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Medizin |

Mit Arzt, aber nicht vor Ort: Erste Telepraxis im Südwesten

In dem Örtchen Spiegelberg südöstlich vom Heilbronn eröffnet eine Praxis ganz ohne Arzt. Sie soll eng mit den Versorgern in der Region kooperieren und die wohnortnahe Versorgung stärken – auch unter Einsatz modernster telemedizinischer Hilfsmittel.

Telemedizin in Aktion: Elektronisches Stethoskop, wie es in Spiegelberg und Zweiflingen zum Einsatz kommen soll; Foto: ©ohnearztpraxis.de

 

 

Vier Stunden Sprechstunde pro Tag – damit geht die so genannte „OhneArztPraxis“ in Spiegelberg im nördlichen Baden-Württemberg in Kürze an den Start. Offizielle Eröffnung ist am 16. Oktober, aber schon vorher, seit Anfang September, werden erste Patienten behandelt, um Erfahrungen zu sammeln – Erfahrungen mit einer Patientenversorgung, die sich vor Ort ausschließlich auf eine Pflegekraft stützt. Eine weitere derartige Praxis in dem Ort Zweiflingen soll bald folgen.

 

Die Pflegekraft ist angestellt bei dem Unternehmen PhilonMed, einer 100prozentigen Tochter des Thinktanks und Inkubators HealthCare Futurists. Das Unternehmen verfolgt unter dem Label TeleMedicon die Strategie, stark regional verwurzelte medizinische Angebote zu schaffen, die mit den Ärzten in der Umgebung und den unterversorgten Landkreisen und Gemeinden eng kooperieren. So soll der Ausdünnung der medizinischen Versorgung auf dem Land entgegengewirkt werden. Erster Kooperationspartner ist der Hausarzt Dr. Jens Steinat aus der Nachbargemeinde Oppenweiler.

 

Digitale Diagnose-Tools holen den Arzt ins Boot

„Unser Ziel ist, ein ‚Continuum of Care‘ auch unter den Bedingungen in ländlichen Regionen aufrechtzuerhalten“, betont Dr. Tobias Gantner, Gründer der HealthCare Futurists und Geschäftsführer von PhilonMed: „Die Patienten sollen nicht mit irgendeinem Arzt konfrontiert werden, der bei einem Telemedizinanbieter zufällig Dienst hat. Sie behalten den Arzt, den sie kennen, bekommen ihn aber nicht jedes Mal persönlich zu Gesicht.“ Wohnortnach steht vielmehr die Pflegekraft zur Verfügung, auch sie in der Region verwurzelt. Sie ist speziell ausgebildet und bietet diagnostische und therapeutische Maßnahmen an, die mit dem jeweiligen Arzt abgesprochen sind.

 

„Die Pflegekraft kann zum Beispiel 12-Kanal-EKGs aufzeichnen. Sie kann Herztöne aufnehmen, ein Otoskop bedienen und viele andere diagnostische Prozeduren durchführen“, erläutert Florian Burg, der Projektleiter. Die Untersuchungsergebnisse werden digital an den jeweiligen Arzt übertragen, der dann das EKG ansehen, die Herztöne anhören oder den Otoskopie-Befund nachvollziehen kann. „Dazu setzen wir moderne digitale Medizinprodukte wie das Stethoskop StethoMe ein, die in Europa zwar zugelassen, aber bisher oft noch nicht ohne Weiteres verfügbar sind“, so Burg.

Dr. Jens Steinat, Oppenweiler; Foto: ohnearztpraxis.de

Entsteht ein neues Berufsbild?

Auch Fotos von zum Beispiel Hautbefunden können digital an den zuständigen Arzt übermittelt werden, und bei Bedarf steht der Arzt persönlich per Videosprechstunde zur Verfügung. Das wird dann kurzfristig in der Praxis als telemedizinischer Patienten-Slot eingetaktet. „Welche Maßnahmen die Pflegekraft selbst durchführt, ist sehr individuell. Beispielsweise könnte sie beim diabetischen Fuß neben Wundpflege und Verbandswechsel auch kleinere Kürettagen durchführen, wenn das mit dem Arzt abgesprochen und die Pflegekraft entsprechend qualifiziert ist“, so Gantner.

