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„Extrem unbefriedigend“

Größer denken! Dr. Hans Unterhuber, Vorstandschef der Siemens Betriebskrankenkasse (SBK), sieht gute Ansätze im Digitale-Versorgung-Gesetz. Aber die digitale Gesamtsituation frustriert ihn zutiefst.

Die SBK gehört zu den Krankenkassen, sie sich bei der Digitalisierung stark engagieren, unter anderem als eine der Organisatorinnen des HealthyHub. Der bringt Startup-Unternehmen und Krankenkassen zusammen, läuft aktuell in der zweiten Runde. Zufrieden mit dem Verlauf?

Bei diesen Pitches hat sich jedenfalls herausgestellt, dass wir keinen Mangel an guten Ideen haben. Aber: Zumindest bis letzte Woche war es ungeklärt, auf welcher Rechtsgrundlage Krankenkassen digitale Produkte, die etwas mit Diagnostik oder Therapie zu tun haben, in den Markt bringen können und wie die dann vergütet werden. Diese Fragen kann eine einzelne Krankenkasse nicht beantworten, das muss schon allgemein beantwortet werden. Der Gesundheitsminister hat da jetzt mit dem DVG einen, wie ich finde, sehr kreativen Aufschlag gemacht. Hoffentlich bringt uns das weiter.

 

Konkret haben Sie im HealthyHub als SBK für Ihr Pilotprojekt in der ersten Runde das Unternehmen Selfapy gewählt, das eine App anbietet, die im Bereich Soforthilfe bei psychischen Erkrankungen angesiedelt ist, insbesondere Depression und Angststörungen. Was war da so schwierig?

Selfapy ist ein niederschwelliges Programm für psychisch Kranke, um sie in die richtige Versorgung oder mit Therapeuten in Kontakt zu bringen. Dafür haben wir mit dem Bundesversicherungsamt (BVA) lange nach einer Rechtsgrundlage gesucht. Wir hatten den Vorschlag gemacht, das über eine Satzungsleistung unterzubringen, um den Zugang zum Angebot ohne vorherige Verordnung durch einen Arzt zu ermöglichen. Das hat das BVA abgelehnt. Wir haben dann nach zwölf Monaten doch noch eine Rechtsgrundlage gefunden: In Rücksprache mit dem BVA konnten wir hier den Präventionsbegriff weiter fassen. Selfapy wird jetzt als Präventionsleistung definiert. Das Ganze zeigt sehr gut, wo die Probleme sind: Wenn ich für ein Einzelprogramm rund ein Jahr brauche, um es meinen Versicherten anbieten zu können, dann ist das kein Weg, den ich für fünfzig oder hundert andere Programme auch noch gehen kann.

 

Welcher Paragraf konkret muss sich ändern?

Es ist eine Fülle von Änderungen nötig. Wir haben das im Vorfeld des DVG-Entwurfs im Detail aufgelistet und ans Ministerium geschickt. Das fängt schon damit an, dass an diversen Stellen steht, dass wir dem Versicherten Informationen in Schriftform geben müssen. Das klingt banal, aber das ist ein Riesenhindernis. Es gibt auch andere Hindernisse, zum Beispiel, dass wir bestimmte Gentests nicht übernehmen können, weil diese verpflichtend in einem deutschen Labor gemacht werden müssten. Deswegen können wir zum Beispiel die Genexpressionstests mit der höchsten Evidenz bei Frauen mit Brustkrebs eigentlich nicht anbieten, obwohl die überall in Europa im Einsatz sind. Als SBK machen wir das trotzdem, weil ich nicht einsehe, dass Frauen eine Chemotherapie bekommen, die sie gar nicht brauchen. Das ist kein Digitalisierungsthema, aber es zeigt, wohin die Überregulation führt. Solche Hürden kann nur der Gesetzgeber ändern. Er muss deregulieren, er muss klarere, allgemeinere Vorschriften machen. Wir brauchen eine Politik der Ermöglichung, nicht eine Misstrauenspolitik des Verhinderns.

