Die Initiative VISION ZERO hat ihre Jahresplanung für die weitere Umsetzung des German Oncological Data Standard (GOLD) diskutiert. Es handelt sich dabei um einen übergreifenden, onkologischen, digitalen Datensatz. Er soll die babylonische Sprachenvielfalt in Krebsforschung und Krebsversorgung beenden und dafür sorgen, dass Krebspatient:innen besser behandelt und Tumore besser erforscht werden können.
Der GOLD-Datensatz wird mit FHIR-Profilen hinterlegt werden, eine technische Umsetzung, die internationalen Gepflogenheiten entspricht und die auch für die elektronische Patientenakte (ePA) vorgesehen ist. GOLD tritt damit in die Fußstapfen des erfolgreichen GECCO-Datensatzes, der kurz nach Beginn der Pandemie für die klinische Corona-Forschung entwickelt wurde.
Berliner Erklärung: Datennutzung ermöglichen, nicht ausbremsen
Die Arbeiten am GOLD-Standard gehen zurück auf die „Berliner Erklärung“, die VISION ZERO im Juni 2021 formuliert hat. Sie wurde gemeinsam verfasst von Wissenschaftler:innen, medizinischen Versorgern, Wissenschaftsorganisationen, Patientenvertreter:innen und Industrieunternehmen. Die Erklärung soll helfen, jene Potenziale zu wecken, die in einer konsequenten digitalen Nutzung von Versorgungsdaten in der Krebsmedizin schlummern. Über allem schwebt das übergeordnete Ziel von VISION ZERO, nämlich unnötige Krebserkrankungen möglichst vollständig zu verhindern.
Die „Berliner Erklärung“ hat eine Reihe von Handlungsempfehlungen formuliert, um beim Thema Datennutzung voranzukommen – natürlich ohne Datensicherheit und Datenschutz zu kompromittieren. „Viele dieser Handlungsempfehlungen drehen sich um das Teilen von Gesundheitsdaten“, betonte Prof. Dr. Christof von Kalle, Chair für Klinisch-Translationale Wissenschaften am Berlin Institute of Health (BIH) der Charité Universitätsmedizin Berlin. Dabei sei allerdings rasch klargeworden, dass keiner der existierenden onkologischen Datensätze allen Anforderungen für eine umfassende, onkologische Versorgungsdatenlandschaft von Diagnose über Genetik und Therapie bis zur Nachsorge und Erfassung von durch Patienten berichteten Outcome-Parametern (PRO) gerecht werde. „Deswegen haben wir uns zusammengetan und entwickeln jetzt einen gemeinsamen Konsens für Deutschland“, so von Kalle.
Der Schatz besteht aus fast 2500 Daten-Items
Über den Stand der Dinge bei der Arbeit am GOLD-Datensatz, die im Sommer 2021 begonnen hat, berichtete Stefanie Rudolph, Scientific Coordinator an der Charité Berlin. Sie war als Teil des Teams um Prof. Dr. Sylvia Thun, Direktorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am BIH, für die Erstellung des Corona-Datensatzes GECCO zuständig: Das beim GECCO-Datensatz erprobte Vorgehen dient für GOLD jetzt als Blaupause. Rudolph betonte, dass es bei GOLD nicht darum gehe, das Rad neu zu erfinden, sondern existierende nationale und internationale Datensätze zu harmonisieren und in den einheitlichen, internationalen FHIR-Standard der Organisation HL7 zu übertragen.
Insgesamt würden bisher zehn krebsbezogene Datensätze berücksichtigt, so Rudolph. Darunter ist der in Deutschland gesetzlich für die Tumorregister vorgeschriebene ADT/GEKID Datensatz, der klinische Basisdatensatz der Medizininformatik-Initiative (MI-I) des BMBF, der Datensatz des nationalen Netzwerks genomisch Medizin (nNGM), der Datensatz der Zentren für Personalisierte Medizin (ZPM) und der US-amerikanische mCODE-Datensatz, der bereits mit FHIR hinterlegt ist.
Die insgesamt zehn Partial-Datensätze umfassen in Summe 2457 Daten-Items, die von der Berliner Arbeitsgruppe 326 Parametergruppen zugeordnet wurden. Am Ende sollen möglichst alle diese Daten-Items erhalten bleiben. Eine erste Version von GOLD sei bei der Herbsttagung 2021 von VISION ZERO vorgestellt worden und habe viel Zustimmung erfahren, so Rudolph. Ein Governance-Entwurf für die gemeinsame Arbeit ist mittlerweile erstellt. Der nächste wichtige Zwischenschritt ist eine Konsensuskonferenz, die voraussichtlich im Juni 2022 stattfindet und an der möglichst alle wichtigen Akteure in der deutschen Krebsforschung und Krebsversorgung beteiligt sein sollen.