 

Perspektivisch eröffnen sich in solchen Praxen interessante Betätigungsfelder für jene teilapprobierten Pflegekräfte, für die das Pflegeentwicklungsgesetz im Jahr 2008 den Weg gebahnt hat: „Der G-BA hat vier Jahre gebraucht, um den Katalog zusammenzustellen, aber das was jetzt vorliegt, ist sehr zukunftweisend“, betont Prof. Dr. Patrick Jahn von der Abteilung Pflegewissenschaft der Universität Tübingen. Entsprechend ausgebildete Pflegekräfte können beispielsweise in der Diabetes-, Wund- und auch Demenzversorgung sehr weitgehend und nach ärztlicher Erstdiagnose auch eigenständig therapeutische Tätigkeiten übernehmen. „Die ersten Absolventen der entsprechenden Pflegestudiengänge werden wir im Jahr 2020 haben“, so Jahn. „Für telemedizinische Praxen wie die, die jetzt in Baden-Württemberg entstehen, ist diese Qualifikation ideal.“


Versorgungs-Hub statt Zweigpraxis

Was die „OhneArztPraxen“ in Spiegelberg und Zweiflingen von klassischen Zweigpraxen auf dem Land unterscheidet, die von einem Arzt mit Hauptarztsitz in einem anderen Dorf mitbedient werden, sei – neben der intensiven Nutzung digitalmedizinischer Tools – die organisatorische Grundstruktur, betont Gantner: „Wir wollen nicht eine Praxis, die einem Arzt zugeordnet ist, sondern denken an eine Art Hub, auf den mehrere Ärzte zugreifen können, Hausärzte aber in Zukunft auch Fachärzte.“ Die Pflegekraft versorgt also Patienten mehrerer Ärzte, und sie ist auch nicht angestellt bei einem Arzt oder einer Ärztin, sondern bei dem Betreiber des Hubs, in diesem Fall also bei PhilonMed.

 

Perspektivisch lasse sich dieses Modell noch viel weiter denken, so Gantner. Die Pflegekraft könnte auch als eine Art Franchisenehmerin selbständig arbeiten. So entstünde für die teilapprobierten, an Hochschulen ausgebildeten Pflegekräfte der Zukunft eine spannende neue Berufsoption in Selbständigkeit. Aus Sicht eines Unternehmens wie PhilonMed ist das Franchise-Modell ebenfalls nicht unattraktiv, weil es die Möglichkeit bietet, Tools und Konzepte, die sich an einem Ort bewährt haben, auf andere Regionen oder gar in andere Länder zu übertragen.

Foto: ohnearztpraxis.de

Gemeinden vor Ort müssen mitziehen

Bleibt das Problem, wie sich von Pflegekräften besetzte, arztfreie Praxen im deutschen Gesundheitswesen auf Dauer finanzieren lassen. In den kommenden zwei Jahren stehen für das Projekt in Baden-Württemberg Fördermittel des Bundesamts für Landwirtschaft und Ernährung zur Verfügung. Irgendwann freilich wird sich die Frage stellen, wie solche Praxen ohne Fördermittel finanziert werden können. Zwar sollen in Spiegelberg und Zweiflingen existierende Vergütungsmöglichkeiten wie die Videosprechstunden-EBM-Ziffern für Bestandspatienten genutzt werden. Diese gehen aber, genau wie die Quartalspauschale, an den jeweiligen Arzt.

 

Letztlich sei es Teil des Projekts, die politische Diskussion darüber anzustoßen, wie wohnortnahe Praxen unter Nutzung digitaler Drähte zu den Ärzten in der Region auf Dauer finanziell etabliert werden können, so Gantner. Eine Patentlösung gebe es im Moment noch nicht. Für extrem wichtig hält der ausgebildete Arzt, der wie sein Kollege Burg selbst vom Land kommt, die enge Kooperation mit den Versorgern und den politischen Verantwortlichen vor Ort, in den unterversorgten Regionen.

 

In Spiegelberg habe das beispielhaft funktioniert, so Burg. Dort hat die Gemeinde eine Arztpraxis angemietet, die keinen Nachfolger hatte. Deren Räume stehen jetzt (auch) der „OhneArztPraxis“ zur Verfügung. „Wir zahlen dort also keine Miete, und wir bezahlen auch nichts für Internetanschluss oder Reinigung. Da sehen wir die Gemeinden oder Landkreise in der Pflicht, und viele sehen sich da auch selbst in der Pflicht und sind an solchen Projekten sehr interessiert.“

 

Testfeld für künftige digitale Gesundheitsanwendungen?

Ganz unabhängig vom Versorgungsaspekt könnten stark telemedizinisch agierende Praxen wie jene, die jetzt in Spiegelberg und bald in Zweiflingen entstehen, auch als Plattformen fungieren, die helfen, digitale Gesundheitsanwendungen in der realen Versorgung zu testen. Das ist durch das derzeit in Abstimmung befindliche Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) zu einem heißen Thema geworden.

 

Die Bundesregierung will diese Anwendungen künftig in der Regelversorgung verfügbar machen, sofern der Nachweis eines positiven Versorgungseffekts gelingt. Die Kriterien dafür definiert das BfArM, die Preise sollen Herstellerverbände und GKV-Spitzenverband verhandeln. „Hier sehen wir uns mit unseren Praxen sehr gut aufgestellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir mit den Netzwerken, die um die OhneArztPraxen herum entstehen, zu einer Art Erprobungsbiotop für digitale Anwendungen werden“, so Gantner.

 

Text: Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM