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Medizin |

Telenotarzt soll in Nordrhein-Westfalen in die Regelversorgung

Zehn Jahre Erfahrung hat Nordrhein-Westfalen mittlerweile mit dem Telenotarzt gesammelt. Jetzt soll das ganze Bundesland davon profitieren.

 

Bei der nordrhein-westfälischen Variante der telemedizingestützten Notfallversorgung wird in nicht mit Notärzten besetzten Rettungswägen eine Telemedizinverbindung zu einem Telenotarzt geschaffen, den die Rettungsassistenten oder Notfallsanitäter per Knopfdruck hinzuschalten können. Dadurch werden eine Sprachverbindung und bei Bedarf eine Videoverbindung aufgebaut. Gleichzeitig werden alle Daten, die der Notarzt vor Ort schon erhoben hat bzw. erhebt, direkt in die Telenotarzt-Zentrale übertragen. Technisch wird dazu neben einer stabilen Funkverbindung ein zu einer Art Kommunikationszentrale ausgebautes EKG-Gerät benötigt.

 

Regelbetrieb läuft seit Jahren erfolgreich

Bisher beschränkte sich die telenotärztliche Versorgung in Nordrhein-Westfalen auf die Stadt Aachen und die beiden grenznahen Kreise Euskirchen und Heinsberg. Im Sommer hat das Ministerium für Gesundheit und Soziales (MAGS) des Landes Nordrhein-Westfalen aber bekannt gegeben, dass eine landesweite Ausweitung angestrebt wird: „Der Regelbetrieb des Telenotarztes läuft in Aachen seit Jahren sehr erfolgreich. Gleichzeitig haben wir bei Notfallmedizinern zunehmend Nachwuchssorgen, und vor allem im ländlichen Raum gibt es Versorgungsdefizite, die wir beseitigen wollen“, sagte Bernd Schnäbelin, Leiter des Referats Rettungswesen, Rehabilitation im NRW-Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales, bei einer vom ZTG moderierten Diskussionsrunde auf der Medizinmesse Medica 2018 in Düsseldorf.

 

Jetzt werden in Nordrhein-Westfalen eifrig Pläne geschmiedet, wie genau sich ein landesweiter Rollout bewerkstelligen und auch finanzieren lässt. Wie sich der Telenotarzt konkret in die Versorgung integriert und welche Auswirkungen das hat, erläuterten in Düsseldorf der ärztliche Leiter des Rettungsdienstes der Stadt Aachen, Stefan Beckers, und der Geschäftsführer des Rettungsdienstes Kreis Heinsberg, Ralf Rademacher. „Die Situation im Kreis Heinsberg ist, dass wir wie anderswo ständig steigende Einsatzzahlen verzeichnen“, so Rademacher. Dies habe unter anderem dazu geführt, dass die Zahl der Rettungswägen sich nahezu verdoppelt hat, während es gleichzeitig Schwierigkeiten gebe, die Anzahl der Notärzte bzw. Notarztwägen zu erhöhen.

 

Die Kunst besteht in der richtigen Steuerung

Mehr Notärzte seien aber wahrscheinlich auch gar nicht nötig, so Rademacher: „Die Kunst besteht darin, den Notarzt zu den richtigen Patienten zu schicken.“ Der Landkreis beteiligt sich deswegen derzeit mit zwei Rettungswägen im Bereich der deutsch-niederländischen Grenze am Telenotarztsystem. Gerade in dieser ländlichen Lage gelinge es mit dem Telenotarzt, das norarztfreie Intervall von derzeit 6 bis 7 Minuten zu verkürzen und dem nicht-ärztlichen Personal Hilfestellung zu geben. Explizit gehe es beim Thema Telenotarzt nicht darum, Standorte einzusparen, sondern viel mehr um ein Nebeneinander von „normaler“ Notarztversorgung und Telenotarztversorgung mit dem Ziel, Versorgungsdefizite zu beseitigen und die Qualität zu erhöhen.

