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"Wie geht es Ihnen heute?" Wie die Niederlande ihre Gesundheitsversorgung durch Patientenfeedback besser machen

„Der Mensch steht im Mittelpunkt“ – auf dieses Prinzip der Gesundheitsversorgung können sich alle Akteure in Deutschland einigen. Aber stimmt das wirklich?

Bild: © SBK

„Der Mensch steht im Mittelpunkt“ – auf dieses Prinzip der Gesundheitsversorgung können sich alle Akteure in Deutschland einigen. Aber stimmt das wirklich?

 

Bei genauerer Betrachtung fällt vor allem eines auf: Wenn wir von Versorgungsqualität sprechen, fehlt die Patientenperspektive. Wie werden die vom System erbrachten Leistungen und Services eigentlich von denjenigen bewertet, die behandelt werden?

 

Die Bewertung von Versorgungsleistungen beruht meist auf „harten“, objektivierbaren Daten – zum Beispiel zur Mortalität oder der Verweildauer in einer Klinik. Das subjektive Feedback von Patientinnen und Patienten jedoch wird hierzulande weder systematisch erfasst noch ausgewertet. Dabei birgt das Patientenfeedback erhebliches Potenzial. Qualitativ gute Versorgung braucht den Dreiklang aus klaren Strukturen, effektiven Prozessen und einer hohen Ergebnisqualität.

 

Ein wichtiges Instrument zur strukturierten Patientenbefragung sind patientenberichtete Outcome Measures – so genannte PROMs. Dabei berichten Patientinnen und Patienten über ihren subjektiven Gesundheitszustand während und nach einer Behandlung. Ein Blick über den Tellerrand zeigt vielversprechende Modelle aus dem europäischen Ausland. Allen voran aus den Niederlanden. Dort wurde 2018 eine nationale Strategie verabschiedet mit dem Ziel patientenberichtete Outcomes für Krankheiten, die 50 Prozent der Behandlungen ausmachen, zu erheben und später zu veröffentlichen. Zwischen Groningen und Maastricht gelten diese Befragungen als wesentlicher Treiber einer qualitätsorientierten Gesundheitsversorgung.

 

Wir machen deshalb auf unserer Reise durch das Gesundheitswesen Station in den Niederlanden, um zu erfahren: Wie gelingt es unserem Nachbarland das Patientenfeedback stärker in den Versorgungsalltag zu integrieren? Wie stehen medizinische Fachkräfte sowie Patientinnen und Patienten zur gelebten Transparenz? Wie sieht die praktische Umsetzung aus und was können wir von den Niederländern lernen?

 

Feedback und Qualitätsorientierung im Versorgungsalltag

Validierte Fragebögen – sogenannte Patient-Reported Outcome Measures (PROMs) – sind das Herzstück für die Erfassung und Nutzung von Patientenfeedbacks. Sie ermöglichen es Patientinnen und Patienten auf eine neue Art und Weise zuzuhören.

 

Auf Papier, digital, vor und nach einer Behandlung. Bei chronischen Erkrankungen auch fortlaufend. Gefragt wird zum Beispiel nach einer persönlichen Einschätzung zu verschiedenen Beschwerden, welche Körperteile betroffen sind und wie stark die Beschwerden bestimmte Alltagsbereiche beeinflussen. Das Ziel? Endlich die Patientensichtweise zur Beurteilung von Versorgungsergebnissen mit in den Versorgungsalltag integrieren.

 

In den Niederlanden gibt es eine Vielzahl an PROMs-Initiativen. Einige davon landesweit, wie das Niederländische Institut für klinische Audits (DICA). Es erstellt – unter Einbindung von medizinischen Fachkräften sowie Patientinnen und Patienten – definierte Fragebögen für inzwischen 26 Indikationen: von Onkologie, Diabetes, Herzkrankheiten bis hin zu Nierenerkrankungen. Seit 2018 können Krankenhäuser ein tagesaktuelles Dashboard nutzen, um Auswertungen der Daten für die laufende Optimierung ihrer Leistungen einzusetzen. Der bereitgestellte Datenschatz hilft allen Beteiligten, im direkten Austausch miteinander über individuelle Behandlungswege zu entscheiden (Shared Decision Making).5 Sie tragen dadurch zu einer besseren Therapiesteuerung und einem guten Arzt-Patienten-Verhältnis bei.

