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„Wir haben die Ungeduld förmlich gespürt“

Sechs Monate Arbeit, über 500 Menschen in der einen oder anderen Weise beteiligt: Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat seine Digitalisierungsstrategie vorgelegt – und dazu gleich wichtige Inhalte für ein neues Digitalgesetz und ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz. Beide Gesetze sollen jetzt zügig finalisiert und in die üblichen Abstimmungsprozesse gehen. Wir haben über Strategie und Gesetzesvorhaben gesprochen mit Susanne Ozegowski, die die Abteilung 5 „Digitalisierung und Innovation“ im BMG leitet, und mit Sebastian Zilch, dort Leiter der Unterabteilung „Gematik, Telematikinfrastruktur, E-Health“.

Sebastian Zilch und Dr. Susanne Ozegwoski im Gespräch mit E-HEALTH-COM. Bild: © Philipp Grätzel von Grätz

Sie haben sich beide in großen Teilen Ihrer bisherigen Karrieren mit dem digitalen Gesundheitswesen beschäftigt. Haben Sie in den gut sechs Monaten Strategieprozess noch Neues gelernt?

Susanne Ozegowski: Was ich sehr eindrücklich fand, war der Wille bei allen Beteiligten, jetzt endlich etwas zu machen. Wir haben die Ungeduld förmlich gespürt. Das ist das Fundament, auf dem wir aufbauen können. Lasst es uns endlich anpacken, wir brauchen das, es ist unmöglich, wo wir in Deutschland stehen: Das waren für mich Kernbotschaften des Strategieprozesses.

 

Sebastian Zilch: Mich hat fasziniert, wie viele Rückmeldungen wir bekommen haben und wie substanziell die waren. Wir hatten mehrere Beteiligungsschleifen, und in jeder kam noch etwas Wertvolles dazu. Das war nicht nur Begeisterung, sondern auch der Wille, ganz konkret beizutragen.

 

Frau Ozegowski, wir waren vor einem Jahr gemeinsam auf einem DMEA-Podium. Damals sagten Sie, dass wir uns erst einmal über ein Zielbild klar werden müssten. Welches Zielbild ist es geworden?

Susanne Ozegowski: Es gibt nicht das eine Ziel, bei dem wir ankommen, und dann haben wir alles geschafft. Die Strategie wird sich über die Zeit auch weiterentwickeln und somit auch das Zielbild. Das ist ein Prozess, und den wollen wir über die neue Digitalagentur auch weiterführen. Ich glaube, die Struktur der Strategie ist sehr hilfreich. Wir haben drei Themenfelder, sie sich gegenseitig bedingen: Technologie, Daten und Prozesse. Ich fange mal mit den Prozessen an: Eine ganz wichtige Erkenntnis aus dem Strategieprozess ist, dass wir davon wegkommen müssen, in elektrifizierten Dokumenten zu denken, hin zu: Wie sollen denn eigentlich Versorgungsprozesse ablaufen, und wie können Daten dabei unterstützen? Das führt dann u.a. dazu, dass wir bei den medizinischen Informationsobjekten (MIO) neu priorisieren müssen, dass wir intensiv an der Dateninfrastruktur arbeiten und uns technologisch teilweise neu aufstellen müssen, Stichwort elektronische Patientenakte (ePA).

 

Bei den Versorgungsprozessen nehmen digitale Disease Management Programme (DMP) einen prominenten Platz in der Strategie ein. Betont wird auch, dass Nutzer:innen konsequent einzubinden seien. Wie lässt sich das so umsetzen, dass Ärzt:innen und Patient:innen am Ende sagen: Jawoll, das ist auch unser Prozess?

Susanne Ozegowski: Das wird eine zentrale Aufgabe der Digitalagentur sein. Wir müssen schon bei der Konzeption der Prozesse mit den Nutzer:innen arbeiten und dies über alle Schritte bis hin zur finalen Spezifikation und deren regelmäßiger Evaluation fortsetzen. Diese Arbeitsweise sollte transparent sein und möglichst offen zur Beteiligung für alle Interessierten.

 

Was sind die konkreten nächste Schritte hin zu solchen digitalen Versorgungsprozessen?