 

Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund den frischen Entwurf des Digitale Versorgung Gesetz (DVG), der ja unter anderem antritt, die digitalen Möglichkeiten der Krankenkassen zu erweitern?

Da sind schon Punkte drin, bei denen man nach schnellem Lesen erwarten kann, dass es in Zukunft einfacher und leichter wird mit digitalen Anwendungen. Bei dem Thema Vergütung würde ich aber weiterhin ein großes Fragezeichen setzen.

 

Konkret schlägt das DVG ja vor, digitale Medizinprodukte bis Klasse IIa unabhängig vom G-BA-in einer BfArM-Liste zu führen. Für die dort gelisteten Anwendungen sollen Krankenkassenverbände und Hersteller dann Preise verhandeln. Was halten Sie davon?

Ich bin da noch unsicher. Zunächst klingt das schon nach einem kreativen Ausweg, um die lange G-BA-Schleife zu vermeiden, die extrem zeitfressend ist. Es könnte einen Versuch wert sein, aber ich bin nicht sicher, ob das wirklich die Lösung aller Probleme sein wird. Der Flaschenhals ist dann an anderer Stelle. Und wenn das erste Mal etwas schiefgeht, wird alles wieder in Frage gestellt.

 

Stichwort Flaschenhals: Die Anforderungen für eine Listung sind noch nicht definiert. Hier sieht sich das BMG in der Pflicht.

Wenn wir etwas Neues in die Welt bringen wollen, müssen wir viele kleine Experimente zulassen und nicht immer nationalstaatlich Gesamtregelungen treffen. Das Neue kommt über Versuch und Irrtum in die Welt, und ich glaube, es wäre der bessere Weg, Versuch und Irrtum zu erleichtern. Aber eine Patentlösung habe ich da auch nicht.

 

Krankenkassen wurden schon mit dem TSVG verpflichtet, ab Anfang 2021 Patientenakten nach §291a, künftig §291h, anzubieten. Wie ist bei der SBK die Aktenstrategie?

Wir sind der Auffassung, dass elektronische Patientenakten, wenn sie gut gemacht sind, eine ungeheure Chance sind, die Qualität der Versorgung zu verbessern, vor allem aber auch für die Versicherten manche Dschungelreise im Gesundheitswesen transparenter, klarer und einfacher zu gestalten. Gerade in schwierigen Lebenssituationen, wo man ohnehin existentielle Ängste hat, weil Verwandte oder man selbst gesundheitlich betroffen sind, werden elektronische Patientenakten sehr helfen, den Überblick zu bewahren. Deswegen unterstützen wir das vorbehaltslos, das ist ein guter und richtiger Weg, wir sehen da sehr viele Chancen.

 

Was die konkrete Umsetzung angeht, lautet der aktuelle Vorschlag, Anfang 2021 die EPA in Version 1.0 einzuführen und 2022 die derzeitigen elektronischen Gesundheitsakten zu migrieren. Eventuell wird der eGA-Passus im §68 sogar ganz gestrichen. Ist das das, was Sie sich vorgestellt haben?

Wir halten das für sehr, sehr problematisch. Die Spezifikation 1.0 der Gematik ist ja nichts Anderes als eine Art Dropbox für den Datenaustausch zwischen Leistungserbringer und Versicherten. Sollen wir wirklich auf Basis einer veralteten und nicht standardkonformen Systemarchitektur und auf Grundlage von Rahmenbedingungen, die aus meiner Sicht nicht haltbar sind, eine proprietäre und nur in Deutschland funktionierende Patientenakte bauen? Und dann das Thema Usability: Die Menschen sind von digitalen Anwendungen aus anderen Lebensbereichen heute gewisse Funktionalitäten gewöhnt. Die kann ich nicht einfach ignorieren. Zusammengefasst: Ich befürchte, dass wir eine Akte kriegen, die ein Flop wird.

