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Kardiologie & KI

Bei Patient:innen mit Verdacht auf eine koronare Herzerkrankung wird zu viel kathetert – was aber auch daran liegt, dass das individuelle Risiko für relevante Stenosen schwer einschätzbar ist. Ein Schweizer Unternehmen nutzt Künstliche Intelligenz, um das zu ändern. Das Beispiel zeigt, was IT-Lösungen in der Versorgung leisten könnten.

Bild: © Aliaksandr Marko – stock.adobe.com, 345241211, Stand.-Liz.

Unternehmenshistorien verlaufen nicht immer gradlinig. Als Peter Ruff das Unternehmen Exploris im Jahr 2002 gründete, war es als reines Dienstleistungsunternehmen konzipiert und hat komplexe Künstliche-Intelligenz- (KI)-Modelle primär für verschiedene Biotech- und Pharmaunternehmen entwickelt. Hinter der KI-Software liegt ein Modellierungsansatz, der Methoden aus dem Bereich des maschinellen Lernens (z.B. Artificial Neural Network, Self-Organizing Maps, Decision Tree Ensembles etc.) zur Mustererkennung kombiniert mit einem künstlichen, evolutionären Optimierungsverfahren. „Insgesamt stecken da über 100 Personenjahre Entwicklungsarbeit drin“, sagt Rico Bauer, Head of Marketing bei Exploris Health.


Bei der Modellbildung spielt die KI-Engine Evolution
Vorstellen kann man sich das Ganze wie eine Art evolutionäres Lernsystem. Es kombiniert, evaluiert und optimiert unterschiedliche Prädiktionsalgorithmen, die nach dem Prinzip Survival-of-the-fittest selektiert werden, sodass am Ende ein möglichst optimales Modell übrigbleibt. Dieses Vorgehen hat mehrere Vorteile. Zum einen ist es auch bei eher kleinen Datenmengen nutzbar. Zum anderen findet es komplexe, nichtlineare Muster selbst in Daten mit sehr hoher Dimensionalität – also einer Vielzahl von sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren. Die werden für die Prognosen aber nicht jedes Mal alle ausgewertet. Im Rahmen der Modellentwicklung wird vielmehr eine hohe Anzahl an Datenfeldern, zum Beispiel eine vier- oder fünfstellige Zahl, heruntergebrochen auf zum Beispiel eine zweistellige Anzahl. Diese – und nur diese – Variablen sind es dann, die die jeweiligen Nutzer:innen am Ende eingeben müssen, um eine Prognose zu erhalten.


„Neben dem Dienstleistungsgeschäft haben wir im Jahr 2008 mit der Entwicklung eigener Produkte begonnen“, so Caroline Oehri, Leiterin Business Development bei Exploris Health. Eine Frage lautete, ob der Modellierungsansatz nicht auch genutzt werden könnte, um klinische, konkret kardiovaskuläre, Risiken auf Basis medizinischer Parameter aller Art abzuschätzen. Das war der Anfang des Cardio Explorer, einer webbasierten KI-Anwendung zur Abschätzung des Risikos kardiovaskulärer Ereignisse beziehungsweise relevanter Koronarstenosen bei Menschen mit unklaren Brustschmerzen und Verdacht auf koronare Herzerkrankung (KHK).


Brustschmerz: Und nun?
Szenenwechsel zu Prof. Dr. Bjoern Andrew Remppis vom Herz- und Gefäßzentrum Bad Bevensen. Es gebe ein Problem, sagt er. Patient:innen mit unklaren Brustschmerzen landen häufig in der ambulanten Versorgung, bei Allgemeinmediziner:innen. Die müssen entscheiden, was sie mit den jeweiligen Patient:innen tun: Zum Herzkatheter schicken, um zu klären, ob es relevante Engstellen an den Herzkranzgefäßen gibt? Erst mal eine kardiologische Diagnostik initiieren? Wenn ja, welche? Belastungs-EKG? Kardio-MRT? Stress-Echokardiographie? Myokard-Szintigraphie? Oder macht man es sich einfach und schickt Patient oder Patientin mal eben zur Koronar-CT? Oder etwa wieder zurück nach Hause? Oder in die Orthopädie?


Der Liebling der Allgemeinmedizin war lange und ist immer noch das konventionelle Belastungs-EKG. Schnell zu machen, billig. Aber komplett out, so Remppis: „Das Belastungs-EKG ist bei keiner Vortestwahrscheinlichkeit geeignet, eine KHK mit ausreichender Sicherheit zu bestätigen oder auszuschließen. Das sehen mittlerweile auch die Leitlinien so.“ Die Vortestwahrscheinlichkeit ist überhaupt der Dreh- und Angelpunkt der allgemeinmedizinischen Bewertung der Brustschmerzpatienten. Bei sehr hoher Vortestwahrscheinlichkeit ist der Katheter dran. Bei sehr niedriger Vortestwahrscheinlichkeit sollte primär nach anderen, nicht kardialen Ursachen der Beschwerden gefahndet werden. Die mittlere Vortestwahrscheinlichkeit ist das Reich der bildgebenden Ischämie- und Gefäßdia­gnostik.


Zur Bestimmung der Vortestwahrscheinlichkeit nutzen Kliniker Risiko-Scores, die komische Namen tragen, Namen wie PROCAM, Framingham, Arriba oder Diamond Forrester. Diese Scores sind einfach zu ermitteln, weil sie auf gängigen Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Alter, LDL-Cholesterin-Werten und Zigarettenkonsum basieren. Leider helfen sie im Alltag oft nicht weiter, sagt Remppis: „Die verwendeten Scores haben nicht wirklich eine steuernde Funktion. Der Anteil der Patient:innen im mittleren Risikobereich, bei denen die Allgemeinmediziner:innen nicht genau wissen, was sie mit ihnen machen sollen, ist viel zu hoch.“ Diese Menschen im mittleren Risikobereich landen in der Kardiologie zur weiteren Abklärung. Mit anderen Worten: Die Scores führen dazu, dass am Ende fast jede/r zur kardiologischen Abklärung geschickt wird. Das resultiert in unnötiger apparativer Diagnostik, und es verstopft die Wartezimmer der niedergelassenen Fachärzt:innen, die ohnehin viel zu voll sind.


Ausgesiebt: 32 Parameter für den Blick in die Zukunft
Zurück zu dem Unternehmen Exploris und seiner KI. Am Anfang der Entwicklung stand eine dreistellige Zahl an potenziellen klinischen Variablen, die auf das Risiko einer relevanten Koronarstenose Einfluss nehmen könnten. Mit denen hat sich die KI-Engine intensiv beschäftigt. Übrig geblieben sind am Ende 32 Faktoren, die als so relevant eingestuft wurden, dass es aus Sicht der KI „Sinn machte“, mit ihnen weiterzuarbeiten.


Was sind das genau für Parameter? „Zum einen nutzt der Cardio Explorer anamnestische Faktoren wie Alter, Gewicht, eingenommene Medikamente, Brustschmerz und Nikotinkonsum. Zum anderen werden insgesamt 15 Laborwerte verwendet“, so Bauer. Zu den Laborwerten zählen der Blutzucker, das Troponin und verschiedene Cholesterine, aber auch ­weniger offensichtliche Werte wie zum Beispiel die Pankreas-Amylase.


Was heißt das konkret für die niedergelassenen Allgemeinmediziner:innen? Sie müssen bei Verdacht auf eine KHK im Wesentlichen ein Ruhe-EKG machen und 15 übliche Laborwerte messen, wozu eine normale venöse Blutentnahme ausreicht. Die Parameter werden in eine webbasierte Anwendung eingegeben, die praktisch sofort das Ergebnis nach Art einer Ampelcodierung ausspuckt. «Grün» heißt Vortestwahrscheinlichkeit für KHK kleiner als 5 Prozent. Diese Patient:innen brauchen in der Regel, so sehen das die Leitlinien, keine weiteren Untersuchungen bzw. sollten prioritär bezüglich anderer Ursachen abgeklärt werden. «Rot» bedeutet ein KHK-Risiko über 85 Prozent. Das ist die Kernzielgruppe für einen Herzkatheter.


Die «gelben» Patient:innen mit mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit liegen irgendwo dazwischen. Sie sollten in der Regel zur weiteren kardiologischen Abklärung geschickt werden. Was diese Patient:innen mit mittlerer Vortestwahrscheinlichkeit angeht, gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Die Leitlinien sind sich da nicht ganz einig, zumal das konkrete Vorgehen im Einzelfall auch von dem abhängt, was vor Ort jeweils verfügbar ist. Zur Verfügung stehen unter anderem morphologische Verfahren wie die Kardio-CT und funktionelle Verfahren wie die Kardio-MRT.


Zwei von drei Patient:innen werden umsortiert
Nun kann ein klinischer Prädiktionsalgorithmus natürlich erst einmal deklamieren, was er möchte. Der Lackmustest ist die Validierung in unterschiedlichen Kohorten. Die initiale Entwicklung des mittlerweile als Medizinprodukt zugelassenen Cardio Explorer erfolgte anhand eines schweizerischen Patientenkollektivs. Eine erste Validierung fand anhand der Ludwigshafen Risk and Cardiovascular Health Study (LURIC) statt, eine Kohorte, die auch Patient:innen mit bekannter KHK umfasst. Eine weitere Validierung erfolgte in einem hausärztlichen Niedrigrisikokollektiv in Maastricht. Die Ergebnisse sind bisher sehr vielversprechend. Je nach Population beträgt die Sensitivität für die Diagnose einer KHK – definiert als mindestens eine größer als 50-prozentige Stenose in mindestens einem Herzkranzgefäß – 75 bis 98 Prozent. Das ist deutlich besser als traditionelle Risiko-Scores – und fast doppelt so gut wie das ach so beliebte Belastungs-EKG.


Für die Hausärzt:innen bedeutet das: Sie erreichen eine Präzision bei der Risikoabschätzung, die sonst nur die Kardiolog:innen hinbekommen, wenn diese nichtinvasive bildgebende Methoden nutzen. Für eine Niedrigrisikopopulation aus der LURIC-Kohorte wurde das noch einmal etwas genauer berechnet: Landen bei Nutzung der traditionellen Risiko-Scores 87 Prozent der Patient:innen in der wenig hilfreichen, intermediären Risikokategorie, so sind es bei der Nutzung des Algorithmus von Exploris Health nur noch 21 Prozent.


Gesucht: Ein Weg in die Versorgung
Wenn sich diese Zahlen in der breiten Versorgung bestätigen, dann sind das echte Hausnummern. Bei Pi mal Daumen zwei von drei Patient:innen kann die Verdachtsdiagnose KHK mit hoher Zuverlässigkeit verworfen oder zumindest erst einmal zurückgestellt werden. Der negativ prädikative Wert, also die Wahrscheinlichkeit, dass wirklich nichts vorliegt, wenn der Algorithmus das behauptet, liegt bisherigen Daten zufolge bei über 96 Prozent. Das ist so gut wie eine kardiale CT oder MRT. Für die plötzlich überschaubarer gewordene Gruppe der Patient:innen mit mittlerer Prätestwahrscheinlichkeit für eine KHK kommt dann die kardiologische Untersuchung ins Spiel – aber nicht mit einem Belastungs-EKG, sondern mit moderner Bildgebung. Professor Remppis greift tendenziell zur Kardio-MRT, setzt das aber nicht absolut: „Letztlich sollte man es den Kardiolog:innen überlassen, womit sie weiter untersuchen, weil es natürlich auch von den jeweiligen Versorgungsroutinen vor Ort abhängt und neuere Entwicklungen bei der Kardio-CT anstehen.“


Wie sieht es mit der viel zitierten Usability aus? Aktuell handelt es sich bei dem Cardio Explorer um eine Webanwendung. Entsprechend ist das Tool für die hausärztlichen Versorger:innen mit etwas Arbeit verbunden. Gemessen an der vergleichsweise hohen Versorgungsrelevanz sollte das aber handhabbar sein. Ein EKG wird ohnehin von den meisten Ärzt:innen angefertigt, die mit Brustschmerz konfrontiert sind. Die Blutentnahme ebenso, es müssen nur ein paar Werte mehr angekreuzt werden als sonst. Bleibt der Zeitaufwand für die Eingabe der Werte. Der liege bei wenigen Minuten, so Oehri. Mit einer Schnittstelle zu den Labor-IT-Systemen ließe sich das natürlich noch etwas beschleunigen. So weit ist es aber bisher noch nicht.


Aktuell fokussiert sich das Unternehmen Exploris Health auf den DACH-Raum. In Europa gilt die CE-Zulassung, während für die USA eine eigene Studie vorgelegt werden muss: „Wir planen eine Studie in den USA. Unser Fokus liegt derzeit aber auf Europa, primär verfolgen wir die Regelvergütung in Deutschland“, so Oehri. Aktuell ist die Risikoabschätzung eine Selbstzahlerleistung, die patientenseitig mit 150 bis 165 Euro zu Buche schlägt. Ein Versorgungsprojekt mit einer großen deutschen Krankenkasse ist in Vorbereitung. Offen ist noch die gesundheitsökonomische Bilanz. Sollten Diagnostik und fachärztliche Versorgung eingespart werden, könnte die KI-basierte KHK-Triage vielleicht nicht nur die Versorgung verbessern, sondern auch Geld sparen – was freilich auch noch von anderen Faktoren abhängt.


Next Level: Künstliche Befruchtung
Es geht aber nicht primär um Geld, sondern vor allem auch um Versorgungseffizienz: „Mit so einem Tool bekommen wir mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige kardiologische Untersuchung bei denjenigen Patient:innen, die sie benötigen. Gleichzeitig tragen wir damit zur Lösung des versorgungspolitischen Problems ‚Facharzttermin‘ bei“, so Remppis. Monatelange Wartezeiten auf Facharzttermine sind zumindest in einigen Fachgebieten mittlerweile eher die Regel als die Ausnahme. Und die anstehenden Einsparprogramme der Ampelkoalition, bei denen Stand Sommer 2022 unter anderem die Axt an Teile des Terminservicegesetzes gelegt werden soll, werden die Situation nicht besser machen.


Technisch kann die Software, die das Modell für die KHK-Prädiktion entwickelt hat, natürlich auch auf ganz andere medizinische Szenarien angesetzt werden. So gibt es eine Firma, die im Bereich In-vitro-Fertilisation (IVF) aktiv ist und die auf die Schweizer zugekommen ist. „Hier geht es darum, die Anzahl der IVF-Zyklen zu optimieren und letztlich Qualität und Erfolgschancen der IVF zu verbessern“, so Oehri. Ein anderes laufendes Projekt ist die PASSION-HF-Studie, bei der unter anderem die Deutsche Stiftung für chronisch Kranke an Bord ist. PASSION-HF steht für „patient self-care using ­eHealth in chronic heart failure“, ein EU-gefördertes Projekt im Kontext Herzinsuffizienz. Hierfür wurde die digitale Anwendung DoctorME entwickelt, die Patient:innen im Alltag unterstützt und die unter anderem auf einer KI von Exploris Health aufsetzt.