moment das BfArM am Zug, und es dauert leider etwas länger, als viele gedacht hatten.
Ein großes Thema beim Vision Zero Berlin Summit ist die künstliche Intelligenz. Wo kommt die ins Spiel?
Christof von Kalle: KI ist sicher kein Allheilmittel, aber sie leistet schon heute an vielen Stellen in der Medizin wertvolle Dienste. Für die KI, die Proteinstrukturen vorhersagt, gab es ja sogar 2024 den Nobelpreis für Chemie. In der Krebsversorgung sehe ich vor allem in patientennahen oder patientenbezogenen Anwendungen und zum Bürokratieabbau sehr viel Potenzial. Die US-Krebsgesellschaft ASCO hat kürzlich einen KI-Chatbot vorgestellt, der die US-amerikanischen Leitlinien fallbezogen referieren kann. Das finde ich schon beachtlich. Im Moment richtet sich das an Ärztinnen und Ärzte, aber so etwas wird in Zukunft natürlich auch in Richtung Laien funktionieren. Da wird es dann wirklich ernst mit dem Abbau des Wissensgefälles zwischen Behandelnden und Patientinnen und Patienten. Ich halte das für einen guten Schritt und bin sehr gespannt, wie sich das in der Praxis auswirkt. Getreu unserem Motto: gemeinsam gegen Krebs.
Das Interview führte Philipp Grätzel, Chefredakteur von E-HEALTH-COM