Potenziale der Telemedizin für eine bessere Versorgung nutzen
In Deutschland wird ärztliche Behandlungszeit zu einem immer knapperen Gut. Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung warnen seit Jahren vor Engpässen in der medizinischen Versorgung. Insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen kann eine bedarfsgerechte Versorgung immer weniger sichergestellt werden. Im Jahr 2035 werden in Deutschland etwa 11.000 Hausärztinnen und -ärzte fehlen. Rund 40 Prozent der Landkreise werden unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein.1
Die neue Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP formuliert in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel, sich diesem Problem anzunehmen: „Alle Menschen in Deutschland sollen gut versorgt und gepflegt werden – in der Stadt und auf dem Land.” Der SVDGV begrüßt ausdrücklich, dass dabei die Potenziale der Digitalisierung genutzt werden sollen, „um eine bessere Versorgungsqualität zu erreichen, aber auch Effizienzpotenziale zu heben.” Besonders vielversprechend ist dabei das Vorhaben, die telemedizinische Versorgung regelhaft zu ermöglichen.
Die Pandemie hat eindrücklich belegt, dass ärztliche Beratungen, Diagnosestellungen, Behandlungen sowie Nachsorge für eine Vielzahl an Indikationen telemedizinisch und damit ortsunabhängig erbracht werden können.2 Zudem gewinnen Ärztinnen und Ärzte durch die digitale Auslagerung administrativer Tätigkeiten (z.B.: digitale Anamnese, E-Rezepte, Abrechnungen) zusätzliche zeitliche Ressourcen, um sich auf ihre wesentliche Aufgabe zu konzentrieren: Die Versorgung der Patientinnen und Patienten.
Gleichzeitig wurde jedoch deutlich, dass dieses Potenzial noch nicht ausreichend gehoben wurde. Die nur langsam fortschreitende Anpassung an künftige Herausforderungen zeigt sich exemplarisch an mehreren Punkten: So fehlt im SGB V bisher ein passendes vertragliches Format für potentielle Kooperationen. Bereits bewährte Strategien zur Integration digitaler Prozesse in bestehende, gesundheitswirtschaftliche Strukturen sind oftmals nicht bekannt. Darüber hinaus wird die Umsetzung von Innovationen im gesamten Versorgungssektor aktuell durch Kooperations- und Kommunikationsbarrieren erschwert.
Auch wenn die Anzahl der durchgeführten Videosprechstunden in den letzten zwei Jahren gestiegen ist, wird bisher nur ein geringer Anteil telemedizinisch durchführbarer Leistungen auch tatsächlich auf diesem Wege erbracht. Die Vorteile für eine bedarfsgerechte Versorgung – sowohl für städtische als auch ländliche Regionen – bleiben aktuell limitiert.
Darüber hinaus steht die Gesundheitsversorgung weltweit vor einer Phase tiefgreifender Veränderungen. Ursache der Veränderungen ist nicht nur die Möglichkeit zur Digitalisierung von Versorgungsprozessen, sondern auch der durch die COVID-19 Pandemie ausgelöste Bedarf und die Notwendigkeit digitale Wertschöpfungspotenziale ganzheitlich zu erschließen.
Die Leistungserbringung erfolgt überwiegend analog und in Sektoren, die durch eine starke Spezialisierung und Abgrenzung gekennzeichnet sind. Telemedizin kann die Schnittstelle zukünftiger integrierter Versorgungsmodelle sein.
Um allen Patientinnen und Patienten eine gleiche Teilhabe an der Telemedizin zu ermöglichen, schlägt der SVDGV vor, ein sogenanntes Telemedizinisches Versorgungszentrum (TMVZ) als neuen Leistungserbringer zu etablieren.
Die zentralen Überlegungen zum TMVZ:
Mit einem TMVZ soll ein Leistungserbringer eingeführt werden, der – analog zu einem MVZ – eine ärztlich geleitete Einrichtung bildet, in der mehrere Ärztinnen und Ärzte als Angestellte oder Vertragsärzte tätig sind. Dies gilt ebenfalls für die ärztliche Leitung, die in medizinischen Fragen weisungsfrei bleibt. Dabei sollte ein TMVZ ausschließlich Ärztinnen und Ärzte solcher Fachgebiete anstellen, die fachspezifisch telemedizinische Versorgung erbringen können. Damit wird die bisherige Limitierung der Telemedizin adressiert: Telemedizinisch durchführbare Leistungen werden nun auch tatsächlich telemedizinisch erbracht. Damit wird mehr Patientinnen und Patienten der Zugang gewährt.
Das TMVZ kann auch eine Triagefunktion erfüllen, um Patientinnen und Patienten zielgerichtet telemedizinisch zu beraten und zu behandeln. Sofern es medizinisch notwendig ist, können diese dann niederschwellig zu einer ambulanten bzw. stationären Behandlung weitergeleitet werden. Das TMVZ entlastet damit die Ärzteschaft vor Ort, die weiterhin für physische (nicht telemedizinisch erbringbare) Leistungen essentiell bleibt.
Möglichkeiten der Umsetzung:
Eine mögliche Verankerung im SGB V könnte in einem neu zu regelnden Paragrafen erarbeitet werden. Die Zulassung eines TMVZ könnte dabei das Ziel der Qualitätssicherung und einer leitliniengerechten Versorgung unterstützen. Eine mögliche Zulassung könnte über einen eigenen Zulassungsausschuss oder Zulassungsausschüsse mit Spezialzuständigkeiten erfolgen.
Eine Besonderheit des TMVZ ist, dass sich der Planungsbereich im Sinne von § 7 Bedarfsplanungs- Richtlinie von anderen Leistungserbringern unterscheidet. Die räumliche Grundlage bilden nicht mehr die kreisfreie Stadt, der Landkreis oder die Kreisregion. Stattdessen kann für ein TMVZ das gesamte Bundesgebiet als einheitlicher Planungsbereich fungieren. Dies ist sinnvoll, da medizinische Leistungen im TMVZ ortsunabhängig durchgeführt werden können. So wird es möglich, dass auch Patientinnen und Patienten in unterversorgten Gebieten den gleichen Zugang zu medizinischen Leistungen erhalten, wie in urbanen Regionen üblich. Dies stärkt ihre Wahlfreiheit. Die bereits heute existierende Versorgungsungleichheit zwischen Stadt und Land kann dadurch entschärft werden.
Das TMVZ trägt dabei auch dem Wandel der Arbeits- und Lebensmodelle sowohl der Ärzteschaft (Teilzeit, Angestelltenverhältnis, Urbanisierung etc.) als auch der Patientenschaft Rechnung. Schließlich müssen auch die Abrechnungsmodalitäten für Videosprechstunden vereinfacht und mit denen von Behandlungen vor Ort gleichgesetzt werden. So kann ein TMVZ einen wichtigen Baustein in einer leistungsfähigen, digital unterstützen Versorgungslandschaft bilden.
Fazit
Die neue Regierung steht vor der bedeutenden Aufgabe, eine flächendeckende Versorgung in einem weiterhin leistungsfähigen Gesundheitswesen sicherzustellen. Die Digitalisierung und insbesondere die Telemedizin sind zentrale Bausteine, diese Herausforderung bewältigen. Die Etablierung des TMVZ als Leistungserbringer lässt sich dabei rechtlich unkompliziert und damit auch zeitnah in die bestehende Systematik des deutschen Gesundheitssystems integrieren.
Gleichwohl wird eine digitale Transformation in den kommenden Jahren nur erfolgreich gelingen, wenn sie von allen Akteurinnen und Akteuren unterstützt wird. Daher bedarf es jetzt der politischen Rahmenbedingungen, die einem modernen, digital-unterstützten Gesundheitssystem den Weg ebnen.
Fußnoten
1 Studie der Robert Bosch Stiftung (2021): Gesundheitszentren für Deutschland. Wie ein Neustart in der Primärversorgung gelingen kann.2 Das Projekt „Sächsisches Fernbehandlungsmodell” der KV Sachsen, AOK PLUS, IKK classic, KNAPPSCHAFT und DAK-Gesundheit listet eine Vielzahl an Indikationen auf, die telemedizinisch behandelt werden können.
Siehe für eine Übersicht: https://www.kvs-sachsen.de/fileadmin/data/kvs/img/Journalisten/210416-PM-Fernbehandlung.pdf (zuletzt abgerufen am 06.01.2022).
Quelle: Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e.V.