Politisch-rechtliche Meilensteine der nächsten Jahre
Klar ist: Wenn die Arbeit von Informatiker:innen und Semantik-Expert:innen an einem einheitlichen onkologischen Datensatz für Deutschland den gewünschten Erfolg haben soll, dann muss auch an rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen gearbeitet werden. Was hier in Zeiten der Ampel-Koalition zu erwarten ist, skizzierte Prof. Dr. Christian Dierks von dem Beratungsunternehmen Dierks + Company. Er orientierte sich dabei an den Handlungsempfehlungen der „Berliner Erklärung“.
Ein wichtiger Punkt ist die Vereinheitlichung der datenschutzrechtlichen Anforderungen in Deutschland. Dazu wurde noch zu Zeiten der Großen Koalition der § 287 a SGB V geschaffen, der eine federführende Datenschutzaufsicht in der Versorgungs- und Gesundheitsforschung einführt. Hier werde derzeit mit den Datenschutzbehörden ein Konzept zur Umsetzung abgestimmt. Ein entsprechender Beschluss könne realistisch allerdings erst für Ende 2023 erwartet werden, so Dierks.
Forschung mit Gesundheitsdaten nicht unbegründet Fesseln anlegen
Seitens der Universitätsmedizin steht die Einführung des „Broad Consent“ an, eine einheitliche Patienteneinwilligung, die im Rahmen der MI-I erarbeitet wurde. Der Broad Consent soll die Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten für die Forschung verbessern. Er befindet sich derzeit an den Universitätskliniken in einem (langsamen) Rollout. Der besseren Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten dient auch der im Koalitionsvertrag vorgesehene Wechsel bei der elektronischen Patientenakte (ePA) vom Opt-In- zu einem Opt-Out-Modell. Hier erwarte er Ende 2022 eine Konkretisierung, so Dierks.
Die Ampel-Koalition will den Zugang zu Gesundheitsdaten für die Forschung auch verbreitern. Dazu kündigt der Koalitionsvertrag ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz an. Dierks zufolge dürfe es dabei keine Beschränkung des Nutzerkreises auf öffentlich-rechtliche Einrichtungen geben, denn dies sehe weder die DSGVO vor noch sei es mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Einklang. Vielmehr müsse das berechtigte Interesse der Gesundheitsindustrie an Gesundheitsdaten anerkannt und entsprechende Forschung in kontrolliertem Umfeld ermöglicht werden. Das unterstrich auch Hagen Pfundner, Vorstand der Roche Pharma AG: „Medizinische Forschung braucht Daten, sonst steuern wir in Forschung und Versorgung im Blindflug. Die industrielle Gesundheitswirtschaft ist ein wesentlicher Akteur. Industrie und akademische Forschung müssen bei der Entwicklung einer gemeinsamen Datensprache in der Medizin Schulter an Schulter gehen.“
Tesla-isierung der Medizin vermeiden
„Am Ende verschiebt gut gemachte Digitalisierung die Forschung und die Versorgung in Richtung Patient:innen und ermöglicht eine personalisierter Medizin“, fasste Prof. Dr. Heyo Kroemer die Gesamtintention von „Berliner Erklärung“, GOLD-Datensatz und laufenden regulatorischen Reformen zusammen. Besonders viel verspricht der Charité-Chef sich von einer stärkeren Involvierung der Patient:innen beim Sammeln von krebsbezogenen Gesundheitsdaten. Diese könnten beispielsweise während einer Therapie von den Patient:innen zuhause eigenständig erhoben und übermittelt werden: „Die Digitalisierung wird Forschung und Versorgung stärker verschränken, und das braucht einen multilateralen Diskurs aller Beteiligten.“
Dass das alles dringend nötig ist, daran ließ Kroemer keinen Zweifel. Wenn Deutschland bei dem Thema nicht selbst vorankomme, dann würden große Plattformanbieter in die Lücke stoßen: „Bei einer solchen Tesla-isierung würden wir Datenhoheit und Dateninterpretation an Akteure abtreten, die zumindest teilweise nicht aus der Medizin stammen. Das wäre keine gute Entwicklung.“