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Interview: „Ziel ist die Vernetzung aller Leistungserbringer“

Foto: @ AOK Nordost

Eine der spannendsten IT-Plattformen für eine integrierte Versorgung, die derzeit entstehen, ist die IHE-Plattform der AOK Nordost. Christian Klose, Chief Digital Officer der Krankenkasse, informiert über den Stand der Dinge.

 

Sie waren bis vor kurzem bei der AOK Nordost Geschäftsführer Markt und nun als Leiter der Stabsstelle Digitales Innovationsmanagement Chief Digital Officer. Was sind Ihre Aufgaben, und warum wurde seitens der AOK Nordost eine solche Position geschaffen?

Als Chief Digital Officer bin ich zuständig für die digitale Transformation der AOK Nordost. Wenn Sie so wollen, bin ich sowohl Störenfried als auch Brückenbauer. Mein Blickwinkel ist dabei die Nutzerperspektive. Es geht darum, Lösungen zu entwickeln, die aus Sicht unserer Kunden, also sowohl der Versicherten als auch der Leistungserbringer, Nutzen generieren. Dazu entwickeln wir unter anderem ein Innovationsradar, das uns hilft, Innovationen zu bewerten und zu priorisieren, egal ob sie aus unserer Organisation heraus kommen oder von außen an uns herangetragen werden. Die Verantwortung für die Umsetzung von   Projekten ist abhängig vom Neuerungsgrad für die Organisation. Zum Teil liegt die Umsetzung komplett bei mir, zum Beispiel beim Thema Gesundheitsakte, andere Projekte werden wiederum von Fachbereichen der Organisation verantwortet und von mir bzw. unserem Team beratend unterstützt. Digitale Transformation geht nur gemeinsam.

 

Was macht die AOK Nordost besonders geeignet, beim Thema Digital Health eine Schrittmacherfunktion einzunehmen?

Digitalisierung stellt die Weichen für die Zukunft, das lässt sich in anderen Branchen schon lange beobachten, zunehmend wird das auch stärker im Gesundheitswesen bewusst. Gerade auch unser Vorstandsvorsitzender Frank Michalak hat früh die Chancen und Herausforderungen hierin als Aufgabe erkannt und das Unternehmen strategisch darauf ausgerichtet. Auch strukturell ist die Situation für die AOK Nordost durch ihre regionale Präsenz unter Einbeziehung der Großstadt Berlin günstig. Dass Berlin eine lebhafte Startup-Szene hat, schadet dabei auch nicht, aber das alles sind nur unterstützende Faktoren. Letztlich geht es darum, den Willen und den Mut zum Handeln zu haben.

 

Fangen wir mit dem Thema digitale Versorgungsangebote an. Hat die AOK Nordost eine Art übergeordnete App-Strategie? Welche Arten von digitalen Versorgungslösungen bieten Sie an?

Wir verfügen mittlerweile über ein breites Portfolio derartiger Angebote. Wir haben zum einen, wie andere Krankenkassen ja auch, klassische Service-Apps, zum anderen aber auch Angebote für digital gestützte Versorgungsszenarien. Nennen will ich die App Jourvie, die zur Unterstützung der Behandlung von Patienten mit Essstörungen eingesetzt werden kann. Ganz frisch ist außerdem unser Selektivvertrag mit Emperra, ein Unternehmen, das eine innovative Lösung für Diabetes-Patienten anbietet, die eine voll digitale Erhebung und Dokumentation von zuckerstoffwechselrelevanten Daten erlaubt und die Kommunikation zwischen Patienten und Behandlern stark verbessert.

 

Sind Selektivverträge für digitalmedizinische Angebote noch immer der Königsweg in die Versorgung?