 

Heute berichten Mediziner wie Prof. Dr. Willem Jan Bos vom LUMC & St. Antonius Krankenhaus in Nieuwegein von handfesten Verbesserungen: Seit dem regelmäßigen Austausch mit anderen Kliniken zu Qualitätskennzahlen verzeichnet der Nierenspezialist einen Rückgang der Sterblichkeitsrate bei Dialysepatient*innen im Vergleichszeitraum um 50 Prozent. Außerdem konnten die nationalen Dialyse-Zahlen seit 2008 konstant gehalten werden – trotz alternder Bevölkerung und steigendem Bedarf. „Der Einsatz von PROs hat uns geholfen, die Behandlungen besser auf die Bedürfnisse auszurichten. Wir lernen jeden Tag von unseren Patientinnen und Patienten und sehen positive Effekte. Sowohl in der Therapiesteuerung als auch in der Beziehung mit unseren Patient*innen.“

 

Ebenso greifbare Ergebnisse kann Santeon, ein Netzwerk aus sieben Krankenhäusern, vorweisen. Der Bedarf an chirurgischen Zweiteingriffen von Brustkrebs-Patientinnen sank um 74 Prozent. Patientinnen und Patienten können nach Hüftoperationen durchschnittlich vier Tage früher entlassen werden.6

 

Die Umsetzung des Konzepts nahm in den Niederlanden richtig Fahrt auf, als 2017/18 erstmals ein ordnungspolitischer Rahmen für fachliche und regionale Bottom-up-Initiativen geschaffen wurde. Ärzteschaft, Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter sowie Kliniken, Krankenkassen und die Politik kamen in einer nationalen Strategie überein, bei fachärztlicher Versorgung systematisch Patientenfeedbacks für Krankheiten, die 50 Prozent der Behandlungen ausmachen, zu erheben und später zu veröffentlichen.

 

Ziel der nationalen Strategie ist es, datenbasierte Feedback-Systeme zu entwickeln sowie die vielfältigen Bottom-Up-Initiativen zu unterstützen und in die Breite zu skalieren. Die Anzahl digital erfasster patientenberichteter Outcomes (PROs) und Erfahrungen (PREs7) wird nach und nach ausgebaut. Die Zuständigkeit für die Erhebung, Analyse und Reports liegt bei verschiedenen Instituten. Allen voran das Niederländische Institut für klinische Audits (DICA). DICA wird über Forschungszuschüsse und über einen Beitrag der Krankenkassen finanziert.8

 

Was wir von den Niederlanden lernen können

 

1. Nationale Strategie baut Brücken

Das Beispiel Niederlande zeigt, wie wichtig der politische Wille ist. Bereits bestehende Bottom-Up-Initiativen werden top-down gebündelt. Auch in Deutschland sehen wir Leuchtturmprojekte sowie engagierte Vorreiterinnen und Vorreiter, aber die flächendeckende Implementierung fehlt. Sie stellt einen Kraftakt dar und kann nur durch das gemeinsame Engagement aller Stakeholder gelingen. Methodische Standards müssen definiert werden und Verantwortlichkeiten klar geregelt. Fragen der Finanzierung, Digitalisierung und Interoperabilität gilt es zu klären. Dafür braucht es einen ordnungspolitischen Rahmen.
 

2. Hohe Akzeptanz ist die Basis

Auch die Niederlande haben ihre Erfahrungen mit Vorbehalten aus der Ärzteschaft. Es geht um die Angst vor dem Verlust der professionellen Autonomie und allen voran um die Sorge, dass die Dokumentation und Nutzung sehr viel Zeit kosten würden. Eine weitere Befürchtung war, die Verwaltung könne Daten heranziehen, die mit der eigenen Versorgungsrealität nichts zu tun haben. Diese Sichtweise ändert sich mit fortschreitender Umsetzung.9 Positive Erlebnisse durch stetige Qualitätsverbesserung sowie ein Konzept für Transparenz mit Augenmaß helfen der Motivation. Konkret heißt das: Public Reporting ist langfristig zwar ein wichtiges Ziel, das Hauptziel sollte aber zunächst die breite Integration in die klinische Praxis sein. Die Ärztinnen und Ärzte müssen direkt von diesem Feedback profitieren und damit arbeiten können. Die Expertinnen und Experten sind sich einig: Die Einbindung von PRO-Daten fördert eine gute Arzt-Patienten-Kommunikation und erleichtert das Shared Decision Making.
 

3. Interoperabilität gewährleisten

Für einen echten Erfolg bei der Nutzung patientenberichteter Daten benötigen wir Systeme, die einen klinik- und sektorenübergreifenden Datenaustausch ermöglichen. Auch in den Niederlanden gilt es hier noch bestehende Hürden durch zu viele unterschiedliche IT-Systeme aus dem Weg zu räumen. Eine große Chance bietet die Integration in die elektronische Patientenakte (ePA).10
 

4. Der Aufwand lohnt sich

Das Unterfangen, Patientenfeedback systematisch und flächendeckend einzusammeln ist eine Mammutaufgabe. Es braucht eine Vielzahl an kleinen und großen Schritten und vor allem den gemeinsamen Willen. Das Beispiel Niederlande zeigt jedoch: Der Aufwand lohnt sich. Positive Effekte sind unter anderem kürzere Liegezeiten, weniger Zweiteingriffe und die Bekämpfung von Überversorgung in angespannten Versorgungs- bereichen wie zum Beispiel bei Dialyse-Patientinnen und -Patienten. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die Lebensqualität der Betroffenen aus, sondern zahlt sich für die Kliniken auch wirtschaftlich aus.

 

Steckbrief Niederlande

Die 18 Millionen Niederländerinnen und Niederländer sind über eine gesetzliche Krankenversicherung bei elf privaten Non-Profit-Kassen versichert. Finanziert wird die Versorgung überwiegend öffentlich durch staatliche Zuschüsse und allgemeine Steuern. Zusätzlich sind die Versicherten und Arbeitgebenden über verschiedene Pauschalbeträge und einkommensabhängige Zuschüsse beteiligt.1

 

Lange hatten die Niederländerinnen und Niederländer ebenfalls eine Doppelstruktur aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Im Rahmen einer großen Reform wurde diese 2006 aufgehoben. Die klassische Aufteilung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung ist entfallen. Herausgekommen ist eine einheitliche Pflichtversicherung, welche die zuvor herrschenden Ungleichheiten bei Funktion, Leistungen und den finanziellen Folgen für die Versicherten aufhebt. Bestimmte Zusatzleistungen wie zum Beispiel Zahnersatz können privat abgesichert werden.2

 

Im Vergleich zum deutschen Gesundheitssystem sind die Kosten niedriger, während die Versorgungsqualität in vielen internationalen Vergleichen besser abschneidet.3 So betrugen 2023 die Pro-Kopf-Ausgaben 6.090 Euro gegenüber 7.240 Euro in Deutschland. Gerechnet auf eine Million Einwohnerinnen und Einwohner betreiben die Niederlande nur rund ein Sechstel der Krankenhäuser (4,0 gegenüber 22,5). Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Kliniken ist fast halb so lang (5,2 gegenüber 8,8 Tage). Im Falle von akuten Herzinfarkten beträgt die Sterblichkeitsrate innerhalb von 30 Tagen ein Drittel des deutschen Werts (2,9 % zu 8,6 %).4

 

Weitere Informationen

Whitepaper zum Download unter:

https://www.sbk.org/fileadmin/user_upload/UK/Pressemitteilungen/2024/PDFs/SBK_Reiseroute_Niederlande.pdf

 

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/patient-reported-outcome-measures-proms-ein-internationaler-vergleich 
2Handelsblatt, 11.10, Effizienz zum Einheitspreis.
3Ebd.
4OECD „Health at a glance”, 2023 (Präsentation Willem Jan Bos)
5 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/patient-reported-outcome-measures-proms-ein-internationaler-vergleich   

6Ebd.

 

 

Quelle: Siemens-Betriebskrankenkasse SBK