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Medizin |

Videosprechstunden rocken. Meldewesen nicht.

In Corona-Zeiten werden die Segnungen eines digitalen Gesundheitswesens mehr als deutlich. Leider auch die Versäumnisse der letzten Jahre.

Quelle: © fotohansel – stock.adobe.com

Es dauerte ein paar Tage, bis es nach Beginn der Corona-Krise wirklich alle begriffen hatten: Die derzeitige Pandemie, so ernst und alarmierend die Zahlen weiterhin sind, ist für die Umsetzung von telemedizinischen Sprechstunden in Deutschland ein Turbolader. Zahlreiche Anbieter von Videosprechstunden machen ihre Lösungen für Ärzte mittlerweile zumindest temporär kostenlos zugänglich, sodass praktisch jeder Arzt und Psychotherapeut ohne größeren Aufwand online gehen kann. Die bundesweit agierenden Telemedizinanbieter verzeichnen einen Ansturm von Patienten und suchen händeringend Mitarbeiter. Und auch die Gesundheitspolitik hat erkannt, dass sich in der derzeitigen Situation mit Telesprechstunden halbwegs normale Versorgungsprozesse aufrechterhalten und vor allem „nosokomiale“ SarsCoV2-Infektionen verringern lassen.

 

Die ambulante Medizin verlagert sich Richtung Netz und Telefon

Alle Entwicklungen der letzten Woche nachzuzeichnen, ist kaum möglich, daher nur eine Auswahl der Ereignisse. GKV Spitzenverband und Kassenärztliche Bundesvereinigung haben die Mengenbegrenzung für telemedizinische Patientenkontakte – bisher 20% des GKV Volumens – zumindest vorübergehend gestrichen. Damit können Ärztinnen und Ärzte, aber auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Videosprechstunden derzeit unbeschränkt anbieten und – mit dem für die jeweiligen Fachgruppen festgelegten, geringen Abschlag – abrechnen. Auch AU-Bescheinigungen sind plötzlich kein Thema mehr und können bis zu 14 Tage fernmündlich bzw. telemedizinische ausgestellt werden.

 

Die KVen haben außerdem die Genehmigungspflicht für Videosprechstunden weitgehend ausgesetzt. Zwar dürfen weiterhin nur zertifizierte Videosprechstundensysteme verwendet werden. Die einzelne Arztpraxis muss sich die Nutzung aber nicht mehr aufwändig genehmigen lassen, sondern kann sie in den meisten Fällen der KV weitgehend formlos mitteilen. Auch im Krankenhausbereich sind Videosprechstunden plötzlich salonfähig. Gerade Spezialambulanzen stellen reihenweise auf Videokontakt um, wenn es auch, nach allem, was zu hören ist, in MVZs an der einen oder anderen Stelle an der Firewall scheitert, die es zwar erlaubt, intern per Video zu kommunizieren, aber nicht nach draußen.

 

Sprunghafter Anstieg der Registrierungen

Dass sich das alles in stark steigenden Nutzerzahlen niederschlägt, wundert nicht: „Die aktuell angespannte Corona-Situation hat zu einem sprunghaften Anstieg des Bedarfs geführt“, sagt beispielsweise Gunther Nolte, CIO des kommunalen Berliner Krankenhauskonzerns Vivantes. Die Berliner nutzen eine Videosprechstunde von samedi. Bis einschließlich Ende Juni stellt der Berliner Anbieter webbasierter E-Health-Lösungen sein Tool Ärzten, Praxen und Kliniken kostenlos zur Verfügung.

 

Auch die CompuGroup Medical bietet ihre Videosprechstundenlösung Clickdoc derzeit kostenlos an und verzeichnet enorme Resonanz: „Wir haben seit Anfang März über 31000 Neuregistrierungen“, so CGM-Manager Michael Franz zur E-HEALTH-COM. „Im Moment registrieren sich mehrere tausend Nutzer täglich. Der Hauptteil kommt aus Arztpraxen, aber auch Krankenhäuser, insbesondere Universitätskliniken, haben sich mit mehreren hundert Nutzern registriert, zudem auch zahlreiche Apotheken.“ Was die Nutzung angeht, würden derzeit viele tausend Videosprechstunden täglich über die CGM-Lösung abgewickelt, teilweise mehrere hundert gleichzeitig.

 

Plattformanbieter mit starken Wachstumsraten

Über starke Steigerungsraten berichten auch die bundesweit agierenden Telemedizin-Plattformanbieter TeleClinic, Kry und der in Deutschland über Kooperation mit dem Berufsverband auf Dermatologen spezialisierte Schweizer Anbieter OnlineDoctor.de. „Wir haben allein in den letzten sieben Tagen 50 neue Hautärztinnen und Hausärzte aufgeschaltet“, so OnlineDoctor Deutschland Geschäftsführerin Leonie Sommer mit Stand 26. März. Das Portal bietet bei den Dermatologen keine Videosprechstunde, sondern eine fotografiebasierte Store-and-Forward-Lösung an, bei der sich teilnehmende Fachärzte innerhalb von maximal 48 Stunden bei den anfragenden Patienten zurückmelden, meist deutlich schneller.

 

Auch das schwedische Unternehmen KRY, das 2019 in den deutschen Markt eingestiegen ist, berichtet von stürmischer Nachfrage: „Mit Stand 23. März stieg die Zahl der Videosprechstunden in Deutschland im Vergleich zu Februar um 219 Prozent, und die App-Registrierungen stiegen um 162 Prozent“, so KRY-General Manager Daniel Schneider. Kapazitätsseitig gebe es keine Probleme, da die technische seit mehreren Jahren europaweit eingesetzt werde und zuverlässig funktioniere. Ziel bleibe auch in Krisenzeiten, innerhalb von 30 Minuten einen Termin vermitteln zu können. Dafür würden derzeit in allen Märkten, die das Unternehmen abdecke, neue Ärzte gesucht.

 

Der deutsche Telemedizinplattformanbieter TeleClinic schließlich sieht sich in Zeiten der Corona-Krise ebenfalls klar auf Wachstumskurs. Das Unternehmen, dessen Angebot ab Sommer auch für Patienten der Gesetzlichen Krankenversicherung im Rahmen der normalen Versorgung, also ohne Selbstzahlung, zugänglich sein wird, konnte innerhalb einer Woche die Anfragezahlen fast verdoppeln. Dabei hilft, dass Patienten, die sich mit Verdacht auf Covid19 melden, kostenfrei betreut werden.

 

Auch die TeleCinic sucht weiterhin Ärztinnen und Ärzte. Zur Triagierung der Anfragen gibt es derzeit zwei Dringlichkeitsstufen. Wer akut Hilfe braucht, der erhält innerhalb weniger Minuten Zugang zu einem Arzt. Patienten, die angeben, dass ihr Anliegen nicht sehr dringend ist, warten bis zu einen Tag. „Dennoch ist die Zufriedenheit hoch - wir sind dankbar, dass die Patienten nachvollziehen können, dass Patienten bei sehr dringlichen Anliegen präferiert behandelt werden müssen. In jedem Fall ist der Online-Arztbesuch in der aktuellen Situation für alle Patienten einfach die beste und sicherste Variante“, betont TeleClinic-Chefin Katharina Jünger.

 

Kopfschütteln über insuffizientes Meldewesen

Während Telemedizin- und Videosprechstundenanbieter der Krise die Stirn bieten, gibt es an anderen Stellen des (noch nicht so) digitalen Gesundheitswesens echte Probleme, die in der Corona-Krise wie unter einem Brennglas hervortreten. Ein mittleres Desaster ist das Meldewesen, über dessen Digitalisierung seit Jahren geredet wird und das nun doch zu einem echten Public-Health-Hemmschuh geworden ist.

 

Vor allem rächt sich, dass es ein kein rasch aktivierbares, bundesweites Labormeldewesen gibt, das in der Lage wäre, tagesaktuelle Daten zu liefern. Selbst vier Wochen nach Beginn der europäischen Corona-Welle hinken die beim RKI veröffentlichten Zahlen zu den SarsCoV2-Infektionen der Realität mehrere Tage hinterher. Fast noch gravierender ist, dass es  in Deutschland nur Schätzungen bzw. mühsam mit Tagen Verzögerung zusammengestellte Zahlen über die insgesamt durchgeführten SarsCoV2-Tests und damit die relevante Quote der Positiv-Tests an den Gesamttests gibt. Diese Quote ist relativ niedrig. Die KBV hat sich die Mühe gemacht, das retrospektiv über eine Laborabfrage einmal zusammenzustellen und kam für Kalenderwoche 12 auf eine Positiv-Test-Quote von 6,8% bei insgesamt 266.000 Tests. Seit 9. März gab es demnach Stand 23. März insgesamt 410.000 Tests.

 

An dem Meldedesaster wird wenig überraschend Kritik laut. Standardisierungsexpertin Sylvia Thun vom BIH Berlin und Hochschule Niederrhein erinnerte auf Twitter daran, dass das NRW-Projekt eMeldewesen nicht adäquat gefördert wurde – obwohl es politisch immer als ein Poster Child des digitalen Gesundheitswesens propagiert wurde. HL7 Deutschland versucht derzeit, die Meldungen nach §6 Infektionsschutzgesetz mittels FHIR zu vereinheitlichen. Eine HL7-Spezifikation existiert längst, sie müsste nur bundesweit umgesetzt werden.

 

Weitere Informationen

Zusammenstellung der KBV über Verfahren zur Anzeige der Videosprechstunde nach KV-Bezirk https://www.kbv.de/media/sp/Anzeige_Videosprechstunde_KV.pdf