Sebastian Zilch: Viel hängt damit zusammen, wie sich die ePA entwickeln wird. Es wird dort eine stringente Priorisierung geben. Wir werden mit einem Anwendungsfall beginnen, das wird die Medikation sein, die als MIO konzipiert und überall verfügbar sein wird, bei allen Ärzt:innen, in allen Apotheken. Darüber hinaus wird es dann die Möglichkeit zielgruppenorientierter Erweiterungen geben. Es könnte zum Beispiel sein, dass Kinder- und Jugendärzt:innen den Bedarf für ein bestimmtes MIO sehen, dass dann entwickelt, von Herstellern umgesetzt und mit der Medikation verknüpft werden kann. In dieser Logik würde ich auch bei digitalisierten strukturierten Behandlungsprozessen denken. Da kann es dann durchaus sein, dass ein MIO „DMP KHK“ eben nicht überall verfügbar ist, sondern dort, wo für Ärzt:innen und Hersteller Anreize bestehen, es einzusetzen. Die Philosophie ist: Mehrwerte im Rahmen der ePA dort entstehen lassen, wo sie gebraucht werden.

 

Die Medikation soll bei 80 % jener ePA-Nutzer:innen bis 2025 angelegt sein, die mindestens ein Medikament verordnet bekommen. Das wäre dann auch verpflichtend?

Susanne Ozegowski: Ja, hier wird es auf jeden Fall eine Verpflichtung für die Leistungserbringer geben, und die Medikation soll so weit wie möglich automatisiert eingestellt werden, also keine doppelten Aufwände bei den Ärztinnen und Ärzten erzeugen. Dazu brauchen wir das E-Rezept. Wer ein E-Rezept ausstellt, erfasst ja schon wesentliche Teile der Daten, die nachher in die Medikationsübersicht kommen. Deswegen wollen wir diese Verknüpfung, und wir wollen sie auch apothekenseitig: Die Dispensierinformationen landen ebenfalls direkt in der Medikationsübersicht.

 

Sebastian Zilch: Anders wird das auch nichts. Wir haben mittlerweile eine große Auswahl an potenziell wertvollen MIOs, aber in der Umsetzung sind wir bei genau null Prozent. Ich halte das für ein typisches Henne-Ei-Problem. Was wir anders machen: Wir setzen die Henne aufs Ei und gucken, ob es ausgebrütet wird. Die Medikation muss überall laufen. Niemand wird sagen müssen: Haben Sie das? Geht das bei Ihnen? Das ist der Weg.

 

Wie sieht die neue Opt-out-ePA aus? Wie greife ich darauf zu? Wie eine Arztpraxis oder Klinik?

Susanne Ozegowski: Ich mag diesen Begriff „Opt-out-ePA“ gar nicht so sehr, weil er sehr technisch klingt. Treffender finde ich „ePA für alle“. Wir werden endlich ein Angebot für jeden und jede machen, eine ePA auch für all jene Menschen, die einfach nur wollen, dass ihre Versorgung funktioniert, dass Ärzt:innen auf wichtige Informationen jederzeit zugreifen können. Ich glaube, ein großer Teil der Bevölkerung denkt genau so, und ich finde das auch vollkommen legitim. Für all diejenigen, die selbst Daten einsehen wollen, für die, die DiGAs im ePA-Kontext nutzen wollen, für all jene, die Zugriffsrechte der ePA differenziert managen wollen, gibt es weiterhin die Möglichkeit, sich das Frontend, also die ePA-App, zuzulegen. Aber das Frontend ist nicht mehr zwingende Voraussetzung. Das ist ganz entscheidend.

 

Heißt das, die ePA funktioniert auch, wenn Zugriffsmodalitäten am Frontend noch nicht abschließend geklärt sind?

Susanne Ozegowski: Darum geht es nicht. Das Frontend ist ja da, es existiert heute schon und wir ändern das auch nicht grundsätzlich. Uns geht es darum, ein Angebot für all diejenigen zu machen, die sich damit nicht auseinandersetzen möchten oder können. Für all diejenigen, die ein Frontend nutzen wollen, müssen wir es so einfach wie möglich zugänglich machen und dabei gleichzeitig die hohen Datenschutz- und Datensicherheitsanforderungen berücksichtigen, die in Deutschland gelten.

 

Was heißt „so einfach wie möglich machen“ konkret?

Susanne Ozegowski: Das heißt zum einen, dass wir über die digitale Identität, die ab Anfang 2024 zur Verfügung stehen wird, einen einfacheren Zugangsweg für alle digitalen Anwendungen haben werden. Es wird nicht mehr unterschiedliche Zugangswege für E-Rezept, ePA, DiGAs geben. Künftig durchlaufen Versicherte einmal den Registrierungsprozess und können dann die digitale Identität im Gesundheitswesen für verschiedenste Anwendungen nutzen. Das ist die Erstauthentifizierung. Was die Folgeauthentifizierungen angeht, arbeiten wir derzeit sehr intensiv daran, sie möglichst einfach und eben auch voll digital hinzubekommen. Die Bürger:innen sollen nicht jedes Mal die eGK oder den neuen Personalausweis (nPA) ans Smartphone legen und eine PIN eingeben müssen.

 

Das heißt: Die Krankenkassen legen für alle ihre jeweiligen Versicherten eine ePA an. Dafür braucht es primär keine digitale ID der Versicherten, und für die Ärzt:innen und Apotheken ist die ePA ab dann nutzbar. Die digitale ID der Versicherten kommt erst dann ins Spiel, wenn Versicherte das Frontend nutzen möchten. In dem Fall würde die ID bei der Krankenkasse angefordert, und die Versicherten können dann selbst Einblick in die ePA nehmen bzw. mit den Daten arbeiten. Richtig?

Susanne Ozegowski: Genau.

 

Sebastian Zilch: An der Stelle vielleicht nochmal ergänzend: Die ePA bleibt auch mit dem neuen Opt-out-Ansatz freiwillig. Wenn ich sie nicht nutzen möchte, kann ich meiner Krankenkasse sagen, dass sie die ePA nicht anlegen bzw. eine angelegte ePA löschen soll. In dem Fall sehen dann die Leistungserbringer, dass die betreffende Person keine ePA hat, wohingegen sie bei denen, die eine ePA haben, in ihren jeweiligen, durch die Telematikinfrastruktur gesicherten Umgebungen direkt auf die ePA zugreifen können. Wichtig ist auch noch, dass es natürlich auch ohne eigenes Frontend möglich sein wird, souveräne Entscheidungen zu treffen, wenn ich das möchte. Die Patient:innen werden in der Arztpraxis sagen können, dass bestimmte Daten nicht in die ePA eingestellt werden sollen. Das wird aber nicht so detailreich und elaboriert möglich sein wie bei Nutzung des eigenen Frontends, sonst wäre das komplett unpraktikabel. Aber es wird diese Möglichkeit geben.

 

Kurz nochmal etwas detaillierter zum Thema digitale Versicherten-ID und Folgeauthentifizierung bzw. generell zum Thema Einbindung des Datenschutzes. Für die neue Versicherten-ID gab es kürzlich die gematik-Spezifikation, bei der man in der Kommunikation den Eindruck hatte, dass die gematik selbst damit nicht glücklich ist, weil das Gegenhalten einer Karte weiterhin gefordert wird.

Sebastian Zilch: Das ist eine Interpretation.

 

Susanne Ozegowski: Es wurde ein Entwicklungspfad aufgezeigt.

 

Okay, also die Interpretation geht dahin, dass die Spezifikation auch Folge einer Intervention der Datenschützer gewesen sein könnte. Wie auch immer, Sie haben jetzt für das Digitalgesetz vorgesehen, dass das bisherige Ex-ante-Veto von BfDI und BSI bei TI-Anwendungen ersetzen soll durch einen Gremienbeschluss. Was ist das für ein Gremium?

Susanne Ozegowski: Dieses Gremium, das bei der künftigen Digitalagentur angesiedelt werden soll, soll neben BSI und BfDI auch zum Beispiel Vertreter:innen von Medizin und Ethik umfassen. Ziel ist, in den Diskussionen einen abgewogenen Blick zu erreichen, auch den medizinischen Nutzen und die Anwenderfreundlichkeit einzubeziehen.

 

Man könnte sich künftig also vorstellen, dass dieses Gremium zusammensitzt, diskutiert und dann zu einem Entschluss kommt, der zum Beispiel die Folgeauthentifizierung bei der eID vereinfachen würde. Erfolgen diese Gremienbeschlüsse dann auf Mehrheitsbasis?

Susanne Ozegowski: Das wird auch von der Geschäftsordnung abhängen, die sich das Gremium selbst gibt. Wir werden das im Gesetz nicht im Detail vorgeben.

 

Der derzeitige BfDI, Ulrich Kelber, hat sich zur Opt-out-ePA prinzipiell positiv geäußert. Gab es mit ihm bezüglich dieses Gremiums schon Austausch?

Susanne Ozegowski: Wir stehen regelmäßig im Kontakt. Die konkrete Diskussion über das Gremium ist noch nicht im Detail gelaufen, aber es ist [Stand Mitte März, d. Red.] auch noch sehr früh im Prozess.

 

Kommen wir zur Telemedizin: Dort sollen künftig telemedizinische Leistungen nicht mehr auf 30 % des Leistungserbringer-Umsatzes beschränkt sein, außerdem soll eine assistierte Telemedizin neu eingeführt werden. Für Letztere sollen in unterversorgten Regionen zusätzliche telemedizinische Anlaufstellen geschaffen werden. Wie wird das konkret aussehen?

Susanne Ozegowski: Wir wollen die nicht „schaffen“, das soll eine Marktlösung werden. Die Idee ist, dass sich Gesundheitseinrichtungen finden, die das anbieten. Zum Beispiel könnte sich eine Apotheke oder ein Gesundheitskiosk in einer unterversorgten Region entsprechende Kooperationspartner suchen. Es könnte dort einen eigenen Raum geben, der eine medizinische Anlaufstelle für Menschen ist, die sich die Nutzung von Telemedizin nicht zutrauen, oder diagnostische Dienste wie eine Blutdruckmessung benötigen.

 

Braucht es dafür berufsrechtliche Änderungen auf Seiten der Heilberufe?

Susanne Ozegowski: In etlichen Ländern, ja. Letztlich hängt das von den jeweiligen Berufsordnungen vor Ort sowie von den in Gesundheitskiosken oder Apotheken wahrgenommenen Aufgaben ab. Das Digitalgesetz wird hier mehr Klarheit schaffen.

 

Sebastian Zilch: Eine Inspiration dafür waren die Walk-In-Clinics in den USA. Nur dass wir das nicht im Drogeriemarkt des Vertrauens, sondern in der Apotheke oder eben am Gesundheitskiosk ansiedeln wollen. Wir glauben, dass das in unterversorgten Regionen die ärztlichen Strukturen entlastet.

 

Organisatorisch wären dann, wenn ich das richtig sehe, unterschiedliche Modelle denkbar, regionale Zusammenschlüsse von Heilberuflern genauso wie spezialisierte Telemedizinanbieter?

Susanne Ozegowski: Das lassen wir offen, ja. Was wir aber natürlich nicht sehen wollen, ist, dass geschlossene Verbünde von Leistungserbringern entstehen.  

 

Wird das Ende der 30 % Regelung bei der Telemedizin dazu führen, dass wir in Deutschland rein digital agierende Leistungserbringer haben werden?

Susanne Ozegowski: Davon gehe ich aus. Wir denken, dass es ein Berufsbild Teleärzt:in gibt, dessen Aufgabenspektrum sich etwas unterscheidet von dem von Ärzt:innen in der Praxis, die gelegentlich auch telemedizinische Leistungen anbieten. Das Gegenargument lautet immer, dass bisher eh kaum jemand die 30 % Grenze erreicht. Das stimmt, aber ich glaube trotzdem, dass diese Grenze professionellen teleärztlichen Angeboten in Deutschland im Weg steht. Wir würden das gerne ermöglichen, aber natürlich wollen wir auf gar keinen Fall, dass es irgendwann nur noch Teleärzt:innen gibt. Es wird auch weiterhin eine flächendeckende Vor-Ort-Infrastruktur benötigt, und deswegen werden wir die Aufhebung der 30%-Regelung durch strukturelle Regelungen begleiten.


Zur gematik: Das BMG ist dort seit Jens Spahn mit 51 % Mehrheitsgesellschafter. Was können Sie in einer zu 100 % bundeseigenen Digitalagentur mehr tun als heute schon mit absoluter Mehrheit?

