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» Die Richtung stimmt «

Was hält Dr. med. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, von den aktuellen Gesetzentwürfen, und wie denkt er über die Zukunft der gematik?

Dr. med. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK); Foto: © BÄK

Das Gesundheitswesen ist im Umbruch. Der Strukturwandel im stationären Bereich trifft auf eine Krise der ambulanten Versorgung. Würden Sie noch empfehlen, Medizin zu studieren?

Unbedingt. Das ist einer der sinnstiftendsten Berufe überhaupt, in ganz besonderer Weise. Ich denke, es wäre absurd, zu sagen, wegen sich ändernder Rahmenbedingungen kann man den Beruf nicht mehr ergreifen. Ich würde ihn nach wie vor uneingeschränkt jedem empfehlen, der sich das für sich vorstellen kann.

 

Wie wird sich das Berufsbild für die jungen Leute verändern, gerade auch durch die Digitalisierung?

Ich glaube, dass Digitalisierung das Berufsbild weniger verändert als wir gedacht haben. Vertrauen, Empathie, auch menschliche Begegnung an sich, bleiben von unschätzbarem Wert. Idealerweise hilft Digitalisierung in einem Umfeld der Arbeitsverdichtung dabei, dass uns weiterhin Zeit für menschliche Zuwendung bleibt. Verändern wird sich in der ambulanten Medizin die Qualifikation des Praxispersonals. Es wird weitere Assistenzqualifikationen geben. Digitale Tools können Ärztinnen und Ärzte zum Beispiel bei der Anamnese oder bei eher technischen Untersuchungen unterstützen. In sehr gut organisierten Einrichtungen sehen wir diese Entwicklung heute schon. Das muss nicht schlechter sein für die Patientinnen und Patienten. Was sich speziell in der ambulanten Medizin auch ändert: Es geht stärker in Richtung Team, weg von der Einzelpraxis. Das kann die Qualität verbessern, und es ist auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten sinnvoll, denken Sie an die hohen Investitionen für Medizingeräte.

 

Welchen Einfluss werden digitale Leitlinien und Algorithmen, die medizinisches Wissen aufbereiten, auf die ärztliche Tätigkeit haben?

Ich glaube, der Stellenwert wird erheblich sein. Ich sehe da sehr große Chancen. Die Bundesärztekammer bearbeitet dieses Thema intensiv, im Herbst richten wir eigens eine Tagung zur Künstlichen Intelligenz aus, bei der wir unter anderem mit dem Bundesgesundheitsminister Chancen und Risiken von KI in der Medizin diskutieren werden. Chancen sehe ich darin, dass künstliche Intelligenz strukturiert erhobene Daten analysieren und Auffälligkeiten detektieren kann. Das ist sinnvoll und wir sollten das auch nutzen. Es gibt natürlich auch Risiken. Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat ein Papier zu ethischen Aspekten veröffentlicht, und ein wichtiger Punkt dabei ist die Frage, was der Zweck des jeweils angewandten Algorithmus ist. Es muss ganz klar sein, dass es um das Patientenwohl und um die Optimierung der Behandlung unter rein ärztlichen Gesichtspunkten gehen muss. Ein anderer Punkt ist die Frage, wie wir damit umgehen, dass sich Deep Learning Algorithmen im Laufe der Zeit durch Lernprozesse verändern. Es muss Kontrollmechanismen geben. Wir brauchen Strukturen, die solchen Risiken Rechnung tragen.

 

Aktuell stehen Digitalgesetz und Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) auf der Agenda. Starten wir mit dem Digitalgesetz und dort mit der elektronischen Patientenakte, der ePA. Geht das in die richtige Richtung?

Die grundsätzliche Richtung stimmt. Es wird aber schwierig, wenn es um die Details geht, wie zum Beispiel Widerspruchsrechte und Einsichtsrechte. Wir kommen immer relativ schnell an einen Punkt, den ich als Overengineering bezeichne. Damit meine ich, dass man in Deutschland dazu neigt,  von vornherein jede Eventualität zu berücksichtigen zu regeln und technisch gangbar zu machen. Nehmen Sie die Multimediakonsolen im Auto, das ist mittlerweile eine Wissenschaft. Am Ende nutzen die meisten Menschen eine Handvoll Features, und nur Nerds gehen darüber hinaus. Was wir bei der ePA zunächst brauchen, ist eine Basisversion, die für alle nutzbar ist.

 

Beim Opt-out auf Patientenseite und der Pflicht zur Befüllung durch die Einrichtungen gehen Sie mit?

Da gehen wir mit, das ist auch Ärztetagsbeschluss. Das Opt-out muss gut gelöst, es muss einfach sein, das ist eine Frage der Fairness. Und auf Ärzteseite muss die Befüllung der Akten ein Automatismus sein, quasi ein Abfallprodukt meiner normalen Dokumentation. Die Industrie ist aufgefordert, das zu gewährleisten, und natürlich sollten die Daten dann auch gleich strukturiert in der ePA vorliegen. Was gar nicht geht ist, dass ich erstmal die ePA stundenlang vorbefülle. Das wäre ein Mega-Aufwand, der in den Praxen unmöglich zu bewältigen ist. Da würde ich mich und würden sich die Kolleginnen und Kollegen weigern.

 

In Sachen Telemedizin soll die Abrechenbarkeit ausgeweitet werden, außerdem soll eine „assistierte Telemedizin“ in Apotheken oder Gesundheitskiosken kommen. Sind das zielführende Veränderungen?

Die Abrechnung der Videosprechstunden fällt in den Verantwortungsbereich der der KVen. Ich wäre da relativ großzügig und stehe dem offen gegenüber. Mein Eindruck ist, dass der Wunsch nach Telemedizin patientenseitig zwar da ist, aber dann doch überschaubar. Grundsätzlich halte ich Videosprechstunden für ein in einigen Szenarien sehr nützliches Tool, das die Versorgung erleichtern und auch verbessern kann, denken Sie an Alten- und Pflegeheime. Auch die telemedizinische Assistenz kann sinnvoll sein. Aber dass wir jetzt anfangen, in Apotheken neue Kontaktpunkte einzurichten oder das ganze Land mit Gesundheitskiosken zuzustellen, das halte ich nicht für zielführend. Das mag in speziellen Situationen gerechtfertigt sein. Aber warum sollen Apotheken Dienstleistungen anbieten in Orten, in denen es auch Arztpraxen gibt? Es ist ja auch eine Kostenfrage, bundesweit 1.000 Gesundheitskioske aufzubauen, die jeweils 400.000 Euro im Jahr kosten. Das Geld wäre anderenorts in der Versorgung besser investiert.

 

Zugang zur Versorgung ist in manchen Regionen aber schon ein Thema.

Ja, aber dafür gibt es bessere Lösungen. Wir brauchen Gesundheitskioske vor allem in sozialen Brennpunkten, wie zum Beispiel in  Billstedt-Horn in Hamburg, wo der erste Kiosk eingerichtet wurde. Aber wir lösen damit keine Versorgungsengpässe auf dem Land. Bei der Versorgung älterer, oftmals isolierter Menschen macht aufsuchende Gesundheitshilfe, gerne auch telemedizinisch unterstützt, sehr viel mehr Sinn. Für 400.000 Euro im Jahr kann ich eine ganze Menge Gemeindeschwestern oder kommunales Assistenzpersonal finanzieren. Die könnten von den Kommunen bezahlt werden und jeweils auch mit mehreren Hausarztpraxen zusammenarbeiten.

 

Die künftige E-Health Governance ist eine Lücke im Digitalgesetz. Was sind aus Sicht der Bundesärztekammer die Anforderungen an die Überführung der gematik in eine Digitalagentur?

Wir sind da relativ offen. Es ist gut, dass wir von den Fristen und Sanktionen weitgehend weggekommen sind und eine Digitalstrategie entwickelt haben, die den Nutzen in den Vordergrund stellt. Den Weg sollten wir jetzt aber auch konsequent weitergehen. Ob das mit einer Agentur besser geht als bisher, weiß ich nicht. Klar ist: Es braucht Strukturen, die gewährleisten, dass die Expertise der Leistungserbringer einfließt, damit am Ende etwas entsteht, was aus Versorgungsperspektive sinnvoll ist. Das Konstrukt Bundesagentur hätte aus meiner Sicht zumindest deswegen etwas Charme, weil es dann einen klaren Normgeber gäbe, der Standards vorgeben und Anbieter zertifizieren und damit gestaltend wirken könnte.

 

Sollte die „Bundesagentur gematik“ aus Steuermitteln oder aus dem GKV-Topf finanziert werden?

Die Finanzierung sollte  in wesentlichen Teilen aus Steuermitteln erfolgen.

 

Abschließend zum Entwurf des GDNG: Hauptziel ist es, Gesundheitsdaten in Deutschland für alle, die daran ein berechtigtes Interesse haben, nutzbar zu machen. Brauchen wir das?

Klares Ja. Wir haben die Defizite in Deutschland in diesem Bereich während der Corona-Pandemie gesehen, als wir im Wesentlichen auf Daten aus zum Beispiel Israel und Großbritannien angewiesen waren. Das muss sich ändern. Wissenschaftliche Forschung in der Medizin ist heute in erheblichem Maße abhängig von großen Datenmengen, und entsprechend müssen wir Daten strukturiert erheben und auswerten können. Ich bin ein großer Fan des Konzepts der freiwilligen Datenspende, ich glaube auch dass sich die Menschen damit leichter tun als bei der Organspende.


Keine Sorge, dass das den Datenschutz unterläuft?

Datenschutz ist natürlich wichtig, aber die Nutzung von Daten für eine bessere Versorgung oder mehr Patientensicherheit ist genauso wichtig. Datenschutz um seiner selbst willen bringt uns nicht weiter. Übertriebener Datenschutz kann sogar schaden. Wichtig ist, dass ganz klare Kriterien für die forschende Datennutzung festgeschrieben werden. Wir sollten nicht alles erlauben, aber gleichzeitig sollten wir auch nicht alles verbieten. Natürlich gibt es legitime Forschungsinteressen auch zum Beispiel von Privatunternehmen. Das muss dann aber rechtlich sauber geregelt werden . Und natürlich soll der Patient das Recht haben, die Nutzung seiner Daten für Forschungszwecke abzulehnen; also auch hier gilt das Opt-out-Prinzip.


Nun sieht das GDNG ein relativ staatsbürokratielastiges Konzept für die Gesundheitsdatenforschung vor, angesiedelt an einer dem Ministerium untergeordneten Behörde. Reicht das? Glauben Sie, dass wir das, was Israel in der Pandemie geleistet hat, mit Datenspenden aus der ePA erreichen können?

Ich denke schon, dass das gehen kann. Es muss das grundsätzliche Commitment geben, dass wir Datennutzung gangbar machen wollen, auch mit Hilfe von Datenplattformen. Wenn das im Vordergrund steht, dann finde ich eine staatliche Institution, die die Daten abgibt, richtig. Es ist natürlich immer auch eine Frage der Umsetzung. Zu viel Bürokratie oder zu lange Bearbeitungszeiten können wir uns in der medizinischen Forschung nicht erlauben. Wir brauchen für die Datenabgabe klare Regeln und effiziente Prozeduren. Dann können Patienten und Wissenschaft davon profitieren.

 

Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM