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Medizin |

»Nichts ist so schwierig, wie jeden Tag das Richtige zu tun«

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat am 19. Oktober 2023 eine neue Zentrumsregelung für die Intensivmedizin beschlossen. Die teleintensivmedizinische Beratung kleiner Krankenhäuser durch große Zentren soll in Deutschland künftig flächendeckend ermöglicht werden. Prof. Dr. Gernot Marx hat am Universitätsklinikum Aachen dieses Konzept seit rund zehn Jahren vorangetrieben. Für ihn ist der G-BA-Beschluss ein echter Wendepunkt.

Bild: © Prof. Dr. Gernot Marx

Was besagt der G-BA-Beschluss zu den teleintensivmedizinischen Zentren genau?
Der Beschluss besagt, dass es künftig Zentren für Intensiv-medizin in Deutschland geben wird. Kliniken, die die sehr umfangreichen und fordernden Kriterien des G-BA erfüllen, können den Zentrumszuschlag beantragen, wenn sie dafür die entsprechenden Zentrenaufgaben wahrnehmen. Dazu gehört die Übernahme einer Mentorenfunktion für andere Kliniken durch regelmäßige, fallunabhängige Qualitätszirkel, das Angebot von Fort- und Weiterbildung für vernetzte Krankenhäuser und eben auch und ganz wesentlich die Beratung von intensivmedizinischen Kolleginnen und Kollegen in telemedizinischen Fallkonferenzen und Visiten.

Wie kam es zu diesem Beschluss zum jetzigen Zeitpunkt?
Das hat eine sehr lange Vorgeschichte. Die unmittelbare Grundlage des Beschlusses sind zwei Innovationsfondsprojekte, einmal unser Projekt TELnet@NRW und zum anderen das Berliner ERIC-Projekt. In unserem Projekt haben wir in einer prospektiven, randomisierten Studie zeigen können, dass sich die Qualität der Behandlung durch telemedizinische Unterstützung signifikant verbessern lässt. Das Berliner ERIC-Projekt konnte das analog zeigen. Beide Studien wurden hochrangig publiziert, und beide Projekte wurden vom Innovationsausschuss zur Verstetigung empfohlen. Was dann noch dazukam, war die Corona-Pandemie. In dieser Zeit wurden sowohl bei uns als auch in Berlin unter den Extrembedingungen der Pandemie sehr gute Erfahrungen mit der telemedizinischen Beratung gemacht. Das alles zusammen hat den Ausschlag gegeben.

Wie umfangreich nutzen Sie die Teleintensivmedizin in Nordrhein-Westfalen schon?

Im Rahmen des Projekts TELnet@NRW konnten wir über 150 000 Patientinnen und Patienten rekrutieren, darunter über 10 000 intensivmedizinische. Zu Beginn der Pandemie sind wir mit der Vorstufe dessen, was heute das Virtuelle Krankenhaus NRW ist, in die Regelversorgung gegangen und haben noch mal viele tausend Konsile absolviert. Unser Netzwerk besteht derzeit aus 144 Krankenhäusern und zwei Zentren. Noch während der Pandemie sind mit Unterstützung des Bundesministeriums für Gesundheit die GKV-finanzierten intensivmedizinischen digitalen Versorgungsnetzwerke, also die IDV-Zentren, entstanden. Die wurden aber den Herz- und Lungenzentren untergeordnet. Als sich das abzeichnete, haben wir als Intensivmedizin noch mal einen Anlauf für eine separate Zentreninfrastruktur unternommen. Intensivmedizin ist interdisziplinär und multiprofessionell, das kann nicht an Organzentren angedockt werden. Durch die Etablierung von Zentren für Intensivmedizin können wir in Deutschland interdisziplinäre Spitzenintensivmedizin flächendeckend anbieten und so eine hochqualitative Versorgung schwer kranker Patientinnen und Patienten dauerhaft sicherstellen. Das ist das Besondere.

Was sind nach jetzt mehreren Jahren Erfahrung die häufigsten Telekonsil-Indikationen?

Initial fragen uns oft Kolleginnen und Kollegen für sehr schwer erkrankte Patientinnen und Patienten an. Da geht es um Organdysfunktion, vor allem um Beatmung, um bestimmte Lagerungstherapien, auch um Organersatz-
verfahren. Sehr häufig sind auch Probleme bei der Infektionsbehandlung Anlass für ein Konsil. Wir beraten zur richtigen Auswahl von Antibiotika, der richtigen Dosierung und zur richtigen Dauer. Polymedikation ist auch ein häufiges Thema. Für viele Dinge gibt es Checklisten, aber die müssen halt auch genutzt werden. Nichts ist so schwierig, wie jeden Tag das Richtige zu tun. Mit der Telemedizin sind wir einfach sehr dicht dran und können dazu beitragen, dass die evidenzbasierte Medizin auch wirklich umgesetzt wird. Gemeinsam sind wir kompetenter!

Welcher Anteil der intensivmedizinischen Patientinnen und Patienten in den peripheren Häusern wird denn bei Ihnen konkret vorgestellt? Eher fünf Prozent? Eher zwanzig Prozent?

Eher zwanzig Prozent. Wir werben auch dafür, im Zweifel lieber einmal häufiger vorzustellen. In der Intensivmedizin ist es so: Je früher Sie ein Problem identifizieren, je früher mit der Behandlung begonnen werden kann, desto eher können Sie einen Patienten oder eine Patientin zurück ins Leben bringen. Nehmen Sie die Sepsis: Jede Stunde Verzögerung sind ungefähr sechs Prozent mehr Sterblichkeit.

Wie organisieren Sie bei sich an der Klinik die telekonsiliarische Beratung? Und wie ändert sich das jetzt durch die Zentrenregelung und die damit einhergehende Finanzierung?

Wir machen das hier in Aachen jetzt seit 2012. Das startete als kleines Pilotprojekt mit Landesförderung, dann kam der Innovationsfonds, dann die Corona-Förderung. Es gab immer unterschiedliche Fördermittel, bis heute. Die sind auch ganz entscheidend, denn das kann man nicht nebenbei machen. Das kostet schon viel Zeit. Im Prinzip habe ich das bei uns organisiert wie eine Intensivstation: Wir haben sieben physikalische Intensivstationen, und die virtuelle ist quasi die achte. Da gibt es einen eigenen Dienstplan mit fünf bis sechs Ärztinnen und Ärzten, die dafür im Schichtdienst zur Verfügung stehen. Es gibt eine normale Tagschicht, und nachmittags, abends und am Wochenende ist es ein Rufdienst. Der Vorteil dieses virtuellen Angebots ist unter anderem, dass es sehr flexibel Arbeitsplätze schafft, zum Beispiel für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus familiären Gründen nur in eingeschränkten Zeiträumen zur Verfügung stehen. Die künftigen Zentrumszuschläge brauchen wir, um die Personalressourcen und die technischen Voraussetzungen gegenzufinanzieren.

Steht schon fest, wie hoch die Zuschläge sein werden? Wird das auskömmlich?
Das ist noch offen. Der erste Schritt ist jetzt, dass die Zentren in die Landeskrankenhauspläne aufgenommen werden. Das wird noch ein paar Monate dauern. Danach kann man sich bewerben, und einige Zentren werden dann ausgewählt. Im nächsten Schritt verhandeln diese ausgewählten Kliniken mit der GKV den konkreten Zentrumszuschlag. Das läuft analog zu den Zuschlagsverhandlungen bei anderen Zentren. Bei der Intensivmedizin ist es insofern etwas anders als bei anderen Zentren, da die Telemedizin stark im Vordergrund steht. Es wird da eine 24/7-Betreuung geben müssen. Diese Besonderheit hat der G-BA auch hervorgehoben. Das bedeutet zusätzliche Personalressourcen, und das muss sich im Budget widerspiegeln. Ich bin gespannt, wie das dann am Ende aussehen wird.

Sind die neuen teleintensivmedizinischen Zentren auch ein Vorgriff auf die Krankenhausreform?
Ich glaube, solche Zentren werden eine wichtige Komponente in der künftigen stationären Versorgung sein. Ich wüsste nicht, wie die Intensivmedizin unter den Bedingungen der Krankenhausreform ohne telemedizinische Unterstützung funktionieren sollte.

Da würden dann die künftigen Level-3-Krankenhäuser als Zentren agieren, die die Häuser niedriger Level beraten, ohne massenhaft Patientinnen und Patienten selbst zu übernehmen?
Genau. Das ist auch wichtig: Es geht nicht darum, dass alle zu uns kommen. Eher im Gegenteil. Wir haben dazu Zahlen aus der Corona-Zeit. Bundesweit wurden elf Prozent aller intensivmedizinischen COVID-19-Patientinnen und -Patienten in Zentren verlegt. Bei uns in Nordrhein-Westfalen waren es unter acht Prozent, und das lag daran, dass wir mit der telemedizinischen Beratung Betroffene in den peripheren Häusern halten konnten. Das ist auch außerhalb von COVID unsere Erfahrung: Der Wunsch, zu verlegen, ist nicht mehr so stark, wenn wir auf Distanz unterstützen. Umgekehrt holen wir die Patientinnen und Patienten natürlich auch sehr schnell zu uns, wenn sie bestimmte Geräte oder Expertise benötigen, die nur wir im Zentrum haben. Was wir damit anbieten können, ist eine sehr passgenaue und anforderungsgemäße Medizin.

Was ist denn eine sinnvolle Zentrengröße, wenn wir von einem Szenario ausgehen, bei dem fünf bis sechs Ärztinnen und Ärzte eine eigene virtuelle Intensivstation bespielen?
Im Moment haben wir in Nordrhein-Westfalen zwei Zen­tren: Aachen und Münster. Das ist, würde ich sagen, für ein Bundesland dieser Größe das Minimum bzw. es ist schon eher knapp gerechnet. Aber letztlich ist die genaue Zahl noch offen. Ob es ein bis zwei oder zwei bis drei Zentren pro Bundesland werden, ob es vielleicht Bundesländer gibt, die keine eigenen Zentren haben, das vermag ich im Moment nicht abzuschätzen.

Wie beurteilen Sie die Kriterien für die Teleintensivnetze? Sind das im Wesentlichen die, mit denen Sie in Nordrhein-Westfalen ins Rennen gehen?
Die G-BA-Kriterien sind eher strenger. Das werden nicht alle Kliniken erreichen können. Zum Beispiel muss ein ECMO-Team zur Verfügung stehen, das 24/7 in die Region fahren oder fliegen kann, um in anderen Kliniken
Patientinnen und Patienten an die ECMO nehmen und dann verlegen zu können. Das ist schon anspruchsvoll. Eine echte 24/7-Telemedizin machen bisher auch die allerwenigsten. Es wird eine relativ hohe Zahl veno-venöser ECMOs gefordert – das ist auch nicht ganz ohne. Und man muss über 1 900 schwer kranke Patientinnen und Patienten dokumentiert haben. Das schaffen nur sehr große Maximalversorger. Aber so ist es ja letztlich auch gedacht.

Wie wichtig ist eine Kooperation über die telemedizinische Kooperation hinaus?

Das muss sich natürlich etablieren, aber grundsätzlich halte ich es für gut und richtig, wenn man ein- bis zweimal im Jahr ein mit Fortbildung hinterlegtes Netzwerktreffen macht. Es ist in der Medizin wie überall, man arbeitet besser zusammen, wenn man sich gelegentlich auch mal abseits von Bildschirmen sieht.

Was sind Ihre Empfehlungen für die anderen Häuser, die einen Zentrumsaufbau angehen wollen?
Die technische Infrastruktur ist schon ein Knackpunkt. Es braucht irgendeine Art von digitaler Akte. Wir machen es mit einer elektronischen Fallakte. Ob das künftig auch eine elektronische Patientenakte, also eine ePA, sein kann, weiß ich nicht. Im Moment ist das jedenfalls noch keine Option. Was sich auch extrem bewährt hat: die
Intensivstation wirklich gut und flächendeckend mit WLAN auszuleuchten. Denn dann kann man die Visiten auch mal am Bett machen. Sich einen Patienten oder eine Patientin anzusehen, ist in der Intensivmedizin schon ein Gewinn. Reine Kurvenvisiten sind nur die zweitbeste Lösung. Zumal wenn die Akten noch aus Papier sind, wie das derzeit bei etwa der Hälfte unserer Konsultationskliniken der Fall ist.

Wie ist das Interesse unter den großen intensivmedizinischen Kliniken, Zentrum zu werden?

Das Interesse ist auf jeden Fall sehr hoch. Es gibt schon Kolleginnen und Kollegen, die den Wert dieses Angebots noch nicht so ganz erkannt haben. Aber auf Leitungsebene wird das Ganze mit sehr viel Interesse verfolgt, und der Nutzen wird klar gesehen. Die meisten betrachten es als Meilenstein. Ein Kollege sagte neulich sogar, diese Entscheidung werde in die Medizinhistorie eingehen. Man muss auch noch mal betonen: Solche Infrastrukturen
helfen nicht nur den Einzelnen, sie machen letztlich das gesamte Versorgungssystem krisenfester. Und nicht nur in Pandemien. Durch die Vernetzung können viel besser Kapazitäten verschoben werden, Auslastungen werden viel transparenter. Und irgendwann werden wir dann auch so digital sein, dass wir die Daten der angeschlossenen Einrichtungen nutzen können.

Nutzen wofür genau?
Die digitalen Strukturen, die wir im Rahmen der Zentren aufbauen, werden es uns ermöglichen, von der rein reaktiven Behandlung, bei der wir jetzt sind, hin zu einer proaktiven Versorgung zu kommen. Bei entsprechender digitaler Infrastruktur können wir Entscheidungsunterstützungsalgorithmen etablieren, die bestimmte Risikoszenarien erkennen. Das würde es den Teleintensivmedizinerinnen und -medizinern erlauben, gezielt auf bestimmte Kliniken zuzugehen und konkret zu warnen, wenn bei  einem Patienten oder einer Patientin zum Beispiel eine Sepsis oder ein Lungenversagen droht. Entsprechende Algorithmen gibt es schon. Wir entwickeln gerade im Rahmen der Medizininformatik-Initiative auf Basis von 14 000 beatmeten Patientinnen und Patienten einen solchen Algorithmus zur Vorhersage von Lungenversagen und können bereits eine Sepsis mittels KI-Algorithmen zehn Stunden früher identifizieren. Das ist ein enormer Zeitgewinn! Für solche Szenarien geht jetzt mit den neuen telemedizinischen Zentren überhaupt erst die Tür auf. Da sind wir noch nicht, aber das wäre die Vision. Und das ist dann wirklich Medizin von morgen – von der
reaktiven Behandlung zur proaktiven Versorgung.