Während Deutschland mit seinen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eine internationale Vorreiterrolle eingenommen hat, verfolgen andere europäische Länder unterschiedliche Wege – teils erfolgreicher, teils mühsamer. Es gibt ebenso viele Best Practices wie Herausforderungen, das zeigte der europäische Veranstaltungsstrang bei der DMEA 2025 deutlich. Klare Botschaft: Der europäische Gesundheitsmarkt wird sich in den nächsten Jahren tiefgreifend verändern.
Deutschland: Pionier mit Stolpersteinen
Lag Deutschland in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens im europäischen Vergleich stets weit zurück, konnte man 2020 mit der Einführung der DiGA eine internationale Vorreiterrolle übernehmen. Erstmals konnten digitale Gesundheitsanwendungen nach einem klar definierten Verfahren von Ärzt:innen verschrieben und von Krankenkassen erstattet werden. Die Idee dahinter: schneller Zugang für Patient:innen, Innovationsförderung für Start-ups und strukturierte Evidenzanforderungen für digitale Therapien. Auf dem Papier ist die DiGA ein Vorzeigeprojekt – in der Praxis jedoch ein dickes Brett, das es zu bohren gilt.
Denn die Hürden sind hoch: Um ins Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen – und damit erstattungsfähig – zu werden, müssen Hersteller klinische Studien nachweisen, Datenschutz- und Interoperabilitätsstandards erfüllen und strenge regulatorische Prozesse durchlaufen. Sind diese Hürden genommen, muss zusätzlich die Ärzteschaft überzeugt werden, die Anwendung tatsächlich zu verschreiben.
Zwar sind derzeit fast 70 DiGA (Stand 28.4.2025) gelistet, doch nicht alle konnten sich auf dem Markt behaupten. Einige Start-ups mussten bereits Insolvenz anmelden oder wurden von größeren Playern übernommen. Gab es in der frühen DiGA-Phase noch ausreichend Venture Capital, floss das Geld nach anfänglichem Hype deutlich verhaltener.
„Es war wirklich tough für DiGA-Start-ups. Viele haben es gerade bis zur Zertifizierung geschafft, danach fehlte das Geld für Marketing und Vertrieb“, fasste Luisa Wasilewski, Geschäftsführerin bei Pulsewave, während einer DMEA-Session zusammen. Doch das Ganze hat auch eine positive Seite: Wie bei jedem Hype scheint nun die Konsolidierungsphase auf dem DiGA-Markt einzusetzen. Einhergehend damit entdecken strategische Investoren – insbesondere Pharmafirmen – DiGA zunehmend als Ergänzung ihrer Portfolios. Auch andere Investoren lassen sich langsam wieder blicken.
Was können internationale Anbieter daraus lernen? Ein zentrales Learning könnte sein: Wer in Deutschland als DiGA erfolgreich sein will, muss frühzeitig tief in die regulatorischen Details eintauchen. Eine gute Planung ist erfolgsentscheidend. Wer einfach ins Blaue hineingeht, muss am Ende fast immer tiefer in die Tasche greifen. Und: Es braucht einen langen Atem.
Frankreich, Österreich und Belgien: Lernen von Deutschland
Das deutsche Vorangehen bei der DiGA-Entwicklung wird in anderen europäischen Ländern mit großem Interesse beobachtet. Man ist bestrebt zu lernen – und es besser zu machen. Frankreich beispielsweise geht mit dem PECAN-Verfahren (Prise en Charge Anticipée Numérique) eigene Wege bei der Erstattung digitaler Gesundheitsanwendungen. Inspiriert vom deutschen DiGA-Modell, erlaubt PECAN eine vorläufige Erstattung über zwölf Monate – auch wenn die vollständige klinische Evidenz noch nicht vorliegt. In dieser Zeit müssen Hersteller den Wirksamkeitsnachweis nachliefern, um eine dauerhafte Aufnahme in die reguläre Erstattungsliste (LPPR) zu erreichen.
Zugelassen werden CE-zertifizierte digitale Medizinprodukte, die Innovationen im klinischen Alltag versprechen und strenge Datenschutz- sowie Interoperabilitätsanforderungen erfüllen. Im Unterschied zu Deutschland können jedoch auch Produkte der Risikoklasse III teilnehmen. Die Prüfung erfolgt durch das Gesundheitsministerium und spezialisierte Behörden. Eine Verlängerung der vorläufigen Erstattung – wie sie in Deutschland möglich ist – sieht PECAN nicht vor. „Wir haben gesehen, dass Produkte ohne klare klinische Evidenz kaum eine Chance auf Erstattung haben“, berichtete Franck Le Meur, CEO bei TechToMed, während der DMEA. Aktuell werden erst wenige Anwendungen in Frankreich offiziell erstattet, weil viele Anträge an einer zu schwachen Studienlage oder der unzureichenden Übertragbarkeit ausländischer Daten auf die französische Population scheitern.
