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Digitale Medikation: Wieder nur halbe Sachen?

Mit dem Wechsel zur elektronischen Patientenakte mit Opt-out will das Gesundheitswesen auch in Sachen elektronischer Medikation (endlich) einen neuen Anlauf nehmen. Was ein optimales Medikationsmanagement leisten kann, hatte das ARMIN-Projekt gezeigt, bei dem jetzt eine Evaluation vorgestellt wurde. Gemessen daran drohen die aktuellen Pläne für die elektronische Medikation in der neuen ePA einmal mehr zu kurz zu springen.

Bild:© vegefox.com – stock.adobe.com, 109766705, STAND.-LIZ.

ARMIN – der Begriff steht bei Freund:innen einer besseren Arzneimittelversorgung für die Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen. Es handelte sich um ein im Jahr 2014 gestartetes Modellprojekt der AOK PLUS unter Beteiligung der KVen in Sachsen und Thüringen und der Apothekerverbände in den beiden Bundesländern. Das Besondere: Es war ein Langzeitprojekt im Rahmen der Regelversorgung. Und es wurde systematisch ausgewertet, federführend von Prof. Hanna Seidling von der Kooperationseinheit Klinische Pharmazie am Universitätsklinikum Heidelberg.


ARMIN: Drei Module für eine bessere Arzneimittelversorgung
Seidling hat die Ergebnisse Mitte April in Berlin vorgestellt, in Anwesenheit der Präsidentin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA), Gabriele Overwiening, der Vorsitzenden der KV Thüringen, Dr. Annette Rommel, und des Vorsitzenden der AOK PLUS Sachsen und Thüringen, Rainer Striebel. „Das Modellvorhaben ARMIN war die praktische Umsetzung des ABDA-KBV-Modells für eine Verbesserung der Arzneimittelversorgung“, so Overwiening. Dies war ursprünglich für das ganze Land gedacht, ließ sich aber politisch nicht flächendeckend durchsetzen. In Sachsen und Thüringen setze es eine Koalition der Willigen mit einem zweistelligen Millionenbetrag exemplarisch um.


ARMIN bestand aus dem Modul 1 „Wirkstoffverordnung“, dem Modul 2 „Medikationskatalog“ und dem Modul 3 „interdisziplinäres Medikationsmanagement“. Im Rahmen des Moduls 1 sollten Ärzt:innen aus dem Praxisverwaltungssystem (PVS) heraus nicht Präparate, sondern Wirkstoffe verordnen, die von den Apotheken dann entsprechend bedient wurden. Im Modul 2 wurde im PVS ein Medikationskatalog genutzt, der direkt anzeigte, welche Wirkstoffe vorrangig, welche als Reserve und welche nachrangig verordnet werden sollten. Modul 3 schließlich war die Königsdisziplin, das interdisziplinäre Medikationsmanagement unter Einbeziehung von Arztpraxis und Apotheke. Hier mussten sich die Patient:innen explizit einschreiben. Das ermöglichte eine retrospektive, Propensity-Score gematchte Kohortenstudie, mit der sich der Nutzen dieses Versorgungsansatzes evaluieren ließ.


Medizinischer Erfolg, aber keine politische Zukunft?
In der Gesamtschau war ARMIN medizinisch gesehen ein Erfolg, wie Seidling betonte. Primärer Endpunkt der Studie waren Sterblichkeit und Klinikeinweisungen. Bei den Klinikeinweisungen gab es keinen Unterschied. Bei der Sterblichkeit fand sich eine relative Risikoreduktion um 16 Prozent, was hochsignifikant war. Die niedrigere Sterblichkeit ließ sich umrechnen in eine absolute Risikoreduktion von 1,52 Prozent, was bedeutet, dass 66 Patient:innen im Mittel 30 Monate lang im Rahmen eines interdisziplinären Medikationsmanagements versorgt werden mussten, um ein Leben zu retten.

 

Weiterführende Analysen zeigten, dass insbesondere die Adhärenz besser sowie Stopp-Kriterien reduziert wurden, was gleichbedeutend ist mit einer Verringerung von Überversorgung.Wechselwirkungen, PRISCUS-Verordnungen und Start-Kriterien unterschieden sich nicht signifikant.  Bei Befragung der Heilberufler:innen sahen beide Berufsgruppen einen Zusatznutzen des Medikationsmanagements. Auch die Patient:innen begrüßten die zusätzliche Betreuung durch die Apotheke und gaben mehrheitlich an, dass sie jederzeit erneut teilnehmen würden.


Trotz dieser Erfolge wurde ARMIN, an dem rund 10 000 Patient:innen, 550 Ärzt:innen und 900 Apotheker:innen teilnahmen, am Ende der Modellprojektphase eingestellt, und es ist derzeit nicht erkennbar, ob und wann es wieder reanimiert werden könnte. ABDA-Chefin Overwiening will sich damit nicht zufriedengeben. Sie hat drei Forderungen an die Politik:

 

  • Patient:innen mit Polymedikation – 5 oder mehr Dauermedikamente – sollten einen Rechtsanspruch auf eine jährliche Überprüfung der Arzneimitteltherapie haben. Dies sollte durch Ärzt:innen und Apotheker:innen nach definierten Regeln gemeinsam erfolgen.

  • Reicht das nicht, sollten die entsprechenden Patient:innen im Rahmen der Regelversorgung Anspruch auf ein kontinuierliches Medikationsmanagement haben. Das wäre dann eine Versorgung nach dem Modell des ARMIN-Moduls 3.

  • Jeder Medikationsplan sollte den Patient:innen generell persönlich und mündlich erklärt werden, mit einem Schwerpunkt auf der Bedeutung von Adhärenz. Er sollte außerdem gemeinsam von Ärzt:innen und Apotheker:innen geprüft und gepflegt werden.


Es ist relativ offensichtlich, dass die zweite und dritte Forderung Overwienings nach einem digitalen Fundament des Medikationsplans geradezu schreien. Das sah in Berlin auch Annette Rommel von der KV Thüringen so: „Wir brauchen eine digitale Lösung für den Medikationsplan.“ Tatsächlich war die suboptimale Umsetzung der Medikation in den IT-Lösungen insbesondere aus Sicht der Arztpraxen ein wesentlicher Hemmschuh von ARMIN und ein Grund, warum es trotz guter Evaluation bisher keinen echten „Drive“ für einen Rollout von ARMIN-artigen Versorgungskonzepten gibt. Die mangelnde Umsetzung der ARMIN-Module in den IT-Systemen führte dazu, dass längst nicht alle ARMIN-Teilnehmer:innen, die das Modul 3 umsetzen wollten, dies auch tun konnten: „Ich selbst musste mein IT-System wechseln, um an ARMIN überhaupt teilnehmen zu können“, so Rommel.


Medikationspläne im deutschen Gesundheitswesen: Keine Erfolgsgeschichte
Nun könnte man sagen: Abhilfe ist unterwegs! Immerhin will die Ampelkoalition jetzt bei der elektronischen Patientenakte (ePA) im Rahmen der Telematikinfrastruktur (TI) Dampf machen. Ein Opt-out soll gewährleisten, dass die große Mehrheit der Menschen in Deutschland bis 2025 über eine ePA verfügt. Die „ePA für alle“ ist das griffige Stichwort dafür. Und die erste Anwendung der „ePA für alle“ soll gemäß neuer Digitalstrategie des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) der eMedikationsplan (eMP) sein. „Politisches Ziel ist es, dass bis 2025 insgesamt 80 Prozent der GKV-Versicherten mit Medikationsverordnungen über einen Medikationsplan in der ePA verfügen“, so Kassenmanager Rainer Striebel.


Alles in Butter also? Ein paar Paragrafen angepasst, und dann können ARMIN-artige Konzepte auf Basis der Medikation in der ePA überall dort starten, wo Selbstverwaltung oder Politik das möchte? Der Teufel steckt leider im Detail, weswegen wir einen kurzen Blick auf Historie und Zukunft der digitalen Medikation in Deutschland werfen wollen. Da ist zunächst der Bundesmedikationsplan, der BMP, der im Jahr 2016 auf Papier startete. Tatsächlich war der BMP von Anfang an ein digitaler Medikationsplan, dem schon damals eine XML-Datei zugrunde lag. Seit 2019 gibt es diese XML-Datei als „elektronischen Medikationsplan“ oder eMP auf der elektronischen Gesundheitskarte.  


Weder das eine noch das andere hat sich jemals durchgesetzt, jedenfalls nicht so, wie ursprünglich geplant. Auf der eGK werden so gut wie gar keine eMP angelegt. Der BMP ist zwar als ausgedruckter Zettel mit 2D-Datamatrix mittlerweile recht häufig anzutreffen. Aber die Idee, wonach jede Arztpraxis die dem BMP zugrunde liegende XML-Datei bei neuen Verordnungen aktualisiert und diese Aktualisierung dann per Barcode von Praxis zu Praxis kommuniziert wird, ist komplett gescheitert. BMPs werden in der Regel nur von einer Praxis digital erstellt, von allen anderen handschriftlich ergänzt – zulasten der Hausärzt:innen, die das dann wieder digital zusammenführen. Sie sind unvollständig, schlecht lesbar und stiften vielfach mehr Verwirrung, als sie beseitigen. Tatsächlich gibt es eine wissenschaftliche Auswertung, bei der untersucht wurde, ob der BMP die aktuelle Medikation widerspiegelt. Es fanden sich Abweichungen bei satten 78 Prozent der Pläne.


Durchschlägt die „ePA für alle“ den gordischen Knoten?
Der TI-Experte Mark Langguth, der zwölf Jahre lang leitend bei der gematik tätig war und dort unter anderem die derzeitige erste Version der ePA als Produktmanager betreut hat, bevor er sich vor einigen Jahren als Berater selbstständig machte, sieht das Grundproblem von BMP bzw. eMP in der fehlenden Eingliederung in die Arbeits- und Versorgungsprozesse des realen Alltags: „Der Medikationsplan in der derzeitigen Form ist eine kuratierte Liste, die in eine Datei geschrieben und dort fortgeschrieben wird. Er passt in seiner Struktur noch nicht gut genug zu den Arbeitsprozessen in den Praxen, und er muss deswegen weitgehend manuell geschrieben und vor allen Dingen manuell angepasst und fortgeschrieben werden.“ Konkret: Wer ein neues Medikament als Rezept elektronisch in seinem PVS erstellt, kann zwar in der Regel dasselbe Medikament in den BMP/eMP übernehmen. Bei Folgeverordnungen, Absetzungen oder Anpassungen einer Medikation muss dies neben der Dokumentation im PVS aber manuell im BMP/eMP nachgezogen werden, weil die beiden Prozesse nicht hinreichend verzahnt sind. Da geht der Kugelschreiber oft schneller.


Aber das soll jetzt doch anders werden! So hat die Abteilungsleiterin Digitalisierung im BMG, Dr. Susanne Ozegowski, unter anderem im Gespräch mit E-HEALTH-COM betont, dass die Medikation das erste Modul der neuen „ePA für alle“ werden soll. Mehr noch: „Es wird auf jeden Fall eine Verpflichtung für die Leistungserbringer geben, und die Medikation soll so weit wie möglich automatisiert eingestellt werden, also keine doppelten Aufwände bei den Ärztinnen und Ärzten erzeugen“, so Ozegowski. Erreicht werden soll das durch eine Kopplung von eMP und E-Rezept: „Wer ein E-Rezept ausstellt, erfasst ja schon wesentliche Teile der Daten, die nachher in die Medikationsübersicht kommen. Deswegen wollen wir diese Verknüpfung, und wir wollen sie auch apothekenseitig: Die Dispensierinformationen landen ebenfalls direkt in der Medikationsübersicht.“


Was sollte ein digitaler Medikationsplan können?
Die Frage ist: Klappt das alles so, wie man es sich von einem versorgungsnahen, digitalen Medikationsplan wünschen würde? „Soll ein einrichtungsübergreifender Medikationsplan im Feld funktionieren, dann muss er möglichst vollständig und korrekt sein. Er sollte weitgehend automatisiert ohne manuelles Zutun aktuell gehalten werden, soweit fachlich zulässig. Und er sollte die Basis für ergänzende Prozessautomatisierungen liefern. Denn eigentlich sollte nicht ein Medikationsplan das Ziel sein, sondern eine digital unterstützte Medikationstherapie“, beschreibt Langguth das Anforderungsspektrum.


Hinter dem trockenen Ausdruck der „ergänzenden Prozessautomatisierungen“ verbirgt sich einiges, was eine digital unterstützte Medikationstherapie sehr attraktiv machen würde, etwa Informationen darüber, welche Verordnungen eingelöst wurden und welche nicht, Unterstützung bei Folgerezepten, Einnahmeunterstützungen, patientenseitige Erfassung der Einnahme sowie zu Wirkungen und Nebenwirkungen, die direkt dem behandelnden Arzt zur Verfügung gestellt werden kann, Push-Benachrichtigungen an den Patienten im Falle eines Chargenrückrufs, Integration in die Pflege oder auch ein unkomplizierter, automatischer Export von Daten für die Forschung, sofern gewünscht. Im Idealfall sollten Patient:innen auch selbst erworbene Medikamente sowie – bei chronisch Kranken durchaus relevant – selbst initiierte Dosisänderungen dokumentieren können. Es sollte eine einrichtungsbezogene Verschattung einzelner Medikamente zumindest möglich sein. Und das Ganze sollte so gestaltet sein, dass die Hersteller von Primärsystemen in Apotheken, Arztpraxen und Krankenhäusern es mit überschaubarem Entwicklungsaufwand umsetzen können.


Derzeit ist noch unklar, wie der ePA-eMP aussehen wird

Langguth, der nicht nur „TI-ler“, sondern auch selbst langjähriger chronisch kranker Patient ist, ist mehr als skeptisch, ob der eMP in der ePA so, wie er derzeit geplant ist, diese Anforderungen wird erfüllen können. Genau genommen ist er sich ziemlich sicher, dass das nicht klappen wird. Kleiner Ausflug in die Technik. Tatsächlich ist – Stand Ende April – noch nicht definitiv klar, wie der eMP im Rahmen der Opt-out-ePA am Ende aussehen wird. Nach allem, was zu hören ist, ist aber geplant, den bisherigen eMP, der auf dem BMP basiert, zwar in neuer FHIR-Struktur, aber fachlich mehr oder weniger eins zu eins in die ePA zu heben. Das würde bedeuten: Auch in der neuen Version ist der eMP in letzter Konsequenz ein (XML-)Dokument, das von Arztpraxen und Apotheken kontinuierlich fortgeschrieben wird.


Dahinter steht das in Deutschland vor zwanzig Jahren formulierte und nie mehr wirklich angefasste Grundkonzept einer ePA als hochsicherem Safe für patientenseitig verschlüsselte Dokumente. So wie die deutsche ePA konzipiert ist, und so wie zumindest in der ersten Ausbaustufe auch die Opt-out-ePA weiterhin konzipiert sein soll, werden ePA-Inhalte als Dateien Ende-zu-Ende verschlüsselt, unter Nutzung von patienteneigenen Schlüsseln. Das ist okay für unveränderliche Dokumente wie Arztbrief oder Laborbefund. Es wird schwierig beim eMP, der dynamisch ist und strukturierte Daten enthält.

 

Dauerfrust reloaded?
„Ein dateibasierter eMP bedeutet, dass jede Arztpraxis und jede Apotheke, die den lebenslangen eMP fortschreiben möchte, diesen herunterladen, entschlüsseln, verändern, verschlüsseln und wieder hochladen muss“, so Langguth. Zu den Hauptproblemen dieses Ansatzes, der in Abbildung 1 schematisch dargestellt ist, zählt, dass der Medikationsplan verloren ist, wenn das Dokument aus irgendwelchen Gründen, zum Beispiel wegen eines bis dahin unerkannten Fehlers in einem Primärsystem, beschädigt wird. „Dann gibt es nur noch die Möglichkeit, zur letzten medizinischen Einrichtung zurückzugehen, in der die Datei noch funktioniert hat, und sie dort zu rekonstruieren. Und dieser Fehler fällt erst auf, wenn der eMP eigentlich gerade gebraucht wird“, so Langguth.

Abbildung 1: Vereinfachtes Architekturdiagramm eines ePA-basierten eMP als Einzeldatei; Grafik: © Mark Langguth

 

Dieses Grundproblem eines Medikationsplans auf Basis einer einzelnen Datei ist IT-Architekt:innen natürlich klar. Deswegen wird bei dynamischen Dokumenten in der ePA versucht, nicht mit einer Einzeldatei zu arbeiten, sondern mit vielen verschiedenen Dateien. Im Extremfall wird jede Verordnung, jede Dispensierung und jede weitere Information als eigene Datei gespeichert, und das jeweilige Primärsystem baut daraus dann ein virtuelles Gesamtdokument auf. Wie das in einem Architekturschema aussieht und wie bei einem solchen Ansatz die E-Rezept-Erstellung mit dem elektronischen Medikationsplan prinzipiell verknüpft werden kann, zeigt Abbildung 2.

Abbildung 2: Vereinfachtes Diagramm eines ePA-basierten eMP bei einem Multi-File-Ansatz. Die E-Rezepte und Dispensierinformationen kommen über das E-Rezept-Backend der Telematikinfrastruktur, das die Verordnungsinformationen an das ePA-Backend weiterleitet, wo sie dupliziert werden und dann für den eMP zur Verfügung stehen. Grafik: © Mark Langguth

 

„Den Multi-File-Ansatz virtueller Dokumente kennen wir von den medizinischen Informationsobjekten, den MIOs“, so Langguth. „Die MIOs für Mutterpass, Zahnbonusheft, Impfpass und Kinder-U-Heft sind virtuelle Dokumente, die aus einzelnen Dateien aufgebaut sind.“ Tatsächlich ist der Begriff MIO immer wieder zu hören, wenn man im Umfeld von Bundesministerium für Gesundheit und gematik fragt, wie denn die eMedikation im Rahmen der ePA umgesetzt werden soll: „Als MIO“, heißt es dann, wobei für die Struktur und Inhalte des eMP-MIOs gemäß (derzeitiger) gesetzlicher Vorgabe die KBV verantwortlich ist. Die operative Umsetzung übernimmt die KBV-Tochter mio42 GmbH.


Die „virtuellen Dokumenten-­MIOs“ haben allerdings in der Branche keinen besonders guten Ruf mehr. Sie gelten als enorm komplexe Systeme, die sich seitens der Primärsystemhersteller kaum praktikabel implementieren lassen. Das größte Problem ist jedoch, dass die Datenqualität in diesen virtuellen Dokumenten nicht gesichert werden kann. Entsprechend werden MIOs derzeit in der Versorgung nirgendwo genutzt. Tatsächlich ist auch das BMG zu den virtuellen Dokumenten-MIOs im Rahmen seiner Digitalstrategie auf Distanz gegangen. Ein eMP als virtuelles MIO-Dokument wäre da ein Salto rückwärts. Er würde, insbesondere bei polymedizierten Patient:innen, aus Dutzenden bis Hunderten Dateien bestehen. „Wenn dann eine Dosierung angepasst werden soll, müssen erst einmal alle Dateien heruntergeladen, entschlüsselt und verarbeitet werden, nur um die eine Dosierung zu finden, die angepasst und wieder hochgeladen werden soll. Und das ist nur ein Pro­blem von vielen mit virtuellen MIO-Dokumenten. Das wird niemals produktiv nutzbar sein“, so Langguth.

 

Das Dokument ist tot, es lebe die DatenbankWas wäre die Alternative? Wie könnte ein eMP in der ePA gelingen, der schlanker ist, der auch Patient:innen einen schreibenden Zugriff erlaubt, der gut Pflegepersonen oder Angehörige integrieren lässt und der überhaupt medikationsbezogene Prozesse besser unterstützt als der derzeitige BMP bzw. eMP? Die Antwort ist in den Konzepten für eine künftige ePA im Prinzip angelegt: Statt als kontinuierlich fortgeschriebenes Dokument könnte der eMP als Datenbankanwendung konzipiert werden. Und diese Datenbank könnte, entsprechend dem im digitalen Gesundheitswesen bevorzugt genutzten Standard, als sogenannter FHIR-Server umgesetzt werden. Bei einem solchen Konzept würden keine Dokumente mehr hin- und hergeschoben, sondern es würde ein für alle Berechtigten über die Telematikinfrastruktur zugänglicher Medikationsplan mit allen weiteren medikationstherapiebezogenen Daten in einem „eMP-Backend“ angelegt und dort bei Bedarf ergänzt und verändert. „Tatsächlich gibt es in der Telematikinfrastruktur einen solchen Server bereits, nämlich den E-Rezept-Server. Dort könnte man einen eMP-Server im Prinzip mit ansiedeln“, so Langguth. Abbildung 3 illustriert dieses Modell im Detail.

 

 

Abbildung 3: Der eMP als Datenbanklösung, umgesetzt in der Telematikinfrastruktur mit Hilfe eines FHIR-Servers. Der FHIR-Server entspricht hier dem E-Rezept-Server, er könnte aber auch Teil eines ePA-Servers sein. Grafik: © Mark Langguth


 

Statt einer „Zweitverwertung“ des E-Rezept-Servers wäre auch denkbar, die ePA selbst zu erweitern und sie von einem reinen Dokumenten-Safe mehr in Richtung interaktiver Plattform zu entwickeln. Die ePA müsste dabei nicht zu einem kompletten FHIR-Server umgebaut werden. Aber sie bekäme einen Datenbankanteil, was Langguth zufolge ohnehin schon 2017 konzipiert, aber bisher nie umgesetzt wurde. Dieser könnte dann für den eMP genutzt werden. Daneben wären viele andere Versorgungsszenarien denkbar, die von dynamischen Datensätzen profitieren würden, etwa DMPs oder auch zum Beispiel eine Krebsdokumentation. Für das, was Patient:innen am Ende zu sehen bekommen, ist die Frage, wo eine Datenbank physisch angesiedelt wird, völlig unerheblich. „Die Medikation könnte in beiden Fällen in einem ePA-Front­end, also zum Beispiel der ePA-App einer Krankenkasse, angezeigt werden. Prinzipiell wäre aber auch eine separate App denkbar“, so Langguth.


Die Gunst der Stunde nutzen? Oder weiter vorwärts tippeln?

Das Konzept eines eMP als digital unterstützte Medikationstherapie als Datenbanklösung auf einem FHIR-Server wird unterstützt von unterschiedlichen Fachvertretern, Organisationen und Unternehmen, darunter das Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Verband FINSOZ sowie der C&S Pflegesoftwarehersteller und der Portalanbieter m.Doc. Diese Gruppe hat auch den Hashtag #better_eMP formuliert. Tatsächlich ist es gar nicht so weit weg von dem, was auch die Digitalstrategie will – von einer ePA, die nicht nur ein reiner Datentresor ist, sondern als eine Versorgungsplattform fungiert.


Großen Benefit hätte ein solches Konzept nicht zuletzt für Pflegeszenarien aller Art, die beim bisherigen eMP praktisch gar keine Rolle spielen. Ein datenbankbasierter eMP könnte in der stationären wie der ambulanten Pflege zahlreiche und dringend nötige Verbesserungen von Prozessen rund um die Medikation ermöglichen – was in letzter Konsequenz auch die Pflegekräfte (und die Pflegeheime betreuenden Ärzt:innen) entlasten würde. Auch aufseiten der Hersteller von Primärsystemen würde ein Datenbank-eMP zu Entlastungen führen: Wesentliche Komponenten des eMP könnten zentral im Backend angesiedelt werden und müssten nicht von jedem Systemhersteller einzeln implementiert werden. Dass das auch Kosten senken könnte, ist ein weiterer Aspekt.


Umstritten ist weniger das Ziel als die Frage von Geschwindigkeit und Reihenfolge. Sollte nicht jetzt, wo in Sachen gematik und in Sachen ePA dank Digitalstrategie und Opt-out-Einführung ohnehin einiges umgebaut werden muss, gleich der große Wurf gewagt werden? Oder landen wir – danach sieht es im Moment eher aus – zunächst einmal bei einem weiteren Zwischenschritt, der am Ende nicht das halten kann, was sich viele versprechen? Optimisten reden von einem „Stufenplan“. Wenn allerdings die erste Stufe erst 2025 genommen wird, dann wird es jetzt schon eng mit einem „besseren“ eMP noch im dritten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts.

 

Klar ist, dass sich Deutschland und das deutsche Gesundheitswesen mit einem „Datenbank-eMP“ auch gedanklich weiterentwickeln müssten. Eine konsequente Ende-zu-Ende-Verschlüsselung mit patienteneigenem Schlüssel ist mit einem nicht dokumentenbasierten Datenbank-eMP, der vielfältige Unterstützung beim Medikationsprozess bietet, nicht sinnvoll kombinierbar. Dafür erhält man das, was eigentlich alle immer wollten: Nicht einfach einen elektrifizierten Papierzettel, sondern eine digitale Medikation, die sich in die Versorgungsprozesse einfügt und allen Beteiligten im Alltag hilft.

 

TEXT: PHILIPP GRÄTZEL VON GRÄTZ, Chefredakteur E-HEALTH-COM