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Forschung |

Neues Modell zur Früherkennung von Erkrankungen

In einer aktuellen Studie untersuchen Forschende des Complexity Science Hub und der MedUni Wien erstmals den gesamten Gesundheitsverlauf von fast neun Millionen Menschen in Österreich. Dabei identifizieren sie kritische Punkte, an denen Krankheitsverläufe markant auseinanderdriften – mit schwerwiegenden Folgen für das Leben der Patient:innen und für das Gesundheitssystem. Die Studie wurde im Fachmagazin „npj Digital Medicine“ veröffentlicht.

Die Weltbevölkerung altert mit zunehmender Geschwindigkeit. Laut WHO wird 2023 eine von sechs Personen über 60 Jahre alt sein. Bis 2050 soll sich die Anzahl der über 60-jährigen verdoppelt haben – auf 2,1 Milliarden. „Mit zunehmenden Alter steigt auch das Risiko deutlich, dass mehrere, häufig chronische Krankheiten gleichzeitig auftreten, also die sogenannte Multimorbidität zunimmt“, erklärt Erstautor Elma Dervic vom Complexity Science Hub. Angesichts des demografischen Wandels, mit dem wir konfrontiert sind, birgt das einige Herausforderungen. Einerseits verringert Multimorbidität die Lebensqualität von Betroffenen. Andererseits entsteht dadurch eine massive Mehrbelastung für die Gesundheits- und Sozialsysteme, was viele Länder vor große Herausforderungen stellt. „Deshalb wollen wir herausfinden, welche typischen Krankheitsverläufe bei multimorbiden Patient:innen von der Geburt bis zum Tod auftreten und welche kritischen Momente in deren Leben den weiteren Verlauf maßgeblich prägen. Denn das liefert Anhaltspunkte für sehr frühe und personalisierte Präventionsstrategien", erklärt Dervic die Motivation für die Studie.

 

Das Team von Forschenden des Complexity Science Hub und der Medizinischen Universität Wien analysierte alle Krankenhausaufenthalte in Österreich zwischen 2003 und 2014, insgesamt rund 44 Millionen. Um aus dieser Datenmenge nützliche Informationen zu gewinnen, konstruierten die Wissenschafter:innen mehrschichtige Netzwerke. Jede Altersgruppe von zehn Jahren stellt darin eine Schicht dar. Die Punkte innerhalb dieser Schichten bilden Diagnosen ab.  So konnten die Forscher:innen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Krankheiten in unterschiedlichen Altersgruppen erkennen – zum Beispiel, wie häufig Adipositas, Bluthochdruck und Diabetes bei 20-29-Jährigen gemeinsam auftreten und welche Erkrankungen dann mit einem erhöhten Risiko in späteren Lebensdekaden folgen.  Auf diese Weise identifizierten sie 1.260 verschiedene Krankheitsverläufe (618 bei Frauen und 642 bei Männern) über einen Zeitraum von bis zu 70 Jahren. „Durchschnittlich beinhaltet einer dieser Krankheitsverläufe neun verschiedene Diagnosen, was verdeutlicht wie häufig Multimorbidität tatsächlich vorkommt“, betont Dervic.

 

Kritische Zeitpunkte
Im Fokus der Forschung stehen vor allem jene 70 Verläufe, bei denen Patient:innen in jüngeren Jahren ähnliche Diagnosen aufweisen, die sich dann aber zu deutlich unterschiedlichen Verläufen mit unterschiedlichen Erkrankungsbildern entwickeln. „Wenn sich diese Verläufe trotz ähnlicher Ausgangslage später im Leben hinsichtlich Schweregrad und den entsprechend erforderlichen Krankenhausaufenthalten markant unterscheiden, ist das ein kritischer Moment, der bei der Prävention eine bedeutende Rolle spielt“, so Dervic.

 

Ein Beispiel: Leiden Männer zwischen 20 und 29 Jahren an Schlafstörungen, zeigt das Modell zwei typische Verläufe. Bei Verlauf A treten Jahre später Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus, Adipositas und Fettstoffwechselstörungen auf. Bei Verlauf B kommt es hingegen unter anderem zu Bewegungsstörungen. Das kann darauf hindeuten, dass organische Schlafstörungen ein früher Marker für das Risiko der Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen wie der Parkinson-Krankheit sein könnten.

 

„Wenn jemand in jungen Jahren an Schlafstörungen leidet, kann das also ein kritisches Ereignis sein. Mit diesem Wissen haben Ärzt:innen die Möglichkeit hellhörig zu werden“, erklärt Dervic. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Patient:innen mit Verlauf B in ihren 20ern zwar neun Tage weniger, in ihren 30ern dann aber 29 Tage mehr im Krankenhaus verbringen und auch an mehr zusätzlichen Diagnosen leiden. Da Schlafstörungen zunehmen, macht es nicht nur für die Betroffenen einen Unterschied, welchen Verlauf ihre Erkrankungen nehmen, sondern auch für das Gesundheitssystem.

 

Ähnliches gilt, wenn Mädchen zwischen zehn und neunzehn Jahren an Bluthochdruck leiden. Während es bei den einen später zusätzlich zu metabolischen Erkrankungen kommt, treten bei den anderen in ihren Zwanzigern chronische Nierenerkrankung auf, was bereits in jungen Jahren zu einer erhöhten Sterblichkeit führen kann. Klinisch relevant ist das vor allem deshalb, weil auch Bluthochdruck im Kindesalter weltweit zunimmt, was eng daran geknüpft ist, dass Übergewicht im Kindesalter immer häufiger wird.

 

Es gibt demnach spezifische Verläufe, denen besondere Aufmerksamkeit geschenkt und die gezielt überwacht werden sollten. „Mit diesem aus realen Daten gewonnenem Wissen können Ärzt:innen schon Jahrzehnte bevor ernste Probleme auftreten, anfangen verschiedene Erkrankungen verstärkt zu überwachen und gezielte, personalisierte, präventive Maßnahmen setzen“, erklärt Dervic. Das soll nicht nur dazu beitragen die Gesundheitssysteme zu entlasten, sondern auch die Lebensqualität der Patient:innen zu verbessern.

 

Publikation: npj Digital Medicine
Unraveling cradle-to-grave disease trajectories from multilayer comorbidity networks;
Elma Dervic, Johannes Sorger, Liuhuaying Yang,Michael Leutner, Alexander Kautzky, Stefan Thurner, Alexandra Kautzky-Willer, Peter Klimek
DOI: 10.1038/s41746-024-01015-w

 

Quelle: MedUni Wien