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Meilensteinstudie zu Retinopathie-Algorithmus

Foto: © metamorworks / Fotolia

Alle reden über künstliche Intelligenz. Doch oft fehlen gute Studien. Eine völlig autonom agierende, selbstlernende Software für das Retinopathie-Screening beeindruckt jetzt in einer großen prospektiven Studie. Die Belohnung: Eine FDA-Zulassung.

 

Erst vor wenigen Wochen hatte die KI-Tochter von Google, das britische Unternehmen DeepMind, mit einer gemeinsam mit dem Moorfields Eye Hospital in London durchgeführten Studie weltweit Schlagzeilen gemacht: Einem an 15.000 OCT-Scans trainierten Algorithmus gelang es, 50 ophthalmologische Diagnosen annähernd so zuverlässig zu erkennen wie acht Ophthalmologen. Bei 94 Prozent der Scans wurde von der Software die gleiche Diagnose gestellt wie vom Expertenpanel.

 

Allerdings stellte bei dieser Studie strenggenommen nicht die Software die Diagnose. Es ging nur darum, eine Einordnung der Dringlichkeit vorzunehmen um jene Patienten zu identifizieren, die besonders rasch zum Augenarzt müssen. Eine Studie von US-amerikanischen Ophthalmologen, die jetzt in „Nature Digital Medicine“ publiziert wurde, konzentriert sich ausschließlich auf die diabetische Retinopathie und setzt damit einen deutlich engeren Fokus. Sie geht aber konzeptionell mehrere Schritte weiter als die DeepMind-Studie: Das Einsatzszenario ist das Screening auf diabetische Retinopathie in der hausärztlichen Versorgung. Die Software stellt völlig autonom und unmittelbar nach Untersuchung die Diagnose einer diabetischen Retinopathie bzw. eines diabetischen Makulaödems – ohne Telemedizin und ohne Experten-Panel im Hintergrund.

 

Zulassung als Medizinprodukt in USA und Europa  

Zum Einsatz kam dabei das Programm IDx-DR, das im April 2018 auf Basis der jetzt publizierten Studie als nach Angaben des in den USA ansässigen Unternehmens IDx erste autonom agierende, selbstlernende klinische Software überhaupt eine FDA-Zulassung erhalten hat. FDA-Zulassungen sind wesentich schwieriger zu erhalten als die europäischen CE-Zulassungen. IDx-DR ist auch in einigen Projekten in Europa im Einsatz, unter anderem in den Niederlanden und in Österreich. Es verfügt in Europa über eine Klasse IIa-Zulassung als Medizinprodukt.

 

Für ihre Diagnosen nutzt die Software Bilder von nicht-mydriatischen Funduskameras. Das sind Geräte, die von medizinischen Assistenzpersonal mit minimalem Lernaufwand bedient werden können, ohne dass der Patient Augentropfen benötigt In den USA ist der Einsatz der Software an eine spezielle Kamera dieses Typs, das Topcon NW400 System, gekoppelt.

 

Für die Studie wurden 900 Teilnehmer in zehn allgemeinmedizinischen Praxen rekrutiert. Dort wurden die nicht-mydriatischen Fundusaufnahmen für die KI-Analytik von normalen Praxismitarbeitern aufgezeichnet. 819 Teilnehmer waren voll auswertbar. Alle litten an Diabetes mellitus, und bei keinem war bereits eine diabetische Retinopathie oder ein diabetisches Makulaödem bekannt. Goldstandard war eine professionelle Funduskopie inklusive optischer Kohärenztomographie (OCT) für die sichere Identifizierung diabetischer Makulaödeme.

 

Sensitivität in realen klinischen Kohorten ist niedriger

Insgesamt litten gemäß Goldstandarduntersuchung 198 der 819 Diabetespatienten bereits an mindestens moderater diabetischer Retinopathie, eine Quote von annähernd einem Viertel. 173 dieser Patienten wurden von dem KI-System korrekt identifiziert. Die statistischen Auswertungen waren relativ umfangreich und beinhalteten auch eine Differenzierung zwischen rein fundoskopischen Diagnosen und Diagnosen unter Einbeziehung der OCT. In Summe seien die präspezifizierten Grenzwerte für Sensitivität (87,2%) und Spezifität (90,7%) im Hinblick auf die Diagnose einer mindestens moderaten diabetischen Retinopathie durch das KI-System durchgängig erreicht worden, so die Autoren. Insbesondere wurden Patienten, die eine sofortige augenärztliche Konsultation benötigten, von dem KI-System mit einer Sensitivität von 97,6% erkannt worden. Das alles zusammen hat die FDA überzeugt.

 

Die Autoren weisen auch darauf hin, dass die Gesamt-Sensitivität des IDx-DR-Systems bei Testung an einem Validierungsdatensatz höher war als die oben genannten 87,2%, nämlich 97 Prozent. Dies ist sehr typisch und illustriert einmal mehr, wie wichtig die prospektive Evaluierung unter realen klinischen Bedingungen ist. Dieser Punkt wird auch in einem begleitenden Editorial von Pearse Keane und Eric Topol unterstrichen. Die allermeisten anderen KI-Studien, die in den letzten Monaten in unterschiedlichsten klinischen Szenarien publiziert wurden und die es teilweise bis in Boulevard-Medien geschafft haben, haben nur mit Validierungsdatensätzen gearbeitet.

 

Zukunftsvision Augen-Scan-Automat

Wohin die Entwicklung der KI für die Augendiagnostik auf Dauer führen könnte, haben österreichische Ophthalmologen um Professor Ursula Schmidt-Erfurth, Leiterin der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie an der Medizinischen Universität Wien, kürzlich in einem Übersichtsbeitrag in der Zeitschrift „Progress in Retinal and Eye Research“ skizziert. Die österreichischen Pioniere der OCT-Bildgebung sehen das Augen-Screening auf Dauer sogar ganz aus der medizinischen Primärversorgung verschwinden.

 

Stattdessen gehöre die Zukunft „Augenuntersuchungsboxen“, die – ganz ohne Personal – in Eigenregie vom Patienten bedient werden. Diese Boxen könnten irgendwann ähnlich verbreitet sein wie Passbildautomaten: „Dann könnte sich jeder zu jederzeit die Augen scannen lassen, unabhängig vom Standort – und wenn das Ergebnis eine mögliche Erkrankung ergibt, sofort zum zuständigen Arzt gehen“, so Schmidt-Erfurth. 

 

Weitere Informationen:

Abràmoff MD et al. Pivotal trial of an autonomous AI-based diagnostic system for detection fo diabetic retinopathy in primary care offices. Nature Digital Medicine 2018; 1:39.
https://www.nature.com/articles/s41746-018-0040-6

 

Keane PA, Topol E. With an eye to AI and autonomous diagnosis. Nature Digital Medicine 2018. 1:40. https://www.nature.com/articles/s41746-018-0048-y

 

Schmidt-Erfurth U et al. Artificial intelligence in retina. Progress in Retinal and Eye Research 2018. https://doi.org./10.1016/j.preteyeres.2018.07.004