Sebastian Zilch: Es geht uns nicht so sehr um die Anteile, es geht uns um eine Governance, die es uns ermöglicht, die Digitalagentur zu dem zu machen, was sie sein soll, nämlich eine Organisation, die eine koordinierende und kooperative Rolle einnimmt. Im Moment ist die gematik eine GmbH, die Gesellschafter hat, die zum Teil ihre Gesellschafterrollen nicht gerade mit großem Enthusiasmus wahrnehmen. Das ist nicht gut, und das ist auch nicht das, was normale Gesellschafter in normalen Firmen tun. Wir erleben in Entscheidungsgremien immer noch Diskussionen, die auf politischer Ebene ihre Berechtigung haben mögen, die aber in einer Umsetzungsorganisation nichts zu suchen haben. Deswegen setzen wir die Governance so auf, dass wir fundierte, vorab diskutierte Entscheidungen treffen können, und dass wir Diskussionsräume haben, in denen Streitpunkte geklärt werden. Wir glauben nicht – was manche befürchten – dass dadurch alles intransparent wird. Wir glauben im Gegenteil, dass wir die gematik wesentlich transparenter und partizipativer machen. Es geht nicht darum, dass wir als Ministerium noch mehr entscheiden können.

 

Wie wird sich diese geänderte Governance im Aufgabenspektrum spiegeln? Dinge wie die Software-Zertifizierungen sind derzeit ja sehr föderiert umgesetzt. Die schon angesprochenen MIOs entstehen nicht bei der gematik, sondern bei der KBV. Soll das alles so bleiben?

Susanne Ozegowski: Wir werden sicher nicht nur die Governance anfassen, sondern auch das Aufgabenspektrum. Damit die Digitalagentur erfolgreich sein kann, braucht sie eine Ende-zu-Ende-Verantwortung für die Prozesse, die sie in der Hand hat. Die gematik hat heute an vielen Stellen eine undankbare Position, weil sie für Dinge verantwortlich gemacht wird, bei denen sie gar kein Mandat hat. Das müssen wir auflösen. Wir brauchen einen Akteur, der sich selbst als verantwortlich dafür sieht, dass am Ende die Dinge gut funktionieren und in der Fläche vernünftig ankommen.

 

Sebastian Zilch: Gleichzeitig haben wir natürlich sehr im Blick, dass das auch eine Frage des Change-Managements ist. Wir werden nicht von heute auf morgen alle Schalter umlegen. Das ist ein Prozess.

 

Seitens der Industrie gibt es die Sorge, dass da ein staatlicher Marktakteur entsteht. Der Vorwurf, Deutschland bewege sich in Richtung Staatsmedizin, ist seit Karl Lauterbach wieder häufiger zu vernehmen, und er bezieht sich auch auf die IT. Was soll die künftige gematik tun, und was nicht?

Susanne Ozegowski: Wir sehen die Digitalagentur nicht in einer Allmachtsrolle. Das macht auch überhaupt keinen Sinn. Wir brauchen eine wettbewerbliche Industrie, die Dinge praxistauglich umsetzen kann. Umso wichtiger ist, und da spielt dann wieder die Governance mit rein, dass sich die Digitalagentur künftig sehr viel früher mit der Industrie zusammensetzt. Dieses Zusammenspiel muss sich verbessern. Es ist nicht das Ziel, dass die Digitalagentur künftig Produkte selbst baut.

 

Das heißt, die E-Rezept-App bleibt eine Ausnahme?

Sebastian Zilch: Ich glaube, dass die E-Rezept-App zu ihrer Zeit ein wichtiges Signal war. Wir werden uns ansehen, ob wir bei der App in Sachen Zugangswegen für Marktteilnehmer noch etwas verbessern können. Die gematik bietet außerdem zentrale Komponenten an, den Weg werden wir in einigen Bereichen weitergehen. Aber es ist definitiv nicht vorgesehen, dass die gematik eigene Software baut. Von daher kann man sagen, ja, die E-Rezept-App war dahingehend eine Besonderheit. Was aber auch damals schon glasklar so kommuniziert wurde, wenn man ehrlich ist.