Österreich orientiert sich ebenfalls eng am deutschen Modell. Hier existieren diverse Pilotprojekte mit bestehenden DiGA, die helfen sollen, Erfahrungen zu sammeln. Die bisherigen Erkenntnisse haben allerdings dazu geführt, dass man in einigen Bereichen eigene Wege geht: So können lediglich Produkte mit vollständiger, finaler Evidenz in den Erstattungsprozess starten. Zudem läuft der gesamte Verschreibungs- und Abrechnungsprozess vollständig digital ab.
Belgien wiederum hat ein dreistufiges Modell etabliert: Zunächst wird geprüft, ob eine App interoperabel und sicher ist, bevor eine klinische Bewertung und schließlich die Erstattung erfolgt. Ursprünglich stark auf Einzelfirmen fokussiert, werden DTx inzwischen stärker über Krankheitsbilder und Ärztegruppen ausgeschrieben. „Das macht die Prozesse viel effizienter und orientiert sich stärker am tatsächlichen Versorgungsbedarf“, beschreibt Bob Moens, Director Partnerships bei moveUP, die Vorteile.
In einer Sache herrscht Einigkeit: Die klinische Evidenzanforderung für DTx sollte idealerweise europaweit harmonisiert werden, um es den Herstellern auf dem gesamten europäischen Markt leichter zu machen. „Wir brauchen gemeinsame Kriterien. Kein Start-up kann 27 separate Studien für 27 Länder stemmen“, erklärte Wasilewski.
Skandinavien: Vorreiter im Umgang mit Gesundheitsdaten
Während sich viele europäische Länder noch mit der Integration digitaler Therapien beschäftigen, ist der Norden Europas bereits einen Schritt weiter: Der souveräne und nutzerzentrierte Umgang mit Gesundheitsdaten ist hier gelebte Praxis.
Finnland, Norwegen, Dänemark und Schweden verfügen über lang etablierte Infrastrukturen zur Primär- und Sekundärnutzung medizinischer Daten und gelten europaweit als Vorreiter. In Finnland etwa übernimmt „Findata“ eine zentrale Rolle, wenn es um die sichere, datenschutzkonforme Nutzung von Gesundheitsdaten für Forschung und Innovation geht.
Ein Beispiel für gelungene datenbasierte Zusammenarbeit ist das CleverHealth Network – ein Innovationsökosystem unter der Leitung des Universitätsklinikums Helsinki (HUS). Gemeinsam mit Industriepartnern wie Microsoft, Roche oder Siemens Healthineers sowie mit Forschenden und Ärzt:innen werden dort auf Basis realer Versorgungsdaten skalierbare Lösungen entwickelt, die sowohl die Patientenversorgung verbessern als auch als Exportprodukte international wettbewerbsfähig sind.
Norwegen und Dänemark haben nationale elektronische Patientenakten etabliert, die sowohl Ärzt:innen als auch Patient:innen zugänglich sind. Diese Infrastruktur erwies sich insbesondere während der COVID-19-Pandemie als hoch effizient: Innerhalb kürzester Zeit konnten tagesaktuelle Test- und Impfstatistiken bereitgestellt werden – ein Tempo, das vielen anderen Ländern fehlte. Vibeke van der Sprong, Deputy Director General der dänischen Datenschutzbehörde, sagte dazu: „COVID hat gezeigt, dass Dateninfrastruktur kein Luxus ist, sondern essenziell für eine resiliente Gesundheitsversorgung.“
Ein weiterer Erfolgsfaktor ist die aktive Einbindung der Bevölkerung. In Norwegen gibt es ein mehrstufiges Beteiligungsmodell, das neben Verwaltung und Fachpersonal auch Patient:innen über deren Organisationen einbezieht – mit dem Ziel, praxisnahe, alltagstaugliche Lösungen zu entwickeln.
Auch Dänemark setzt auf Transparenz und Bürgernähe: Über Apps können Patient:innen ihre Gesundheitsakten, Laborwerte und Diagnosen selbst einsehen. Was zunächst Skepsis auslöste, hat sich als Gewinn erwiesen: Der Zugang zu eigenen Gesundheitsdaten stärkt das Gesundheitsbewusstsein und verbessert die Arzt-Patienten-Kommunikation. Auch bei der Weiterentwicklung der digitalen Infrastruktur fließen die Perspektiven von Nutzer:innen systematisch ein – ein Ansatz, von dem andere Länder viel lernen können.
EHDS: Ein großes Versprechen – und viele Herausforderungen
Mit dem European Health Data Space (EHDS) will die EU den Flickenteppich nationaler Gesundheitsdaten harmonisieren und eine einheitliche europäische Dateninfrastruktur schaffen. Ziel: bessere Versorgung, mehr Innovation und vereinfachte Forschung. Seit März 2025 ist der EHDS in Kraft – und die Mitgliedstaaten haben vier Jahre Zeit, ihn umzusetzen. Doch der Weg dorthin ist anspruchsvoll.
Frankreich arbeitet stark daran, eine breite öffentliche Zustimmung für den EHDS zu erhalten. Denn obwohl die Verordnung unmittelbar in französisches Recht übergeht, führen einige ihrer Bestimmungen neue Elemente ein, die Anpassungen der nationalen Strukturen und regulatorischen Rahmenbedingungen erforderlich machen. Um diese Entwicklungen frühzeitig vorzubereiten, hat die französische Digitaldelegation eine nationale öffentliche Konsultation gestartet. Erklärtes Ziel ist es, die Anpassungen im Dialog mit allen relevanten Akteur:innen zu gestalten – darunter Wissenschaftler:innen, Forscher:innen, Innovator:innen und Fachleute aus dem digitalen Gesundheitswesen.
Zu den zentralen Themen, die noch gelöst werden müssen, zählen Fragen der Governance insbesondere die künftige Ausgestaltung und Rolle der nationalen Gesundheitsdatenstellen sowie der Aufbau eines vertrauenswürdigen Rahmens für die Nutzung von Gesundheitsdaten.
„Der European Health Data Space (EHDS) kann die Gesundheitsversorgung in Europa vernetzter, effizienter und patientenzentrierter gestalten. Um das zu erreichen, stehen die EU-Mitgliedstaaten allerdings vor wesentlichen Aufgaben“, erklärte Dr. Erion Dasho, Clinical Advisor bei InterSystems, während der DMEA. Um das zu erreichen, stünden die EU-Mitgliedstaaten allerdings vor wesentlichen Aufgaben. Er verwies auf bestehende Datensilos, veraltete IT-Infrastrukturen und uneinheitliche rechtliche Rahmenbedingungen: Ein sicherer, interoperabler und effizienter Austausch von Gesundheitsdaten sei vielerorts kaum möglich. Neben technischen und regulatorischen Hürden brauche es auch einen kulturellen Wandel – mehr Vertrauen in den verantwortungsvollen Umgang mit Gesundheitsdaten sei essenziell, um den Menschen in Europa echten Nutzen zu bringen.
In Deutschland laufen derweil verschiedene Pilotprojekte und gesetzliche Anpassungen. Doch es gibt eine Herausforderung: Viele Unternehmen wissen noch gar nicht, dass sie jetzt aktiv werden müssen. Ohne frühzeitige Kommunikation könnte der EHDS am Widerstand oder der Passivität der Beteiligten ins Stocken geraten.
Europas Chancen – und die harte Arbeit, die noch bevorsteht
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist endgültig zu einem gesamteuropäischen Projekt geworden. Jedes Land hat eigene Baustellen, an denen heftig gearbeitet wird. Deutschland bleibt mit der DiGA ein Vorreiter in einem Teilbereich der Digitalisierung, doch der Weg bleibt steinig. Andere Länder wie Frankreich, Österreich und Belgien setzen eigene Akzente – und lernen voneinander. Derweil zeigt Skandinavien, wie erfolgreiche Datennutzung aussehen kann. Nun, da der EHDS neue Impulse setzt, eröffnen sich enorme Potenziale, gleichzeitig erfordert es aber massive Anstrengungen bei der Umsetzung, Governance und Kommunikation. Europa steht am Anfang eines neuen Kapitels in der digitalen Gesundheitsversorgung. Der Weg wird anspruchsvoll – aber die Chancen sind enorm. Sollten die europäischen Anstrengungen erfolgreich sein, könnte sich die EU und ihr Umgang mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens zu einem attraktiven „Dritten Weg“ als Alternative zu den USA und China etablieren. Es liegt an allen Beteiligten, dafür zu sorgen, dass diese Vision Wirklichkeit wird.