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Vernetzung |

WirVsVirus – Über die Verbindung von Naivität und Kreativität

Der größte Hackathon, der jemals weltweit durchgeführt wurde: Ein Erfahrungsbericht von Dr. med. Peter Langkafel

Mittwoch, 18.3.2020

Ich werde auf den Hackathon WirVsVirus – unter der Schirmherrschaft der Bundesregierung – angesprochen mit der Frage, dort mitzumachen.  Dazu muss ich sagen: Hackathons hielt ich bis dato primär für soziale Events mit dem Vorwand Software oder Hardware – neue Leute kennenlernen, sich „vernetzen“, Party und so. Mit wildfremden Menschen meist ohne klare Strukturen und Prozesse innerhalb von 48 Stunden etwas halbwegs Sinnvolles zu erstellen – also ein wirkliches Problem zu adressieren und eventuell zu lösen, hielt ich für so unwahrscheinlich wie einen Lottogewinn. Und da ich genug alternative Freizeitalternativen kenne, habe ich – bis auf eine vorherige Hackathon-Erfahrung, die alle meine Vorurteile bestätigt hatte – Einladungen immer freundlich abgesagt.

 

Donnerstag 19.3.2020

Was solls! In Zeiten von social distancing mal selbst etwas Neues probieren! Ich registriere mich als Mentor – weil ich denke, dass ich als Arzt und Medizininformatiker mit rund 20 Jahren Berufserfahrung so vielleicht am besten unterstützen kann. Und weil ich es absolut unterstütze, wenn Politik neue Formen der Interaktion und Kommunikation sucht und gerade auch mal ausprobiert! Also den Mut hat, eine neue, vielleicht noch nicht wirklich durchdachte Idee einfach mal machen oder zu unterstützen. WirVsVirus – aus drei Initiatoren entstand in Kürze ein großes Netzwerk von Menschen, die helfen wollen und die vielleicht auch helfen können – doch dazu später.

 

Freitag 20.3.2020

Ich erhalte endlich einen Link zu dem mir bekannten Slack. Das ist ein webbasierter Instant-Messaging-Dienst zur Kommunikation innerhalb von Arbeitsgruppen. Mit Slack können Nachrichten ausgetauscht werden, und das Chatten mit Einzelpersonen oder in einer Gruppe wird ermöglicht. Allerdings: Der Link funktioniert nicht. Wie ich erfahre, sind in dem Slack-Kanal nur 2000 Personen vorgesehen – der Ansturm auf den Hackathon hat die Organisatoren digital überrollt: Über 40 000 Teilnehmer*innen hatte Slack nicht vorgesehen.

 

Was solls: Ich schaue mir den Welcome Call auf YouTube an. Staatsekretärin Dorothee Bär „freut sich riesig“ in so kurzer Zeit (5 Tage) so etwas auf die Beine zu stellen.  Besonders gefällt Ihr der gemeinsame Wille, etwas zusammen zu erreichen. Sehr viele Hoffnungen aus ganz Deutschland liegen auf allen! Auch andere Sprecherinnen sind „unheimlich dankbar“ für „unheimlich tolle und kreative und wichtige“ Challenges „für die ganze Gesellschaft.“

 

Samstag 21.3.2020

Endlich kommt erneute eine E-Mail – ich kann mich jetzt bei Slack einloggen! Die gemeinsame Bearbeitung von Dokumenten ist nun möglich, allerdings nur wenn man bei weiteren externen Diensten wie Dropbox, Google Drive oder GitHub ein Konto und eine aktivierte Anmeldung hat. Zu Beginn schaue ich mir die Themen auf Airtable an – eine virtuelle Tabelle, die in andere Anwendungen übernommen werden kann.

 

Ich bin überwältigt. Über 800 sogenannte Challenges – aus allen Lebenslagen: Grenzkontrollen, Supermarkt, Haustiere, Finanzierung, e-Sports, Landwirtschaft – um nur ein paar Oberkategorien zu nennen. Lösungsansätze sind von „keine Ahnung“ über „ich könnte mir vorstellen“ bis „gibt es schon“ beschrieben. Als Filter gibt es „Ministeriumsprojekt“, was auch immer das bedeutet. Es bleiben trotzdem über 100 Themen.

 

Ich gehe auf Slack. Auch hier: es herrscht die fast totale Unübersichtlichkeit – oder eben die totale Kreativität? Ich klicke auf den Channel „Unterstützung anbieten“ – und schreibe kurz etwas zu meinen Kompetenzen. Der Kommunikations-Threat hat allerdings eine enorme Geschwindigkeit – und schon bin ich 50 Zeilen „weggescrollt“ worden, von UXlern, Projektmanagern, Entwicklern, Datenschutzexperten, Logoentwicklern – und Menschen, die ihre ganz tollen Lösungen im Sekundentakt anbieten. Hier bin ich nicht ganz richtig, denke ich, zumal hunderte, ja tausende von guten und gutgemeinten Angeboten hereinfliegen.

 

Ich klicke auf den Channel „Unterstützung erfragen“. Auch hier sind derart viele Einträge, dass ich gar nicht daran denken kann, diese zu lesen. Da wird ein „Beatmungsmaschinenexperte“ gesucht – die Idee ist, hier selbst tätig zu werden. Das lass ich mal lieber.  Der nächste oder die nächste sucht Unterstützung im Bereich “Virale Gedankenkraft - Die Kraft unserer Gedanken kennt keine Grenzen.“ Auch das scheint nichts für mich zu sein.

 

Dann wird es spannend: Jemand hat die Idee, mit einer VR-Brille Mediziner*innen das Intubieren beizubringen. Das spricht mich an. Ich stelle mir vor, dass ich – nach über 15 Jahren ohne weißen Kittel – wieder intubieren müsste. Was nicht komplett unvorstellbar ist in heutigen Zeiten, wenn die personellen Ressourcen noch knapper werden sollten. Wir haben selbst letztes Jahr ein Start-up gegründet, welches VR in der Medizin anbieten wollte. Da habe ich zumindest ein paar konkrete Erfahrungen. Ich biete an, zu unterstützen, was begeistert (?) aufgenommen wird. Ich schicke ein paar links von Unternehmen und Ansätzen, die das bereits probieren. Dafür nutze ich die geheime Technologie der Google-Suche und frage dann, wie sie sich hier differenzieren wollen. Sie bedanken sich – aber ich habe das Gefühl, dass ich mit einer Nadel ihren Luftballon getroffen habe – und höre nichts mehr.

 

Kurz darauf:

  • Teilnehmer 12.05 Uhr: „Guten Tag Peter, mein Team entwickelt ein Diagnose T-Shirt mit Sensoren für Temperatur, Herz, Schweiß und Atmung. Uns fehlt aber die Expertise im Bereich Gesundheit.“
  • Peter Langkafel 12:10 Uhr: „...für welche Erkrankung / Zielgruppe?“
  • Teilnehmer 12:13 Uhr: „Hängst davon ab, was wir hardware (sensoren) seitig abbilden können.“ - „Kann ich Dir das Konzept zusenden?“
  • Peter Langkafel 12:13 Uhr: „klar,gern“
  • Teilnehmer 12:16 Uhr: „hier ist es“ - „Das Ganze soll low cost sein“
  • Peter Langkafel 12:29 Uhr: „Hallo - habe mir das mal angeguckt. Das ist so ein bisschen der „solutions looking for problems“ Ansatz – da gibt es schon einiges, das ist (da wahrscheinlich Medizinprodukt) mit schnell mal low cost nicht so einfach zu realisieren.“
    Ich sende ein paar „vergleichbare“ Links: https://www.hexoskin.com/, https://www.iis.fraunhofer.de/de/ff/sse/health/medical-sensors-and-analytics/prod/fitnessshirt.html
  • Teilnehmer 12:29 Uhr: „danke“ - 12:37 Uhr: „Super hilfreich.“

 

Danach höre ich auch von dieser Challenge nicht mehr – und denke wieder, dass ich vielleicht motivierender hätte sein müssen. Ich kann mir ein Anti-Corona-T-Shirt zwar nicht vorstellen, aber dafür gibt es ja Hackathons, auch mal unkonventionell an die Sache heranzugehen.

 

Ein letzter Versuch: Eine Gruppe will eine Software zum Wartezeitenmanagement in einer Praxis oder Notaufnahme entwickeln. Ob ich das ausprobieren könne. Ich schreibe, dass ich nicht in einer Praxis arbeite und frage zart nach, wie sie denn das Thema „Triage“ abbilden möchten, also die Einteilung nach Schweregraden. Ich versende einen Link dazu. Damit habe ich scheinbar auf ein Neuland verwiesen – und höre leider nichts mehr davon. Sie bedanken sich artig – einen Arzt, der gern testen möchte, kann ich ihnen leider nicht nennen.

 

Ich klicke auf die Rubrik Spaß und finde ein mir unbekanntes Toiletpaper-Payment Gateway.

 

Außerdem einen Witz, den ich zum Mittagessen meinen drei Kindern, schulpflichtig und seit über einer Woche zuhause erzählen kann: „Vor Corona habe ich gehustet, damit niemand meine Fürze hört. Jetzt furze ich, damit niemand meinen Husten hört“. Den Kindern gefällt es! Ich schaue am Nachmittag noch ein paar Mal in Slack – aber keine weitere Anfrage.

 

Sonntag 22.3.2020

Morgens schaue ich nach – keine Anfrage. Irgendjemand stellt fest, dass es zu wenig medizinische Expertise gebe und dafür eine zusätzliche Plattform genutzt werden kann. Ich starte die Registrierung – und breche ab, als ich meine Mobilnummer etc. eingeben soll. Zumal: Die von sehr vielen Ärzten genutzte Plattform ist mir gänzlich unbekannt.