Selektivverträge sind momentan eine Möglichkeit, um gemeinsam mit Partnern in der Versorgung neue Wege zu gehen, zum Wohle der Patienten neue Ansätze auszuprobieren. Den wenigsten Startups ist dabei klar, dass es auf dem Weg ins Gesundheitswesen nicht nur eine innovative Idee braucht, sondern auch eine Integration in die Versorgungsprozesse. Es fehlt oft das notwendige Know-How, Erfahrungen oder Transparenz für die Unternehmen, um sich im System der gesetzlichen Krankenversicherung mit ihren Lösungen etablieren zu können. Das ist schade. Wir wollen daher unter anderem auch gemeinsam mit Startups und anderen Partnern den Weg zu neuen Modellen begleiten – quasi als Serviceleistung. Ein Selektivvertrag ist ein guter Weg, ein digitalmedizinisches Angebot im Dialog mit allen Beteiligten in die Versorgung zu bringen. Im Falle unseres Emperra-Angebots läuft das so, dass der Arzt die Lösung im Rahmen bestimmter Indikationsanforderungen berät und verordnet. Sie ist also Teil der normalen Patientenversorgung, und das wurde im Selektivvertrag bewusst so festgelegt. Selektivverträge haben auch noch einen anderen Vorteil. Sie sind relativ flexibel und dynamisch.  Andere Wege Leistungen in dem „Katalog der GKV“ aufzunehmen sind demgegenüber meist deutlich langwieriger oder haben einen ungewissen Ausgang. In der dynamischen Welt digitaler Modelle ist das kritisch.

 

Wovon hängt es ab, ob ein digitales Service-Angebot Anklang findet oder nicht?

Wenn wir jetzt mal die reinen Service-Apps betrachten, dann ist das entscheidende, dass sie einen einfachen, verständlichen und sicheren Kontakt- und Informationskanal bereitstellen und mit nachvollziehbaren Funktionen überzeugen, die im Kontext den Nutzer mit sinnvollen Mehrwerten begleiten. Da sollten wir auch über den Tellerrand schauen, und uns genau ansehen wie gute Services auch außerhalb der GKV funktionieren. Wir beginnen zum Beispiel damit Dokumente über Foto-Upload Funktion einer App schnell und unkompliziert entgegen zu nehmen. Ohne Frage – das ist nur ein erster kleiner Schritt für rundum digitalen Service – aber es ist ein Beginn, an dem wir auch lernen wie die dahinter liegenden Prozesse effizient zu gestalten sind.

 

Neben den Apps ist eines der digitalen Kernanliegen der AOK Nordost der Aufbau einer digitalen Gesundheitsakte. Was genau verstehen Sie darunter?

Die Gesundheitsakte ist für uns mehr als ein reiner Datenspeicher, wir reden lieber von einem Gesundheitsnetzwerk, bei dem der Patient im Mittelpunkt steht und mit allen Leistungserbringern vernetzt ist, von der Klinik bis zur Hebamme. Auch die Leistungserbringer untereinander sollen über diese Plattform, die sich an IHE-Standards orientiert, kommunizieren können, stets orchestriert vom Patienten, der Zugriffsberechtigungen erteilen und Dokumente zur Verfügung stellen kann. Die Akte ist für uns also kein passives Archiv, sondern eine dezentrale Datenaustauschplattform, die eine hervorragende Grundlage für Angebote wie die Videosprechstunde oder das Telekonsil bietet, weil sie es erlaubt, die dafür nötigen Daten zur Verfügung zu stellen bzw. schneller als bisher zu teilen. Was uns konkret vorschwebt, ist eine Hybrid-Lösung aus einer in einem Rechenzentrum bei einem Dienstleister lokalisierten Online-Akte, die unser Partner Parsek für uns entwickelt, und einer dezentralen, IHE-basierten Plattform für die Anbindung von Krankenhäusern und ambulanten Ärzten, bei der wir mit Cisco zusammenarbeiten.


Welche Einsatzszenarien schweben Ihnen vor?

Die ersten Use Cases seitens der AOK Nordost sind die eMedikation und ein elektronischer Impfpass. Im ersten Schritt werden wir dafür Abrechnungsdaten einfüttern, die wir mit etwa dreiwöchiger Verzögerung erhalten. Für Patienten mit chronischen Erkrankungen entwickeln wir außerdem Krankheitstagebücher. Die Kooperation mit den Sana- und Vivantes-Kliniken zielt im ersten Schritt auf ein Aufnahme- und Entlass-Management. Was uns da vorschwebt, ist ein in die Online-Akte der Versicherten integrierter „Krankenhaus-Pfad“, der zum Beispiel bei elektiven Eingriffen von der Auswahl des Krankenhauses und der Terminbuchung über Patienteninformationen bis zu Formularen und dem Upload ambulanter Dokumente möglichst viele Schritte elektronisch abbildet. Das alles soll so interaktiv wie möglich sein. Den elektronischen Impfpass etwa stellen wir uns auf Dauer nicht als passiven Datenspeicher, sondern als interaktives Tool vor, das bei der Reiseplanung unterstützt und individuelle Impfempfehlungen gibt.

 

Wie ist konkret der aktuelle Stand?

Das Frontend, also die Online-Akte für die Versicherten und die dazugehörigen, nativen iOS- und Android-Apps sind in Entwicklung. Ziel ist, im Frühsommer damit an den Start zu gehen. Wir arbeiten außerdem mit Sana und Vivantes an dem IHE-basierten Aufnahme- und Entlass-Management und pilotieren die Einbindung ambulanter Ärzte. Hierzu wird ein Pilotprojekt unter Einbeziehung eines Arztnetzes mit 45 Ärzten und 9.000 Patienten, der zuständigen KV und 2 Kliniken vorbereitet.. Wir arbeiten mit der KBV an der Zertifizierung für das Sichere Netz der KVen, sodass wir Arztpraxen von Beginn an über das KV-Netz anbinden können. Wir reden außerdem mit den Herstellern von Praxis-IT-System, um mittelfristig eine gewisse Integration in die Primärsysteme zu erreichen. Ein Vehikel dafür ist aus unserer Sicht die S3C-Schnittstelle der gevko, bei der im Rahmen des elektronischen Medikationsplans der AOK PLUS bereits Funktionen für einen elektronischen Impfausweis entwickelt werden.

 

Warum ist eine Krankenkasse die richtige Instanz, so eine Akte zu entwickeln, die ja so, wie Sie es beschreiben, eher eine Kommunikationsplattform ist?

Im deutschen Gesundheitswesen stellt sich ja die Frage, wer es sonst machen soll. Die Krankenkassen haben sich nicht vorgedrängelt. Wir warten seit bald 15 Jahren auf eine einheitliche Lösung, die über die gematik kommen soll. Wir haben sie aber nicht, wenn wir noch länger warten, dann schaffen vielleicht ganz andere Akteure Fakten an den wir dann irgendwann auch als GKV nicht mehr vorbei kommen. Schon deswegen ist es absolut sinnvoll, dass Krankenkassen sich mit dieser Thematik beschäftigen und Antworten auf die Fragen der Versicherten und Leistungserbringer finden. Für die Krankenkassen spricht außerdem, dass sie diejenigen sind, die in alle Richtungen schon heute gut vernetzt sind und bei denen viele der für digitalmedizinische Services und Versorgungsangebote nötigen Daten zusammenlaufen. Wir können jetzt noch Vorreiter sein und das Thema Gesundheits- oder Patientenakte in der öffentlichen Wahrnehmung begleiten und konkrete Angebote entwickeln. Die Zeit müssen wir nutzen, aber natürlich müssen wir das auch gut planen, damit wir uns nicht überheben. Ziel muss es sein, relativ schnell klar umschriebene, gut sichtbare Lösungen zu entwickeln, anhand derer alle erkennen, welchen Nutzen diese für die Versorgung stiften können. Wir müssen ein für alle Beteiligten beherrschbares und akzeptiertes System entwickeln, dass eine Antwort für die Zukunft der Versorgung in unserem Land bietet.


Inwieweit spielt bei der Konzeption von Gesundheitsakten die Big Data-Analytik von Versorgungsdaten einem Rolle?

Die Gesundheitsakte zielt in erster Linie darauf ab die Barrieren der Versorgungslandschaften durchlässiger zu machen, Kommunikation und Datenaustausch sowie auch Transparenz für den Versicherten zu stärken. Über all dies muss der Versicherte jederzeit die volle Entscheidungsgewalt haben, wer was von seinen Daten sehen bzw. verwenden darf. Wir brauchen einen Diskurs und klare Regelungen, wenn wir im Sinne von „think big“ darüber nachdenken, wie digitale Gesundheitsdaten den Versorgungsprozess sinnvoll und sicher begleiten können oder sollten. Sicher könnte sich die Versorgung perspektivisch mit Hilfe von Prädiktionsmodellen stärker in Richtung Prävention und Früherkennung orientieren, das wäre ein echter Mehrwert für die Versicherten. Klar ist aber auch, dass so etwas an das Einverständnis des Patienten gekoppelt werden muss und klarer Regeln für alle Beteiligten bedarf. Die GKV hat hierzu immer wieder klargemacht, dass Modelle, bei denen sich Versichertenbeiträge an Risikokonstellationen orientieren oder bei denen Beiträge an die Nutzung bestimmter Tools gekoppelt werden, nicht akzeptabel sind.

 

Interview: Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM