Angesichts des wachsenden Fachkräftemangels, der demografischen Entwicklung und regionaler Versorgungsungleichheiten rückt das Thema Telemedizin zunehmend in den Fokus gesundheitspolitischer und praktischer Diskussionen. Die Erwartung, mithilfe telemedizinischer Angebote auch in ländlichen Regionen den Zugang zu hochwertiger medizinischer Versorgung zu sichern, ist dabei fest in der Gesundheitspolitik verankert. [1] Voraussetzung ist allerdings, dass digitale Infrastrukturen verfügbar und gut angebunden sind. In der Praxis zeigt sich jedoch häufig noch ein gemischtes Bild. Einerseits setzen manche Einrichtungen bereits auf durchdachte digitale Prozesse, andererseits erschweren vielerorts fehlende Schnittstellen zwischen telemedizinischen Plattformen, Krankenhaus- oder Praxisinformationssystemen und der Telematikinfrastruktur einen nahtlosen Datenfluss.
Entlastung statt Mehrbelastung
Umso deutlicher ist es hervorzuheben, dass telemedizinische Anwendungen dennoch zunehmend ihren festen Platz im Alltag vieler Praxen einnehmen. Allein im Jahr 2023 wurden laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung rund 4,5 Millionen Videosprechstunden über die gesetzliche Krankenversicherung abgerechnet. Das ist eine Steigerung von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. [2] Diese Entwicklung zeigt: Wo digitale Lösungen sinnvoll integriert und organisatorisch mitgedacht werden, entsteht kein Mehraufwand, sondern echte Entlastungspotenziale – für Praxisteams ebenso wie für Patient:innen.
Besonders für Befundbesprechungen, Verlaufskontrollen oder psychotherapeutische Sitzungen bieten Videosprechstunden eine zeitsparende Alternative zum Vor-Ort-Termin. Digitale Assistenzsysteme, etwa zur automatisierten Anrufannahme oder Terminvergabe, können zusätzlich administrative Tätigkeiten reduzieren und somit medizinisches Fachpersonal entlasten. So startet das Praxisteam mit einer strukturierten Übersicht in den Tag und kann sich auf die Patientenversorgung konzentrieren.
Was Patient:innen wirklich wollen
Zahlreiche Studien und Praxiserfahrungen belegen eine zunehmende Akzeptanz telemedizinischer Angebote – auch unter Patient:innen. Entscheidend dafür sind einfache Nutzbarkeit, transparente Kommunikation des Anwendungsrahmens sowie technische Zuverlässigkeit. Patient:innen wünschen sich digitale Wege insbesondere dann, wenn diese mit der Option einer persönlichen Konsultation vor Ort kombiniert werden. Besonders gut angenommen werden beispielsweise Befundbesprechungen, psychotherapeutische Sitzungen und Routinekontrollen bei chronischen Erkrankungen wie z. B. Diabetes.
Die Erfahrung zeigt: Vertrauen entsteht vor allem dort, wo die Möglichkeiten und Grenzen digitaler Formate verständlich erklärt werden.
Vernetzte Versorgung als Schlüssel
Ein Schlüsselfaktor für die Qualität telemedizinischer Versorgung ist auch die sichere Kommunikation zwischen Gesundheitsfachkräften. Digitale Messenger-Tools, die den fachlichen Austausch DSGVO-konform ermöglichen, werden beispielsweise zunehmend genutzt, um interdisziplinäre Einschätzungen einzuholen oder Patientenfälle auch in Echtzeit abzustimmen. Diese Vernetzung leistet insbesondere in ländlichen oder unterversorgten Regionen einen wesentlichen Beitrag zur Sicherstellung der Versorgungsqualität. Ein Beispiel: Die Hausärztin auf dem Land möchte vor, während oder nach einer Videosprechstunde mit einem Patienten einer Dermatologin aus einem großen, städtischen MVZ eine Nachricht senden, um ihre Zweitmeinung hinzuziehen. Dies ist über sichere Messenger möglich. Diese Art von digitaler Fachkommunikation steigert die Qualität der telemedizinischen Betreuung erheblich.
Pragmatische Lösungen für bestehende Hürden
Trotz bestehender Rahmenbedingungen und Förderinitiativen sehen sich viele Einrichtungen im Alltag mit konkreten Hürden konfrontiert:
- Telemedizinische Anwendungen müssen sich nahtlos in bestehende Praxis- und Klinikmanagementsysteme einfügen.
- Doppelstrukturen bei der Datenerfassung erhöhen den Aufwand unnötig und wirken innovationshemmend.
- Klare, unbürokratische Vergütungsregelungen sind Voraussetzung für eine breite Implementierung.
Erfolgreiche Modelle zeigen bereits, dass eine strukturierte Weiterverweisung an Fachärzt:innen inklusive digitaler Terminbuchung und Informationsweitergabe die Koordination der Anschlussversorgung deutlich verbessern kann. Hausärzt:innen können damit direkt Termine bei Fachärzt:innen buchen.
Ressourcen effizient nutzen, unnötige Kosten reduzieren
Die Integration digitaler Formate verändert nicht nur die Abläufe, sondern verbessert auch die Ressourcennutzung in der Versorgung und reduziert unnötige Kosten. Digitale Konsultationen fokussieren sich stärker auf das medizinische Kernthema und schaffen damit zeitliche Freiräume im Arbeitsalltag. Während ein Teil des Teams Videosprechstunden durchführt, lassen sich Behandlungsräume vor Ort parallel anderweitig nutzen – ein Gewinn an Effizienz. Gleichzeitig öffnen ortsunabhängige Arbeitsmodelle neue Perspektiven für medizinisches Fachpersonal und steigern die Attraktivität ärztlicher Tätigkeit, insbesondere im Wettbewerb um Nachwuchs und qualifizierte Fachkräfte. Besonders in strukturschwachen und ländlichen Regionen leistet Telemedizin auf diese Weise einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Versorgung und macht spezialisierte Expertise auch dort verfügbar, wo sie physisch nicht präsent ist.
Gemeinsam die Zukunft gestalten
Um das volle Potenzial der Telemedizin zu entfalten, ist ein kontinuierlicher Dialog zwischen allen Beteiligten notwendig. Für eine erfolgreiche Weiterentwicklung wünsche ich mir einen regulatorischen Rahmen, der Innovation ermöglicht und nicht durch übermäßige Bürokratie ausbremst. Statt Restriktionen sind gezielte Anreize für neue Versorgungsformen erforderlich.
Daher ist es bei aller Begeisterung wichtig, die Grenzen der Telemedizin zu kennen. Nicht jede Behandlung eignet sich für das digitale Format. Physische Untersuchungen und komplexe Diagnosestellungen erfordern weiterhin die persönliche Anwesenheit. Auch der direkte menschliche Kontakt lässt sich digital nicht vollständig ersetzen.
Dennoch ist die Zukunft der Versorgung hybrid. Eine patientenzentrierte Gesundheitsversorgung, in der digitale und analoge Elemente sinnvoll verzahnt sind, bietet die Chance, Qualität, Zugänglichkeit und Effizienz gleichermaßen zu stärken. Telemedizin übernimmt darin eine zentrale Rolle – nicht als Ersatz für persönliche Behandlungen, sondern als integrativer Bestandteil eines vernetzten Systems. Richtig eingesetzt, kann sie Fachkräfte entlasten, Versorgungslücken schließen und das Gesundheitswesen kosteneffizienter und nachhaltiger gestalten.
Quellen
[1] Deutscher Bundestag: Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung. Stand und Perspektiven der Telemedizin (chrome-extension://efaidnbmnnnibpcajpcglclefindmkaj/https://dserver.bundestag.de/btd/20/150/2015069.pdf).
[2] Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV): Videosprechstunden in noch größerem Umfang möglich - KBV und Kassen vereinbaren Maßnahmenpaket (https://www.kbv.de/html/1150_74375.php).
Autorin
Dr. med. Katharina Schweidtmann
ist Ärztin und Expertin für digitale Lösungen im Gesundheitswesen. Sie ist Head of Hospital Strategy & Partnerships bei Doctolib.
