E-HEALTH-COM ist das unabhängige Fachmagazin für Gesundheitstelematik, vernetzte Medizintechnik , Telemedizin und Health-IT für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Mehr

Für das ePaper anmelden

Geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein, um sich an der Website anzumelden

Anmelden

Passwort vergessen?

Top-Thema |

Digitalstrategie: iterativ, inklusiv, transparent und – zu langsam?

Der Koalitionsvertrag der Ampelkoalition hat sich die Erarbeitung einer Digitalstrategie für das deutsche Gesundheitswesen auf die Fahnen geschrieben. Der Prozess soll jetzt zügig starten – und könnte in einem Umsetzungsgesetz münden. Es gibt große Erwartungen – aber auch einiges an Skepsis.

Bild: © DMEA/Messe Berlin

Nachdem es in Sachen Digitalpolitik im Bundesgesundheitsministerium (BMG) ein halbjähriges Interregnum gab, hat die neue Leiterin der Abteilung 5 „Digitalisierung und Innovation“ Dr. Susanne Ozegowski im April 2022 ihre Arbeit aufgenommen. Bei der DMEA hatte sie ihren ersten Auftritt vor einem größeren Branchenpublikum. Und sie gab einen zumindest vorläufigen Einblick in anstehende digitalpolitische Aktivitäten. Klar wurde, dass die Pandemie weiterhin auch die Abteilung 5 des Ministeriums beschäftigen wird. Ozegowski nannte die weitere Verbesserung der Nutzung von Gesundheitsdaten mit pandemischer Relevanz für eine ­tagesaktuell(er)e Public-Health-Forschung als zentrales Thema, das in den kommenden Monaten einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt bilden werde. In Sachen Digitalisierung des öffentlichen Gesundheitsdienstes wurde mit einer ersten Richtlinie Mitte April ein Pflock in den Boden gerammt. Auch die versorgungsnahe Digitalisierung beziehungsweise der Rollout von Telematikanwendungen wie elektronische Patientenakte, KIM, TIM und ­E-Rezept aus dem Labor ins „echte Leben“ bleiben – wenig überraschend – auf der Agenda.


Digitalstrategie für das Gesundheitswesen: Wo wollen wir eigentlich hin?
Eng mit Letzterem zusammen hängt die im Kapitel Pflege und Digitalisierung der Ampelkoalition angelegte Digitalstrategie für das deutsche Gesundheitswesen. Diese sei ein prioritäres Thema der nächsten Monate, so Ozegowski, die auch sofort klarmachte, dass es aus ihrer Sicht kein reines Digitalthema ist: „Was wir brauchen: Wir müssen als Erstes ein Bild entwickeln. Wo wollen wir eigentlich hin?“. Anders formuliert: Solange die Frage, wie Versorgung und Pflege in fünf bis zehn Jahren eigentlich aussehen sollen, umstritten ist, solange laufen Diskussionen über eine Digitalstrategie etwas ins Leere – oder sind jedenfalls nicht so zielführend, wie sie sein könnten.


In dieselbe Kerbe hub auch Florian Fuhrmann, Geschäftsführer der kv.digital, die in den vergangenen Jahren nicht nur digitale Anwendungen für die Arzt-zu-Arzt-Kommunikation, sondern auch Patientenanwendungen entwickelt hat: „Wir brauchen eine übergeordnete Vision, die stärker ist als die Erwartungen einzelner Akteure an das Ergebnis von Digitalisierung. Eine Vision, an der wir uns festhalten können und die uns motivieren kann, auch mal durch ein Tal der Tränen zu gehen.“


Auch Matthias Meierhofer vom Vorstand des bvitg stellte die zu entwickelnde Digitalstrategie in den Kontext breiter aufsetzender Versorgungsreformen. Weiterhin bestehe Digitalisierung im deutschen Gesundheits­wesen zu oft aus Stückwerk und Einzelprojekten. Eine Digitalstrategie habe nur dann Erfolgsaussichten, wenn sie mit Maßnahmen hinterlegt sei, die darauf abzielten, Grenzen zwischen den Sektoren zu überwinden: „Sie muss die Versorgung mitdenken“, so Meierhofer, außerdem müsse sichergestellt werden, dass Konzepte, die im Rahmen eines Strategieprozesses auf Bundesebene formuliert werden, dann auch auf Landesebene umgesetzt würden.


Meierhofer betonte, dass eine Digitalstrategie nicht als ein einmaliges Projekt mit einem Anfang und einem Ende angesehen werden dürfe: „Wir wissen nicht sicher, was in fünf oder zehn Jahren ist und brauchen deswegen einen iterativen Prozess. Die Frage, wie wir neue Technologien in den Markt bekommen, muss wesentlicher Bestandteil einer Digitalstrategie sein.“  


Digitalrat und Peitsche?

Nun sind Visionen schön und gut, aber hat das deutsche Gesundheitswesen nicht mehr als genug Papierdokumente und Whitepapers, die Visionen ausbreiten? Nikolaus Huss von KovarHuss Policy Advisors würde den Schwerpunkt jedenfalls anders setzen: „Was die Vision ist, wissen wir alle. Das sind vernetzte Strukturen, und zwar keine freiwillige Vernetzung irgendwie, sondern ein strukturiertes Miteinander. Wir müssen uns eigentlich die Frage stellen, warum nichts passiert. Und das liegt, meine ich, daran, dass im deutschen Gesundheitswesen die unterschiedlichen Interessen qua Gesetz zementiert sind. Die Bremser kann man eindeutig benennen, das sind die verfassten Berufe.“


Huss, der sich als Politikberater intensiv um das Thema Regionalisierung von Versorgung und in dem Zusammenhang auch um Digitalisierung kümmert, ist deswegen etwas skeptisch beim Thema Strategie: „Strategiediskussionen werden im deutschen Gesundheitswesen ja vorrangig dazu genutzt, neue Gelder loszueisen und Entscheidungen zu verhindern. Reden statt handeln.“ Ob man dem uneingeschränkt zustimmt oder nicht, klar ist, dass bei einer Digitalstrategie die Implementierung mitgedacht werden muss – die unter Umständen auf Widerstände trifft.


Viele wünschen sich deswegen eine Institutionalisierung des Strategieprozesses. Der bvitg beispielsweise schlägt ein Kontrollorgan vor, das nach der Formulierung der Strategie Vorgaben für die Umsetzung erstellt, die Umsetzung koordiniert und auch die Einhaltung der Pflichten der jeweils umsetzenden Akteure kontrolliert. Gleichzeitig gelte es allerdings, ein weiteres Bürokratiemonster zu vermeiden, so der Verband. Institutionalisierung, das ist eine Grunderfahrung im deutschen Gesundheitswesen, kann auch kontraproduktiv werden.


Eine gewisse Institutionalisierung hält auch Florian Fuhrmann für hilfreich. Er brachte den Begriff eines „Digitalrats für das Gesundheitswesen“ ins Spiel. Er wäre nicht nur für die Entwicklung der Strategie und in diesem Zusammenhang gegebenenfalls für Mediationsaufgaben zuständig, sondern auch dafür, dass beschlossene Schritte von den ausführenden Akteuren eingehalten werden. Ob hinsichtlich der Umsetzung von Strategiemeilensteinen Druck ausgeübt werden sollte und wenn ja, welche Art von Druck, das ist einer der großen offenen Punkte, die in den nächsten Monaten politisch beantwortet werden müssen.


Bei der DMEA jedenfalls war von vielen Seiten Unmut darüber zu hören, dass bisher einzelne Leistungserbringer auf Basis einzelner umgesetzter oder nicht umgesetzter Einzelanwendungen sanktioniert werden. Wenn Digitalisierung ein strategischer Prozess ist, und wenn die Entscheider bei strategischen Fragen in den Vorstandsbüros von Körperschaften, Verbänden und anderen Organisationen sitzen, würde es dann nicht viel mehr Sinn machen, wenn Sanktionen genau dort ansetzten, in den Vorstandsbüros, bei den Vorstandsgehältern?


Pflege hat bisher keine Stimme

Zurück zur Strategie und ihren Inhalten. Der Satz zur Digitalstrategie im Koalitionsvertrag erwähnt nicht ohne Grund die Nutzerinnen und Nutzer sowie die Pflege explizit. Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen fand bisher in weiten Teilen ohne Nutzerbeteiligung statt – sei es aufseiten der Bürger:innen, sei es aufseiten der Ärzt:innen. Und sie fand bisher praktisch komplett ohne Beteiligung der Pflege statt, die als nicht verkammerter Beruf in vielen Gremien des deutschen Gesundheitswesens nur beratend hinzugezogen wird. Auch bei der Digitalisierung vermisst die Vorsitzende des Deutschen Pflegerats, Christine Vogler, immer noch stark die pflegerische Perspektive: „Ich gehe hier durch die DMEA-Hallen, betrachte die Dinge und bin beeindruckt. Ich könnte aber nirgends hingehen und sagen: ‚Ach, das hilft uns jetzt aber direkt im Alltag‘.“


Auch das ist sicher etwas überspitzt formuliert. Aber die Anforderungen an Digitalisierung aus Sicht der Pflege sind klar: Nötig sind zum einen Lösungen, die die Pflege konkret entlasten, zum anderen Lösungen, die dazu beitragen, dass pflegebedürftige Menschen und deren Familien mehr und länger selbstbestimmt leben können. Erreichen lasse sich das nur durch eine konsequente strukturelle Einbindung der Pflege in die digitalen Planungs- und Entwicklungsprozesse, so Vogler.


Wie diese Einbindung bei einem Strategieprozess konkret aussehen könnte, das blieb leider ein wenig offen. Vogler plädierte klar für die Verkammerung der Pflege. Die existiert bisher aber nur in Ansätzen. Zwei Pflegekammern in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein wurden jeweils nach kaum zwei Jahren wieder abgewickelt. Und ob die derzeit in Gründung befindliche Pflegekammer Nordrhein-Westfalen ein dauerhafter Erfolg wird, ist offen; es gibt erhebliche Proteste aus der Pflege heraus. Für einen Strategieprozess, der jetzt zügig starten und möglichst auch zügig zumindest zu einem Zwischenergebnis kommen soll, kommen die Pflegekammern in jedem Fall zu spät.


Partizipation und Inklusion: Vorbild Digitalplan Bayern?

Wie Partizipation und Inklusion bei einem Strategieprozess konkret aussehen können, das verdeutlichte in Berlin Mina Luetkens, die Gründerin von Patients4Digital. Dass es bisher noch keinen konkreten Plan des BMG hinsichtlich der Strategie gebe, findet sie wunderbar. Die Hoffnung sei, dass ein solcher Plan durch einen offenen Dialog, in dem alle zu Wort kommen, die etwas zu sagen haben, gemeinschaftlich entstehe. Entscheidend ist aus ihrer Sicht, dass nicht zurückgeblickt wird auf das, was alles falsch gemacht wurde, sondern dass der Blick nach vorn gerichtet und vor allem offen über die Vorteile digitaler Transparenz gesprochen werde: „Daten bringen Transparenz, auch darüber, wo Versorgungslücken sind. Aber diese Transparenz ist ein Hebel, die Lücken zu füllen und ein lernendes System zu schaffen.“


Luetkens hatte ein konkretes Beispiel im Gepäck, wie ein partizipativer, inklusiver Prozess konkret organisiert werden könnte, nämlich den Digitalplan Bayern, den sie als Beteiligte erlebt hatte. Bevor das Bayerische Staatsministerium für Digitales irgendetwas in Angriff nahm, gab es einen öffentlichen Konsultationsprozess mit Expertengesprächen und Workshops. Auf deren Basis wurden dann Aktionsvorschläge entwickelt, die ihrerseits noch einmal kommentiert werden konnten, bevor eine Art erster Aktionsplan entstand. „Ich fand das ein ganz tolles Beispiel. Es hat mich fasziniert, und ich hoffe, dass wir in diese Richtung gehen mit unserer Digitalstrategie.“


Strategie ja, Moratorium nein
Besonders konkrete Informationen über den Ablauf des Strategieprozesses ließ sich die Politik bisher noch nicht entlocken. Immerhin: Susanne Ozegowski bekannte sich klar zu einem stark partizipativen Prozess: „Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn ich mich mit drei Mitarbeiter:innen ins stille Kämmerlein setze und etwas zu Papier bringe, das wird nicht passieren.“ Wichtig sei allerdings auch, dass die Sache handhabbar bleibe. Es dürfe nicht so sein, dass erste Ergebnisse erst zum Ende der Legislatur vorlägen: „Wir werden nicht alles andere anhalten, bis die Strategie formuliert ist.“ Wenn es das Ziel sei, aus einer Strategie einen Maßnahmenkatalog abzuleiten, der dann auch exekutiert werden könne, dann dürfe man sich nicht zu viel Zeit lassen.


Zum Thema Institutionalisierung eines Strategieprozesses und zu dem unter anderem vom Industrieverband bvitg ins Spiel gebrachten Vorschlag, die Digitalstrategie organisatorisch und personell bei der gematik anzusiedeln, äußerte sich Ozegowski eher zurückhaltend: „Aktuell starten wir mit der Überlegung, dass wir das bei uns aus der Abteilung heraus machen können.“


Viel konkreter wurde Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auch nicht. Er legte sich auf einen Beginn für das Beteiligungsverfahren nach der Sommerpause fest. „Die Ergebnisse werden wir dann später in ein Gesetz gießen, das die Strategie und die Telematikinfrastruktur zusammenbringt“, so der Minister. Manch einer rechnet da mit spitzem Stift: Wenn die Tinte unter der Strategie irgendwann im Jahr 2023 trocken sein sollte, was realistisch erscheint, dann geht es schon hart auf die Halbzeit der Legislaturperiode zu.