 

Letzte Frage zur gematik: Der GKV-SV hat süffisant mitgeteilt, dass er davon ausgehe, dass bei einer Bundesagentur die Finanzierung künftig auch aus Bundesmitteln, sprich Steuern, erfolgt. Wird sie?

Sebastian Zilch: Der Zweck der Tätigkeit der gematik ändert sich nicht mit der Digitalagentur. Sie erbringt weiterhin Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung. Vor dem Hintergrund wüsste ich nicht, warum wir das anpassen müssten. Darüber hinaus wird der GKV-SV natürlich weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende ein gutes Gesamtsystem dabei herauskommt.

 

Lassen Sie uns noch über Forschung und Daten reden, ein Lieblingsthema des Ministers. Hier sieht die Strategie bzw. sehen die Inhalte für das GDNG ein Forschungspseudonym vor, quasi eine Art übergreifende, datensichere Forschungs-ID, mit der sich Versorgungsdaten unterschiedlicher Quellen zusammenführen lassen, einerseits ePA-Daten und Abrechnungsdaten im Forschungsdatenzentrum (FDZ) beim BfArM, andererseits aber auch zum Beispiel Registerdaten, die typischerweise an anderen Orten liegen. So weit, so richtig?

Susanne Ozegowski: Korrekt. Das Pseudonym wird vermutlich auf Basis der Krankenversichertennummer erstellt, und die Daten werden dann bei entsprechenden Forschungsanträgen anlassbezogen verknüpft. Die Daten bleiben bei den Datenhaltern, es wird keine zentrale Forschungsdatenbank geben, die alle Daten zusammenführt. Die Re-Identifizierungsmöglichkeit wird mit technisch geeigneten Verfahren minimiert: Die Kennziffer für das Matching von Daten lässt sich nicht auf die Krankenversichertennummer zurückrechnen.

 

Wo soll die entsprechende Vertrauensinfrastruktur angesiedelt werden?

Susanne Ozegowski: Wir wollen bestehende Strukturen nutzen, so wie die heutige Vertrauensstelle für das FDZ im Robert-Koch-Institut.

 

Ein bisschen unklar blieb mir bisher die Freiwilligkeit der Forschung mit ePA-Daten und darüber hinaus. Karl Lauterbach hat angedeutet, dass wichtige epidemiologische Forschung auch ohne Zustimmung möglich sein soll. Betrifft das auch ePA-Daten? Und lässt sich schon konkretisieren, wie die Forschungsfreigabe genau funktionieren soll?

Susanne Ozegowski: Wir wollen grundsätzlich das Opt-out-Prinzip der ePA auch für die Forschung. Prinzipiell sollen ePA-Daten für die Forschung ans FDZ gehen, solange ich das nicht aktiv ablehne. Da gibt es allerdings eine Besonderheit, die sich aus der technischen Architektur der ePA ergibt: Es können nur dann Daten ans FDZ fließen, wenn der Versicherte ein Frontend, also eine ePA-App, nutzt. Die Daten müssen vor einer Datenfreigabe nämlich zunächst im Frontend geöffnet und pseudonymisiert werden. Anders formuliert: Wer kein Frontend nutzt, bei dem greift automatisch das Opt-out. Wer ein Frontend hat, der spendet primär, kann aber natürlich von seinem Opt-out-Recht jederzeit Gebrauch machen. Hintergrund ist, dass wir dem FDZ bei der gegenwärtigen ePA-Architektur sonst Zugriff auf alle ePAs hätten gewähren müssen, und das wollten wir nicht. Das ist zwar noch nicht die Optimallösung, aber ein guter erster Schritt, um zeitnah strukturierte Daten aus der ePA für die Forschung zugänglich machen zu können. Wichtig ist außerdem noch: Auch wenn ich erst eine ePA hatte und die Datenfreigabe erlaubt hatte, kann ich später sagen, dass ich das nicht mehr möchte. Dann werden keine weiteren Daten mehr an das FDZ freigegeben. Das hat allerdings keine Auswirkungen auf bereits publizierte Forschungsarbeiten. Das zweite Thema sind die Abrechnungsdaten der Krankenkassen, die ja auch ans FDZ gehen. Da gibt es kein allgemeines Widerspruchsrecht, aber das ist ja heute auch schon so.