 

Ich treffe stattdessen in Slack eine alte Bekannte, auch Medizinerin. Auch sie stellt fest, dass der Geheimtipp „googlen“ bei der ein oder anderen Fragen sicherlich schon weiterhelfen würde. Um 18 Uhr soll die Abschlussparty bei YouTube steigen.  Es läuft Dideldum-Musik – und erst wird der Start auf 18.30 Uhr, dann auf 18.50 Uhr verschoben. Die Zahlen sind beeindruckend: Das Orga-Team wuchs in einer Woche von 3 auf 100, es waren 42968 Teilnehmer*innen, 1989 Challenges und 2922 Mentoren. Die Ergebnisse können (2 Minuten Pitch) noch bis 24 Uhr unter devpost hochgeladen werden.

 

Ein ganz besonderes Gefühl in der ernsten Lage hätten wir gezeigt, wie solidarisch wir miteinander umgehen können! Kanzleramtsminister Helge Braun, selbst Mediziner, sagt als Schirmherr, das sei der größte Hackathon, der jemals weltweit durchgeführt wurde. Er sieht es als seine Verpflichtung an, die Ideen in die Wirklichkeit zu bringen, wo sie den Menschen nutzen! Grußworte und Dank – dann spielt ein Techno-DJ zum Tanze auf.

 

Montag, 23.3.3020
Was ist mein Fazit? Es war ein besonderes Erlebnis. Viele Menschen waren hilfsbereit und offen bzw. wollten helfen und wussten teils nicht richtig wie. Die Verbindung von Naivität, Offenheit und Kreativität war überall zu spüren. Struktur und Prozess waren unübersichtlich – aber eher quantitativ als qualitativ. Die Organisatoren waren von der riesigen Zahl der Teilnehmer*innen überrascht, sodass eine bessere Strukturierung vielleicht nicht möglich war. Sehr hilfreich wäre gewesen, die Themen noch besser zu clustern. Aber auch hier gilt: Wenn in 24 Stunden fast 2000 Challenges genannt werden – wer will die sinnvoll bündeln?

 

Ich kann daher auch am Tag 1 nach dem Hackathon keine Übersicht bzw. keine Bewertung abgeben. Ich möchte ausdrücklich dazu einladen, sich die zwei Minuten Pitches unter Devpost (https://wirvsvirushackathon.devpost.com/submissions)  anzuschauen. Und sei es als Inspiration! Natürlich sind viele Ideen noch unausgegoren und unfertig – aber teilweise voller guter Gedanken und kreativer Ideen. Wer kann und will, kann auch noch mitarbeiten.  Der „eigentliche Erfolg“ hängt davon ab, ob Dinge jetzt auch erfolgreich umgesetzt werden.

 

Einige Ergebnisse sind sicher mit äußerster Vorsicht zu genießen: Die Idee, aus einem Stück Küchenrolle, einem Tütenclip und zwei Haushaltsgummis eine Atemmaske zu bauen – unter dem Schlagwort „kreativer Gesundheitsschutz“ – ist im Zweifelsfall lebensgefährlich. Aber über alternative Produktionsformen nachzudenken – warum nicht? Und die Idee: Corona-Condom – hands free door opener ist absolut sehenswert, um Übertragungsrisiken zu minimieren – und wirklich ein kreativer Umgang mit Kondomen!

 

Aufgefallen ist mir auch, dass das Thema Datenschutz bzw. Datensicherheit kaum eine Rolle spielte. Manche Lösungen – etwa zum Tracking im Supermarkt oder zur Kontrolle von Infizierten – sind zum Glück heute nicht realisierbar, weil die gesetzlichen Regelungen dies zurecht nicht erlauben. Wir müssen aufpassen, in Krisenzeiten nicht relevante Bürger*innenrechte gleich mit zu infizieren. Ich hätte gern etwas Valides zur Geschlechterverteilung geschrieben. Mein persönlicher Eindruck war, dass Männlein, Fraulein und Neutraleins etwa gleichverteilt waren.

 

Was zudem klar geworden ist: Es gibt scheinbar kein Werkzeug, das Peer-to-Peer Fragen, Erfahrungen und Empfehlungen „bottum-up“ miteinander vernetzt. Gerade solch ein Werkzeug wäre in Zeiten einer Krise jedoch dringend notwendig. Abschließend kann ich sagen, dass ich das Thema „Hackathon“ weiterhin nur vorsichtig anfassen werde. Und zwar deshalb, weil die Entwicklung von Innovationen – mit allen Erfolgen und Niederlagen – einen langen Atem braucht, mehr als ein anonymes, digitales, sehr kurzes Miteinander. Dazu gehört auch, dass die Teams strukturell sinnvoll zusammengesetzt sind. Hierfür braucht mal also Geduld und Disziplin. Sonst kann gut gemeinte Energie rasch verpuffen.

 

Dienstag 24.3.2020

Ich registriere mich erneut, um auf Nachfrage zu unterstützen und die über 1500 eingereichten Projekte zu bewerten. The show must go on!