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Medizin |

Ein Fall für die Medizinproduktezertifizierung?

© agenturfotografin

Videosprechstunden müssen die Vorgaben des Bundesmantelvertrags erfüllen. Reicht das? In einem Gastbeitrag plädiert Prof. Dr. Jürgen Dräger von der Hochschule Stralsund für eine Zertifizierung als Medizinprodukt.

 

Dem technischen Fortschritt geschuldet halten zunehmend technische Informationssysteme Einzug in den medizinischen Versorgungsalltag jeder ärztlichen Praxis. So entwickeln sich schon seit Jahren z.B. auf dem Gebiet der Telemedizin – unter Einbeziehung computerisierter Endgeräte – standortübergreifende Applikationen. Neben der Teleradiologie und der Videokonsultation – zum Einholen einer medizinischen Zweitmeinung – ist seit letztem Jahr nun auch eine Videosprechstunde möglich. Im Rahmen einer standortübergreifenden Videokonferenz kann ein Patient seinen behandelnden Arzt in der Ferne über eine Bildtelefonie konsultieren.

 

„Videosprechstunden dienen auch der audio-visuellen Exploration“

Nun muss man aber folgenden Aspekt dabei zwingend berücksichtigen: Welche Interaktionen sind denn eigentlich in einer Sprechstunde zwischen Arzt und Patienten relevant? Neben der tragenden und sehr wichtigen menschlichen Interaktionsebene, auf die ich in diesem Artikel nicht eingehen kann, erfolgt im ärztlichen Gespräch zuerst einmal eine ärztliche Konsultation im Sinne eines Informationsaustausches zwischen Arzt und Patient.

 

Sicherlich ist ein Informationsaustausch (Gespräch) von Mensch zu Mensch mit den verbalen und nonverbalen Kommunikationsanteilen umfänglicher und vielsagender, als wenn man nun über eine, in mancher Hinsicht einschränkende, Bildtelefonie miteinander spricht. Auf der anderen Seite ist die Bildtelefonie per Videosprechstunde besser und vielsagender als ein normales Telefongespräch, so wie wir es gemäß GOÄ-Nr. 1, der Beratung auch mittels Fernsprecher, seit vielen Jahren kennen.

 

Nun ist aber bei der Videosprechstunde nicht nur die Konsultation im Sinne eines Gespräches angedacht, sondern auch eine audio-visuelle Exploration von Patientenbefunden. Gemäß der Gebührenordnungsposition (GOP) 01450 zählt zu den obligaten Leistungsinhalten für die Videosprechstunde z.B. die visuelle Verlaufskontrolle einer Operationswunde oder akuter, chronischer und/oder offener Wunden, Dermatosen, auch nach strahlentherapeutischer Behandlung, Beurteilungen von Bewegungseinschränkungen und vieles mehr. Dies bedeutet neben dem Gespräch, als reine Arzt-Patienten-Konsultation ist auch die Betrachtung, im Sinne einer diagnostischen Befunderhebung vorgesehen.

 

„Zertifizierung auf Grundlage der KBV/GKV-Vorgaben greift zu kurz“

Dies ist, so wie es derzeit in der Praxis etabliert wurde, meines Erachtens weder rechtlich noch moralisch dem Patienten gegenüber haltbar. Da es hier zu einer Diagnoseerhebung über ein technisches System kommt, gelten die gesetzlichen Vorgaben des Medizinprodukterechts. Die Videokommunikationsstrecke, bestehend aus dem Patientenhandy, der Netzwerkverbindung, der IT-Infrastruktur des Videodienstanbieters und dem Befundungsendgerät in der Arztpraxis (PC/ Tablet/ Notebook), stellt gemäß 15 Artikel 2 MDR und § 3 Abs. 1 MPG ein Medizinprodukt dar.

 

Dies führt dazu, dass die Videodienstanbieter hier die gesetzlichen Anforderungen nach dem Medizinprodukterecht erfüllen müssen. Es genügt nicht, dass nur die administrativen Vorgaben der KBV und des GKV-Spitzenverband erfüllt werden. Eine Zertifizierung der Videodienstleister auf Grundlage dieser Vorgaben und darüber hinaus die Betrachtung nur der datenschutzrechtlichen Aspekte greift hier zu kurz.

 

Was bedeutet es nun für den Arzt, der die Videosprechstunde durchführt? Wenn er in der Videosprechstunde mehr durchführt, als nur eine Beratung im Rahmen einer Konsultation (GOÄ Ziffer 1). Wenn er insbesondere die obligaten Leistungskriterien der relevanten Abrechnungsziffern GOP 01450 erfüllen will/muss, dann diagnostiziert er derzeit mit einem nicht CE-zertifizierten, also einem nicht zugelassenen Medizinproduktesystem.

 

„Ärzte müssen Vorsicht walten lassen“

Dies kann er sicherlich im Rahmen seiner ärztlichen Therapiefreiheit tun. Im Falle eines Regressanspruches für einen entstandenen medizinischen Schaden, der von einem Patienten nach einer Videosprechstunde geltend gemacht wird, führt dies aber zu einer kritischen und für den Arzt riskanten Rechtsposition. Er hat sich als Anwender eines nicht medizinprodukterechtlich zugelassenen Systems bedient und kann, wegen einer fehlenden Aufzeichnung der Videosprechstunde, nun schwer belegen, was er gesehen oder nicht gesehen hat.

 

Bei dieser Rechtslage ist dem Arzt, als Durchführendem einer Videosprechstunde, zu empfehlen, dass hier sehr vorsichtig und bedacht die Grenzen seiner audio-visuellen Exploration bei der Diagnoseerhebung berücksichtigt werden. Da die technische Infrastruktur zur Durchführung einer Videosprechstunde zweifelsfrei als Medizinprodukt einzuordnen ist, müssen sich die Videodienstanbieter meines Erachtens recht schnell darauf einstellen ihre Medizinproduktesysteme einer entsprechenden CE-Zertifizierung zu unterziehen. Den Ärzten bleibt die Möglichkeit, die sicherlich gegebenen Vorteile einer Videosprechstunde im Rahmen ihrer ärztlichen Therapiefreiheit zu nutzen, sie müssen aber bei ihrer Diagnostik besondere Vorsicht walten lassen.

 

Prof. Dr. med. Dipl.-Ing. Jürgen L. Dräger
Hochschule Stralsund,Studiengang Medizinische Informationsmanagement/eHealth
E-Mail: juergen.draeger(at)hochschule-stralsund.de