 

Die Diskussionen der letzten Tage haben ja schon gezeigt, wo es hinführt. Die Spezifikation 1.0 lässt keine echte Datenhoheit des Versicherten zu. Er kann nur sagen, ich nutze die EPA voll, oder ich nutze sie gar nicht. Aber warum soll der Orthopäde sehen, wenn ich vor zwei Jahren eine Abtreibung hatte? Da werden viele lieber ganz auf die Akte verzichten. Es besteht die Gefahr, dass wir mit so einem Ansatz dem gesamten Projekt schaden. Es muss ja auch nicht alles von Anfang an da sein, es würde ja schon reichen, mit dem E-Rezept und dem Medikationsplan zu beginnen. Das ist ein Use Case, den jeder einsieht und von dem alle Vorteile haben. Warum beschränken wir uns nicht darauf und bauen es dann modular aus? Das wäre der Weg, den ich gehen würde.

 

Vor allem brauchen wir vernünftige Schnittstellen, die auf internationalen Standards basieren, damit die EPA-Daten für andere digitale Anwendungen verfügbar gemacht werden können. Davon profitieren sowohl die Nutzer als auch die Ärzte. Die nötigen Standards dafür sind international schon entwickelt worden, übrigens unter starker Mitarbeit deutscher Experten und der deutschen Industrie. Aber in Deutschland redet mit denen niemand. Auch das BSI steht für den deutschen Sonderweg. Hier wird versucht, Datenschutz und Informationssicherheit maximal auszugestalten ohne Abwägung mit anderen Werten wie z.B. Usability oder im Zweifel sogar Menschenleben. Ich habe dafür kein Verständnis, wir werden diesen deutschen Sonderweg auch nicht durchhalten. Wenn wir das jetzt nicht besser eintüten, werden wir in drei Jahren mit viel Geld eine Korrektur vornehmen müssen.

 

Anderes Thema. Beim telemedizinischen Erstkontakt ist der DVG-Entwurf ja etwas enttäuschend. Immerhin hat der Deutsche Ärztetag schon vor einem Jahr die Musterberufsordnung geändert, und mittlerweile haben zwar nicht alle, aber die meisten Landesärztekammern die Berufsordnungen überarbeitet…

… wobei das schon relevant ist. Wenn zwei nein sagen und die anderen ja, wie sollen wir das dann organisieren? Wir haben überall Versicherte.

 

Wie stellen Sie sich denn in einer idealen Welt die Erstattungsszenarien vor? Schweden und Frankreich experimentieren mit Ansätzen, bei denen ein telemedizinischer Erstkontakt die ganz normalen Pauschalen auslöst. Brauchen wir das auch?

Ich hätte da kein Problem mit. Dass das kommen wird, ist ohnehin so gut wie sicher. In den Bereichen, in denen die Abdeckung mit Präsenzärzten nicht mehr so gut ist, wird es eine absolute Notwendigkeit sein. Aber auch in den Ballungsräumen wollen die Menschen nicht wegen jedem Zipperlein zwei Stunden beim Arzt sitzen. Sofern sie überhaupt einen Termin bekommen. Da macht es extrem Sinn, vorab eine Abklärung vorzunehmen, vielleicht sogar unterstützt von irgendwelchen Diagnose-Apps, bei denen ich mir übrigens wünschen würde, dass die Ärzteschaft da aktiv mitarbeitet. Und dass so etwas dann auch honoriert werden muss, klar. Ich denke, zumindest eine bessere Abbildung im EBM werden wir bald sehen.

 

Die Urangst der Krankenkassen vor unkontrollierter Mengenausweitung plagt Sie nicht?

Ich weiß nicht, ob das die Urangst der Krankenkassen ist. Natürlich müssen wir aufpassen, dass die Kosten nicht durch die Decke gehen. Aber falls das der Fall sein sollte, wird es Korrekturmechanismen geben. Ich habe da wenig Ängste. Wir sollten die Chancen sehen, wir sollten Vertrauen haben, Experimente machen und nicht immer gleich fragen, was alles schiefgehen könnte.

 

Engagieren Sie sich als SBK beim E-Rezept?

Wir sind da im engen inhaltlichen Kontakt mit allen Beteiligten, aber wir machen als SBK nicht noch das fünfzehnte E-Rezept-Experiment. Dass das funktioniert, weiß doch jeder, das haben wir vor 15 Jahren schon mit Rhön gezeigt. Das gilt auch für die Hilfsmittelverordnungen. Da muss ein bundesweiter Standard her, den soll jemand definieren, und dann machen wir das.

 

Was fehlt Ihnen sonst noch beim DVG-Entwurf?

Einiges. Vor allem das Tagesgeschäft der Krankenkassen kommt zu kurz. Das digitale Bonusheft wird erwähnt. Das ist schon mal was, aber es ist viel zu wenig. Was haben wir denn hauptsächlich für Vorgänge als GKV? Das sind Versicherungs- und Beitragsfragen, hinter denen enorm viel Bürokratie steckt. Das ließe sich alles digitalisieren, aber dazu müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Jemand muss autorisiert werden, digitale Formate festzulegen: Wie sieht ein Antrag aus? Wie sehen Rechnungen aus? Wie können Formblätter, Informationen zwischen Ärzten, Arbeitgebern, Versicherten und Krankenkassen sicher ausgetauscht werden? Solange das nicht passiert, gibt es tausend unterschiedliche Formate, die sich niemals effizient digital werden verarbeiten lassen.

 

Sie fordern inhaltliche Standards für die administrative Kommunikation?

So ist es. Und die müssen kommen, sonst wird das noch zehn Jahre dauern, bis wir die Versorgung in Deutschland wirklich kundenorientiert gestalten können. Übrigens auch ärzteorientiert, denn die Ärzte würden von einer Standardisierung der administrativen Krankenkasseninhalte stark profitieren.

 

Warum setzen sich die Krankenkassen nicht einfach zusammen und machen das?

Weil das Thema nicht sexy ist. Damit kann ich nicht glänzen bei einer Pressekonferenz. Meine Vorstellung wäre, dass der Versicherte eine App bekommt, aus der heraus er jeden beliebigen Antrag stellen kann. Der geht dann zum Beispiel an seinen Arzt, der macht das Gutachten oder schreibt das Attest, schickt es elektronisch zurück, und dann geht es wieder an die Krankenkasse, und das alles hoch standardisiert. Das würde die Entscheidungsprozesse im deutschen Gesundheitswesen enorm beschleunigen, und für die Frage, ob Ärzte, Therapeuten und auch Patienten einigermaßen zufrieden sind, ist es extrem wichtig.

 

Wie würden Sie das organisieren?

Warum sagen wir nicht zum GKV Spitzenverband, dass er einen Konsensprozess für diese Formate organisiert, so ähnlich wie die KBV sich um Standards für die medizinischen Inhalte kümmern muss? Und natürlich müssten dann auch die Leistungserbringer gesagt bekommen, dass sie diese elektronischen Wege nutzen. Aber das würden die als Hilfe empfinden. Bei Abrechnungsprozessen ist es ja weitgehend schon so. Wir haben als SBK einen Teil unserer bürokratischen Prozesse schon digitalisiert, Familienfragebögen und Unfallfragebögen zum Beispiel, und unsere Nutzerquoten sind höher als bei anderen Krankenkassen, die mit Digitalthemen viel häufiger in den Medien sind. Solche Angebote werden von den Versicherten sofort genutzt, aber im DVG kommen sie kaum vor, obwohl wir die Vorschläge für nötige Gesetzesänderungen eingereicht haben. So lange es so bleibt, wie es ist, entwickeln wir was, und die TK entwickelt was, und die Barmer macht wieder was Anderes. So wird nie ein Markt entstehen. Das ist extrem unbefriedigend.

 

Das Gespräch führte Philipp Grätzel von Grätz.