Für unseren letzten Newsletter 2021 kam es etwas spät, deswegen greifen wir es im neuen Jahr nochmal auf: Mitte Dezember hat der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil in dem sich seit Jahren hinziehenden ottonova-Prozess gefällt. Und es macht die Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens nicht einfacher.
Kurze Rekapitulation: Die private Krankenversicherung ottonova bietet seit 2017 Arztbesuche per App an, also schon vor der Lockerung des Fernbehandlungsverbots durch die Ärztekammern ab 2019. Die Ärzt:innen sitzen bei diesem Angebot in der Schweiz, wo telemedizinische Service-Center bekanntlich seit Langem etabliert sind. In dem deutschen Rechtsstreit ging es nicht um die Fernbehandlung an sich, sondern um die Werbung dafür, konkret den ottonova-Slogan: „Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App.“
Dagegen hatte die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs geklagt, mit Verweis auf das Verbot der Werbung für Fernbehandlung nach § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG). Das Landgericht München gab statt, ottonova zog zum Oberlandesgericht. Zwischenzeitig wurde der § 9 HWG durch die Bundesregierung auf Initiative von Jens Spahn hin allerdings geändert, das war im Dezember 2019, kurz vor der Pandemie. Es wurde eine Einschränkung des pauschalen Verbots dahingehend ins Gesetz eingefügt, dass ein Werbeverbot für Fernbehandlungen dann nicht gelte, wenn für die Behandlung nach „allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist“. Das OLG war davon nicht beeindruckt und wies die Berufung im Juli 2020 zurück. Das Ganze landete abschließend beim BGH, der sowohl in Bezug auf die alte als auch in Bezug auf die neue Fassung des § 9 HWG zu entscheiden hatte.
Um es kurz zu machen: Der BGH kommt zu dem Schluss, dass die oben genannte Formulierung sowohl gegen die alte als auch gegen die neue Fassung von § 9 HWG verstößt. Die Urteilsbegründung ist noch nicht veröffentlicht, aber die recht ausführliche Pressemitteilung lässt den Schluss zu, dass der BGH der Auffassung ist, dass der „allgemeine fachliche Standard“ gesundheitswesen-intern definiert werden muss. Und da die ottonova-Formulierung sehr pauschal war, sei das so nicht erfüllt.
Der BGH definiert den fachlichen Standard dabei über § 630a Abs. 2 BGB, also jenen Paragraphen, der den medizinischen Behandlungsvertrag regelt. Anders formuliert: Standard ist nicht, was irgendwo – zum Beispiel in der Schweiz – als Standard gilt, sondern Standard ist, was die relevanten deutschen Leitlinien und zum Beispiel die G-BA-Beschlüsse definieren. Und die sind in Sachen Telemedizin bekanntlich noch nicht so weit wie die Schweiz.
Der ottonova-Gründer Roman Rittweger ist von dem Urteil enttäuscht. Er sieht es weniger als Maulkorb – die Formulierung lässt sich anpassen – denn als symptomatisch für den deutschen Umgang mit Innovation und Digitalisierung: „Was zeigt uns das Symptom? Dass Werbung für eine Dienstleistung, die sich in der Pandemie als extrem nützlich erwiesen hat, jahrelang nicht gesetzlich geregelt ist und Innovatoren sich mit Gerichtsverfahren herumschlagen müssen! Genau deswegen haben viele große Krankenversicherer diese Dienstleistung lange nicht angeboten, obwohl sie deren Nützlichkeit erkannt hatten.“
Weitere Informationen:
https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/2021224.html