 

Abschließend zu den digitalen Gesundheitsanwendungen, den DiGAs: Hier sollen zum einen integrierte telemedizinische Angebote ermöglicht werden, was derzeit nicht geht. Zum anderen sollen auch Medizinprodukte der Klasse IIb künftig DiGA-fähig werden. Was ist da die Intention?

Susanne Ozegowski: Die DiGAs sind aus unserer Sicht eine Erfolgsgeschichte, aber es war immer klar, dass das Konzept weiterentwickelt werden muss. Bisher ist jede DiGA ein Silo, das wollen wir durch die viel engere Verknüpfung mit der ePA und durch telemedizinische Komponenten aufbrechen. Die Einbeziehung von Klasse IIb Medizinprodukten hat zum einen technische Gründe. Mit der „Medical Device Regulation“ der EU können Veränderungen bei der Risikoeinstufung kommen. Wir wollen nicht, dass bestimmte DiGAs, die bisher möglich sind, künftig nicht mehr möglich sind. Zum anderen wollen wir auch die Potenziale der DiGAs voll nutzen. Da hilft es, etwas mehr zu erlauben.

 

Es gab zuletzt viel Lobby-Arbeit vom GKV-SV in Richtung Abschaffung des DiGA-Fast-Tracks bzw. in Richtung Veränderung der Zulassungsstrukturen. Ist da etwas vorgesehen?

Sebastian Zilch: Der Fast-Track ist ein Instrument, das wir für wichtig halten und das Chancen für die DiGAs bietet. Wir sehen uns natürlich an, ob besondere Regelungen erforderlich sind, wenn sich die Risikoklassen ändern. Grundsätzlich wollen wir am Fast-Track aber festhalten.

 

Auch keine Übertragung des Zulassungsprozederes vom BfArM in Richtung G-BA?

Sebastian Zilch: Das BfArM macht aus unserer Sicht einen sehr guten Job.

 

Die Vision, das Zielbild, nochmal zum Schluss: Wie könnte eine ePA, die Sie in Ihrer Strategie als eine künftig vielleicht sogar sozialgesetzbuchübergreifende Plattform beschreiben, in zehn Jahren aussehen?

Susanne Ozegowski: Erst einmal hoffe ich, dass wir richtig viele sinnvoll strukturierte Daten in der ePA haben werden und nicht mehr MIOs an einer Hand abzählen. Außerdem wollen wir eine viel stärkere Verknüpfung der ePA mit der realen Versorgung, bei den DiGAs, bei der Telemedizin, aber auch zum Beispiel bei den DMPs, wo sehr viel individuellere, sehr viel datenbasiertere Versorgungspfade denkbar sind, als wir sie heute haben. In zehn Jahren sollte es solche individuell zugeschnittenen, datenbasierten Versorgungspfade dann bitte auch bei einem sehr viel breiteren Set an Indikationen geben als nur bei jenen, die heute in den DMPs abgebildet sind. Eine andere Vision, die uns leitet, ist die wissensgenerierende Forschung im Versorgungsalltag. Das ist unter anderem in der Onkologie ein Riesenthema. Auch da, beim Verschmelzen von Versorgung und Forschung, kommt der Plattformgedanke mit rein. Das wird mit dazu beitragen, dass wir in der Krebsversorgung und –forschung auch künftig auf Weltniveau mitspielen können.

 

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz

 

 

Dr. Susanne Ozegowski ist Abteilungsleiterin Digitalisierung & Innovation (Abteilung 5) im Bundesministerium für Gesundheit. Sie war vorher knapp fünf Jahre bei der Techniker Krankenkasse, zuletzt als Geschäftsbereichsleiterin Unternehmensentwicklung. Davor war sie Geschäftsführerin des Bundesverbands Managed Care (BMC) sowie Beraterin bei der Boston Consulting Group.

 

Sebastian Zilch arbeitete beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales an Themen der Internationalen Arbeitsorganisation, bevor er zum Bundesverband Gesundheit-IT – bvitg e.V. wechselte. Dort war er zuletzt Geschäftsführer. Im Frühjahr 2022 wechselte er ins Bundesministerium für Gesundheit. Er leitet in der Abteilung 5 die Unterabteilung „gematik, Telematikinfrastruktur, eHealth“.