Zunächst ein wenig Begriffsklärung: Gesundheitsförderung im Allgemeinen wird oft in einem Atemzug mit Prävention genannt. Bei der Prävention geht es um Verhütung und Vorbeugung bestimmter Erkrankungen, bei der Gesundheitsförderung um die Stärkung der gesundheitlichen Ressourcen des einzelnen Menschen ohne Fokus auf eine konkrete Erkrankung. Wenn Prävention und Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz stattfinden, handelt es sich um betriebliche Maßnahmen. Die Begriffe betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) und betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) werden häufig synonym verwendet. BGF ist eine der wichtigsten Komponenten des BGM; das BGM umfasst daneben noch weitere Bausteine wie den Arbeitsschutz oder das betriebliche Eingliederungsmanagement.
Im Kontext von Digitalisierung und BGM gibt es zwei Seiten der Medaille: Einerseits werden Angebote des BGM, die früher nur vor Ort realisiert wurden, auch digital angeboten – etwa mit digitaler Ernährungsberatung oder Anstößen zur körperlichen Bewegung. Andererseits weckt die digitale Transformation des Arbeits- und Privatlebens neue Ansprüche an die BGF: Wie kann sie für Mitarbeitende im Homeoffice oder mit unregelmäßigen Arbeitszeiten funktionieren?
Beide Aspekte spielten im BGM vor der Pandemie eine untergeordnete Rolle: Noch in der 2019/2020 durchgeführten und veröffentlichten Studie „BGM im Mittelstand“1 unter Beteiligung der TK wurde „Begleitung der Mitarbeiter bei der digitalen Transformation“ von den befragten BGM-Experten, HR-Leuten und Führungskräften von allen möglichen Zielen des BGM am seltensten genannt. Als gängige Werkzeuge zur Umsetzung von digitalem BGM hatten lediglich Online-Informationsplattformen und Webinare schon gewisse Verbreitung erfahren. Digitales Coaching, Gamification, Virtual Reality und andere wurden weitaus seltener genannt. Doch in den letzten anderthalb Jahren hat sich einiges getan: Die ganze Arbeitswelt ist viel schneller digitalisiert worden, als es ohne die äußere Notwendigkeit durch die Pandemie jemals passiert wäre. Das beinhaltet auch neue digitale BGM-Angebote sowie die Berücksichtigung von digitalem BGM im Leitfaden Prävention.
BGM und das Präventionsgesetz
Die Gesundheitsförderung in Deutschland, nicht nur in Betrieben, hat 2016 mit dem Präventionsgesetz (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention) weiteren Aufwind bekommen. Es wurde eine Nationale Präventionskonferenz eingerichtet, in der die Sozialversicherungsträger mit Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen, der Bundesagentur für Arbeit und weiteren Akteur:innen gemeinsame Ziele für die Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland festlegen und eine gemeinsame Vorgehensweise, um sie zu erreichen.
Seit 2016 ist vorgeschrieben, dass gesetzliche Krankenkassen pro Versichertem/r im Jahr 3,15 EUR für BGF zur Verfügung stellen müssen; das ist ein Teilbetrag der 7,52 EUR, die insgesamt pro Versichertem/r für Prävention und Gesundheitsförderung ausgegeben werden sollen. Arbeitgeber:innen können diese Unterstützung für BGF seitens der Krankenkassen entweder direkt bei jeder Krankenkasse abrufen, bei der zumindest ein Teil der Beschäftigten versichert ist, oder bei der gemeinsamen BGF-Koordinierungsstelle der Krankenkassen.2
Den Arbeitgeber:innen ist ein Engagement in Sachen BGF zwar nicht gesetzlich vorgeschrieben, ein solches wird aber konkret finanziell gefördert: Sie dürfen schon seit 2008 jährlich eine bestimmte Summe pro Mitarbeiter:in steuerfrei für BGF ausgeben (§ 3 Nr. 34 EStG), seit 2020 sind dies 600 EUR pro Jahr. Laut EStG sind solche Maßnahmen steuerfrei, die „zur Verhinderung und Verminderung von Krankheitsrisiken und zur Förderung der Gesundheit in Betrieben, die hinsichtlich Qualität, Zweckbindung, Zielgerichtetheit und Zertifizierung den Anforderungen der §§ 20 und 20b des Fünften Buches Sozialgesetzbuch genügen.“
Diese und ähnliche Formulierungen haben in den letzten Jahren zu Verwirrung geführt. Es gibt mittlerweile eine Zertifizierung nach einem vom GKV-Spitzenverband festgelegten Verfahren, die bestätigt, dass ein Angebot den Anforderungen der §§ 20 und 20 b SGB V entspricht. Wie diese Anforderungen im Detail aussehen, wird im Leitfaden Prävention3 des GKV-Spitzenverbandes erläutert. Dieser enthält in Kapitel 7 übrigens auch konkrete Vorgaben für die Zertifizierung von digitalen Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen4, die am 01.07.2021 in Kraft getreten sind. Verantwortlich für die Zertifizierung sowohl herkömmlicher als auch digitaler Angebote ist die Zentrale Prüfstelle Prävention.
Zertifizierung ja oder nein?
Unklar war daher zunächst, ob ein BGF-Angebot nur dann steuerfrei ist, wenn es entsprechend dem Leitfaden Prävention zertifiziert wurde, oder ob es auch ohne Zertifizierung die Anforderungen der §§ 20 und 20b SGB V erfüllen kann. Eindeutigkeit wurde erst durch eine im April 2021 veröffentlichte Umsetzungshilfe des Bundesfinanzministeriums geschaffen. Dieser zufolge kommen für die Zertifizierung der Zentralen Prüfstelle Prävention ohnehin nur Angebote zur „individuellen, verhaltensbezogenen Prävention“ infrage, in deren Entwicklung und Durchführung die gesetzlichen Krankenkassen oder von ihnen beauftragte Stellen involviert sind. Dies sind hauptsächlich sogenannte Präventionskurse.
Für Arbeitgeber:innen sind solche Kurse dann absetzbar, wenn sie entweder zertifiziert sind oder wenn sie in „Qualität, Zweckbindung und Zielgerichtetheit den Anforderungen des § 20 entsprechen“ und nicht in gleicher Form allen Versicherten der Krankenkassen angeboten würden. Die Qualität, Zweckbindung und Zielgerichtetheit könnte beispielsweise nachgewiesen werden, wenn die Kursleiter:innen bestätigen, dass das Kurskonzept bereits anderswo zertifiziert wurde. Wenn ein zertifizierter Kurs sowohl von Arbeitgeber:in als auch von der Krankenkasse bezuschusst wird, können die Kosten minus Zuschuss der Krankenkasse (bis zum Freibetrag) von der Steuer abgesetzt werden.
Für Leistungen der betrieblichen Gesundheitsförderung nach § 20b SGB V sei eine Zertifizierung dagegen nicht vorgesehen und somit auch für die steuerliche Absetzbarkeit nicht notwendig. Diese Leistungen sind solche, die bestimmten Arbeitnehmer:innen persönlich zugeordnet werden können und in das Handlungsfeld „Gesundheitsförderlicher Arbeits- und Lebensstil“ gehören.
Im Detail fallen darunter die Präventionsprinzipien:
- Stressbewältigung und Ressourcenstärkung
- Bewegungsförderliches Arbeiten und körperlich aktive Beschäftigte
- Gesundheitsgerechte Ernährung im Arbeitsalltag
- Verhaltensbezogene Suchtprävention im Betrieb
Zurück zu Präventionskursen: Für solche Angebote, in Präsenz und digital, die der Zertifizierung unterliegen, muss nicht nur das Trainingskonzept des Angebots erläutert werden, sondern es muss auch der Wirkungsnachweis mit einer wissenschaftlichen Studie belegt werden.
Evidenzbasierte BGM: Welche Outcomes?
Dieser Schritt in Richtung evidenzbasierte Medizin für digitales BGM und BGM im Allgemeinen ist zwar auf lange Sicht sinnvoll und unvermeidlich, aber aktuell noch ehrgeizig, wenn nicht gar unrealistisch. Es existieren bisher keine verbindlichen oder allgemein anerkannten Richtlinien oder Studiendesigns zur Untersuchung der Wirksamkeit von BGM-Maßnahmen. Außerdem unterscheidet sich BGM von der Prävention in anderen Zusammenhängen durch die Beteiligung eines weiteren Stakeholders: des Arbeitgebers. Auch für Unternehmen spielt es zwar eine wichtige Rolle, ob BGM-Maßnahmen nachweislich wirksam sind, doch ihnen sind unter Umständen andere Outcomes wichtig als den gesetzlichen Krankenkassen oder den Beschäftigten selbst.
Starke Argumente für die Einführung von BGM-Maßnahmen für die Arbeitgeber:innen sind etwa die Senkung von Fehlzeiten, von Fluktuation der Belegschaft und von Frühberentung. Anbieter:innen von BGM-Plattformen bieten ihren Kunden zu diesen und anderen durch das BGM angestrebten Zielen eine Reihe von Key Performance Indicators (KPIs), die sich auf Strukturen, Prozesse oder Ergebnisse beziehen.
Die gesetzlichen und privaten Krankenkassen hoffen dagegen, durch Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention später anfallende Kosten der Krankenbehandlung zu verringern. Für Beschäftigte selbst stehen dagegen die tatsächliche Risikoreduktion für Erkrankungen, das allgemeine Wohlbefinden (wie auch immer es operationalisiert wird) und die Kompatibilität der BGM mit dem Alltagsleben im Vordergrund.
Mit diesem Problem der Evidenzbasierung hat sich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) im November 2020 in einem Memorandum5 auseinandergesetzt. Diese hatte mit dem Präventionsgesetz 2016 unter anderem die Aufgabe erhalten, Präventionsmaßnahmen wissenschaftlich zu evaluieren, war aber mit dem GKV-Spitzenverband in Streit geraten: die GKV wurde mit dem Präventionsgesetz verpflichtet, die BZgA mit 45 Cent pro Versichertem/r mitzufinanzieren, war allerdings mit den ersten Ergebnissen der Zusammenarbeit sehr unzufrieden und warf der BZgA Qualitätsmängel und zeitliche Unzuverlässigkeit vor.6 Im Mai 2021 entschied schließlich das Bundessozialgericht, dass die Finanzierung der BZgA durch Mittel der GKV unrechtmäßig sei.
Promising Practices und Best Evidence
Das ändert nichts daran, dass die BZgA weiterhin für die wissenschaftliche Evaluation von BGM und anderen Präventionsmaßnahmen zuständig ist. In ihrem Memorandum skizziert die BZgA die wichtigsten Gründe für die mangelnde Evidenzbasierung von Prävention und Gesundheitsförderung in Deutschland:
- Projekte sind oft lokal und zeitlich begrenzt; es kommen eher kurz- und mittelfristige als langfristige Projekte zustande. Diese ähneln sich daher häufig in ihrer Zielsetzung (etwa der Prävention von Übergewicht bei Kindern), unterscheiden sich aber so sehr in ihren Rahmenbedingungen und ihrer Dokumentation, dass eine übergreifende wissenschaftliche Auswertung kaum möglich ist.
- Auch wenn viele Projekte eine Evaluation beinhalten, ist diese oft unterfinanziert. Die Studiendesigns sind sehr vereinfacht und meist auf die Evaluation von Prozessen, nicht Ergebnissen, fokussiert.
- Bereits vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse werden bei Entwurf und Umsetzung von Maßnahmen kaum berücksichtigt.
Um diese Probleme anzugehen, schlägt die BZgA eine Überführung gewisser, gut dokumentierter Praxisprojekte in sogenannte BZgA Promising Practices und schließlich BZgA Best Evidence vor.
Nächster Schritt soll dann die Beurteilung der Übertragbarkeit (Transferabilität) von Promising Practices und Best Evidence auf andere Kontexte oder Lebenswelten sein. Wie genau diese zu beurteilen ist, darüber besteht allerdings auch international noch kein Konsens.
Datensammlung
Der Leitfaden Prävention in Kapitel 7 fordert nun also eine „prospektive Beobachtungsstudie mit drei Messzeitpunkten“ für die Zertifizierung eines digitalen Angebots, sieht aber eine vorläufige Zertifizierung vor, zu der nach einem Jahr die Studienergebnisse nachgereicht werden können. Dies erinnert an die Vorgehensweise mit vorläufiger und endgültiger Aufnahme von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) in das DiGA-Verzeichnis beim BfArM.
Die Anforderungen an die Evaluierung von herkömmlichem BGM sind ähnlich – aber auf analogem Wege ungleich schwerer zu erfüllen. Bei digitalen Angeboten ist das Sammeln von Daten ohne zusätzlichen Aufwand möglich und geradezu ein Nebeneffekt. Das Spektrum der möglichen Datenerhebungen ist breit. Dazu Michael Theodossiou vom digitalen BGM-Anbieter wellabe: „Einzelne Kennzahlen, wie z. B. Zugriffe auf bestimmte Inhalte und Nutzungsraten, lassen sich schneller erfassen und analysieren. So kann die Reichweite und Akzeptanz der angebotenen Maßnahmen in Echtzeit nachvollzogen werden. Digitale Feedback-Optionen und Nutzerbefragungen erlauben den unmittelbaren Dialog mit den Teilnehmer:innen. Gesundheitsdaten, die beispielsweise via App oder Wearables erhoben werden, zeigen den Nutzer:innen unmittelbar die Wirksamkeit der umgesetzten Maßnahmen auf und unterstützen bei der Erfolgskontrolle.“
Digitale BGM-Komponenten sind also nicht nur in Bezug auf solche Aspekte wie der Erreichbarkeit von Beschäftigten im Homeoffice und mit flexiblen Arbeitszeiten sinnvoll und notwendig. Wenn die Anforderungen an die Evidenzbasierung von BGM zum Standard wird, dann benötigt unter Umständen jedes BGM-Angebot eine digitale Komponente, um die Datenerhebung zur Evaluation effizient zu gestalten. So betont etwa die digitale BGM-Plattform Humanoo der eTherapists GmbH in ihrem White-
paper7 den Nutzen der anonymisierten digitalen Datenerhebung für die zukünftige Evidenzbasierung von BGM. Daten von der Humanoo-Plattform werden mit der BGF-Studie des Robert Koch-Instituts (GEDA 2014/2015 EHIS) und mit Arbeiten aus der Verhaltensforschung verglichen und in Bezug gesetzt. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass es bisher noch an wirklich miteinander vergleichbaren Daten in der BGF mangele.