 

In der Stadt Aachen arbeitet Stefan Beckers seit 2014 mit dem Telenotarzt in der Regelversorgung: „Wir halten das Modell für alternativlos, aber man muss schon genau schauen, wo es Sinn macht, den Telenotarzt als Add-on einzusetzen.“ In jetzt über vier Jahren seien in Aachen über 12000 Patienten telenotärztlich versorgt worden. Bei den Teams im Rettungswagen sei das Angebot ausgesprochen beliebt, so Beckers: „In über 90 Prozent der Fälle fordert das Team vor Ort Hilfe beim Telenotarzt an. In vielen Fällen hätte das ohne Telenotarzt eine Alarmierung des Notarztes nach sich gezogen.“ Demnach gebe es beim Telenotarzt durchaus auch ein gewisses Sparpotenzial.

 

Nicht immer wird der Notarzt nachgefordert

Klar sei aber auch, dass nicht bei jedem Patienten, bei dem der Telenotarztfall hinzugezogen wird, ohne Telemedizin ein Notarztwagen nachgeordert worden wäre. Beckers illustrierte das anhand eines Patienten mit Sportverletzung, den man früher unter Umständen gebeten hätte, auf dem Weg ins Krankenhaus die Zähne zusammenzubeißen, bevor dann in der Notaufnahme die Schmerztherapie begonnen wurde. Heute werde in solchen Fällen oft der Telenotarzt hinzugezogen und die Schmerztherapie noch vor Ort begonnen: „Wir haben also eine echte Qualitätsverbesserung“, so Beckers.

 

Umgekehrt gebe es Patienten, bei denen früher immer ein Notarzt geordert worden wäre, bei denen darauf heute aber dank Telenotarzt verzichtet wird. Beckers nannte vor allem nicht-bewusstlose Patienten mit Schlaganfall. Auch hier sei der Telenotarzt eine Qualitätsverbesserung: Die Patienten könnten dadurch schneller in die Stroke Unit gebracht werden und entsprechend schneller professionell versorgt werden. Insgesamt sei die Zahl der Patienten, die mit Notarztbeteiligung in welcher Form auch immer versorgt werden, nach Einführung des Telenotarztes in Aachen gestiegen, so Beckers.

 

Eine Investition in bessere Versorgung

Entsprechend ist der Telenotarzt so, wie er in Nordrhein-Westfalen praktiziert wird, in Summe kein Einsparmodell, sondern eine Investition in eine bessere Versorgung. Im Zusammenhang mit der jetzt anstehenden, flächendeckenden Einführung geht es deswegen auch um die Finanzierung. „Was ich mir nicht vorstellen kann ist, dass wir alle 52 Leitstellen in Nordrhein-Westfalen mit Telenotärzten ausstatten“, so Schnäbelin. Pro Telenotarztplatz sind Schnäbelin zufolge 5 Telenotärzte nötig, um den Rund-um-die-Uhr-Betrieb an 365 Tagen im Jahr zu gewährleisten: „Das macht keinen Sinn. Stattdessen müssen wir von einem Telenotarztstandort aus relativ große Regionen bedienen.“

 

Denkbar sei beispielsweise, fünf Leitstellen mit einem Telenotarztdienst auszustatten, in jedem Regierungsbezirk eine. „Das lässt sich aber nicht am grünen Tisch entscheiden. Damit müssen sich jetzt die Stadträte und Kreisräte beschäftigen.“ Das MAGS sieht seine Rolle unter anderem darin, diesen Prozess zu moderieren. Ob eine echte Bedarfsplanung erforderlich ist, um jene Regionen zu identifizieren, die von einer telenotärztlichen Versorgung besonders profitieren, ist eine der derzeit noch offenen Fragen. Dirk Ruiss vom Verband der Ersatzkassen in Nordrhein-Westfalen ist da eher skeptisch: „Das wäre ein ziemlich langwieriges Verfahren, das ich nicht für wirklich zielführend halte, auch weil es Widerstände provozieren würde.“

 

Ruiss plädierte eher für einen sukzessiven Ausbau des Angebots, auch orientiert am Interesse und Engagement der regionalen Akteure. Auch Stefan Beckers vom Rettungsdienst Aachen hält eine echte Bedarfsplanung für schwierig. Das scheitere schon daran, dass es in Nordrhein-Westfalen zwar eine Zielzeit von 8 bzw. 12 Minuten in der Stadt bzw. auf dem Land für das ersteintreffende Rettungsfahrzeug gebe, nicht dagegen eine Zielzeit für das Eintreffen des Notarztes. „Das macht es schwierig, den Bedarf überhaupt zu ermitteln.“ In anderen Bundesländern ist das teilweise anders.