Und auch wenn die erhobenen Daten nützliche Evidenz zur Wirksamkeit des BGM darstellen, bleibt die bürokratische Hürde der Zertifizierung: So berichtet Philip Pogoretschnik, Gründer und CEO von eThera-pists, dass sein Unternehmen für die Plattform Humanoo bereits im Februar 2021 Kurse zur Zertifizierung bei der Prüfstelle Prävention eingereicht habe und die Zertifizierung immer noch nicht abgeschlossen sei.
Hybride Herangehensweise notwendig
Klar ist bei allen Vorzügen der digitalen Herangehensweise aber auch, dass ausschließlich digitale Angebote nur wenige Mitarbeitende aus dem Schreibtischsessel locken. Zu hoch ist, wie bei anderen ausschließlich digitalen Angeboten, die Verlockung, sie Netflix-artig nur passiv zu konsumieren. Um Mitarbeitende zur aktiven Teilnahme zu motivieren, braucht es auch seitens des Unternehmens stete Bemühungen, die Angebote zu kommunizieren. Dazu Pogoretschnik: „Viele Unternehmen sehen nicht den kommunikativen Aufwand, online und offline, der betrieben werden muss, um Nutzer:innen engaged und aktiv zu halten.“
So haben denn auch die meisten Anbieter:innen von digitalem BGM kein ausschließlich digitales Portfolio, sondern bieten eine Kombination von Online- und Präsenz-Komponenten. Das Unternehmen wellabe beschäftigt beispielsweise Check-Up-Manager:innen, die in Firmen die Vitalparameter der Beschäftigten messen. Beschäftigte im Homeoffice können ihre Werte selbst messen und in die App eingeben. Angestellte Ärzt:innen stehen den Teilnehmenden für Präventionsgespräche zur Verfügung. Auch Humanoo plant die Ergänzung seines Angebots um Coaches, die vor Ort Beratung zu verschiedenen Aspekten der Gesundheitsförderung durchführen sollen.
Wie in anderen Bereichen hat es wohl auch im BGM erst eine Pandemie gebraucht, um die Vorteile digitaler Plattformen in ganzem Umfang sichtbar zu machen. Mit der allmählichen Rückkehr zur Normalität ist jetzt die Chance, sorgfältig zu bewerten, welche analogen und digitalen Komponenten sich zu sinnvollen und hoffentlich bald wissenschaftlich fundierten Angeboten kombinieren lassen.
1 https://www.tk.de/resource/blob/2080176/d2a3ef84023b03bcbcb5248afd509aeb/bgm-im-mittelstand-2019-2020-digitale-transformation-data.pdf
2 https://www.bgf-koordinierungsstelle.de
3 https://www.gkv-spitzenverband.de/krankenversicherung/praevention_selbsthilfe_beratung/praevention_und_bgf/leitfaden_praevention/leitfaden_praevention.jsp
4 https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/praevention__selbsthilfe__beratung/praevention/praevention_leitfaden/Kriterien_zur_Zertifizierung_digitaler_Angebote_12_2020.pdf
5 https://www.bzga.de/fileadmin/user_upload/Studien/PDF/BZgA_Memorandum_Evidenzbasierung.pdf
6 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76993/Praevention-Krankenkassen-wollen-BZgA-zurueckdraengen ; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/98257/Mittel-fuer-Praevention-bei-Bundeszentrale-fuer-gesundheitliche-Aufklaerung-gestrandet
7 https://www.humanoo.com/wp-content/themes/hello-elementor/assets/pdfs/Corporate_Wellness-DE.pdf