 

Service kann technisch überall zur Verfügung gestellt werden

Wie sieht es mit der rein technischen Realisierbarkeit eines „Rollouts“ des Telenotarztes aus? Die technische Umsetzung erfolgt in Nordrhein-Westfalen durch das mittlerweile auch in anderen Regionen engagierte Unternehmen P3 Telehealthcare. „Unsere Technik basiert unter anderem darauf, dass wir mehrere Mobilfunknetze gleichzeitig nutzen, um eine sichere Audioverbindung herzustellen. Wir sind sehr guter Dinge, dass wir unseren Service damit überall in Nordrhein-Westfalen sicher und zuverlässig zur Verfügung stellen können“, sagte Marie-Therèse Mennig, Geschäftsführerin von P3 Telehealthcare.

 

Was die Ausstattung der Rettungswägen angehe, seien die Zusatzkosten überschaubar, betonte Ralf Rademacher. Im Wesentlichen schlage das EKG-Gerät zu Buche, über das die gesamte Kommunikation abgewickelt wird. Außerdem müsse eine Kamera nachgerüstet werden: „Bei nachrüstungen ist ein gewisser technischer Aufwand nötig, aber wir mpssen einen Rettungswagen nicht für 50000 Euro umbauen.“

 

Mennig von P3 Telehealthcare betonte, dass der Telenotarzt-Service nicht einfach nur eine zusätzliche EKG-Box sei, sondern dass auch Schulungen und Organisationskonzept zum Angebot gehörten, damit in der Umsetzung dann auch wirklich alles reibungsfrei läuft. Letztlich ist es wie so oft eine Frage, wie man es rechnet. Wenn angenommen werde, dass ein Telenotarzteinsatz einen fahrenden Notarzt ersetzt, dann komme man auf Einsparungen in der Größenordnung von 40 Prozent, so die Unternehmerin. Kostenträger oder Landesregierungen müssen natürlich anders rechnen.

 

Slowakei klammert die Leitstelle aus

Geht es auch kostengünstiger? Mit einem anderen Versorgungsmodell schon. Das slowakische Unternehmen STEMI Global hat in der Slowakei auf Initiative des dortigen Gesundheitsministeriums landesweit 280 Krankenwagen telemedizinisch aufgerüstet. Dort werde auf den Telenotarzt verzichtet, so STEMI Global CEO Milan Barger.

 

Stattdessen werden die Ärzte in derzeit 60 angebundenen Krankenhäusern einbezogen. Der Rettungsassistent kann auf seinem Handy drei Szenarien anwählen, in denen eine telemedizinische Verbindung aufgebaut wird: Akuter Brustschmerz, Verdacht auf Schlaganfall und Trauma. Das System bietet ihm GPS-basiert eine Liste möglicher Krankenhäuser an, in denen ein entsprechender Experte zur Verfügung steht. Kommunikation und Datenübertragung laufen dann bilateral ohne Leitstelle, und auf eine Videoverbindung wird verzichtet.

 

Das Ganze koste slowakeiweit 150.000 Euro pro Jahr, so Barger in Düsseldorf. Es ist also ziemlich günstig. In einer Fachpublikation, die Anfang November in der Zeitschrift PLOS ONE publiziert wurde, konnten slowakische Notfallmediziner zeigen, dass der Einsatz des STEMI-Systems im Kontext akuter Brustschmerz zu einer signifikanten Verringerung der Sekundärtransporte und zu einer signifikanten Verkürzung des Ischämieintervalls führt.

 

Text: Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM