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Da hingehen, wo es passiert!

Public Health ist hingehen, wo es wehtut. Daran wurde während der Pandemie immer wieder erinnert, und es wurde oft zu wenig beherzigt. Auch Digitalisierung des Gesundheitswesens heißt hingehen, wo es wehtut, genauer: hingehen, wo Versorgung stattfindet. VOR ORT. Sofort.

Deutschland belegt bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens einen der hinteren Plätze. Das ist eine leider nicht zu leugnende Tatsache. Ob wir nun weiter den 17. Platz oder inzwischen Platz 15 belegen, oder ob wir zehn oder fünfzehn Jahre „hinten dran“ sind, das ist egal. Fakt ist, dass sich der Mangel an Digitalisierung und digitaler Vernetzung inzwischen immer mehr ganz unmittelbar und direkt überall da auswirkt, wo jeden Tag VOR ORT Patientenversorgung stattfindet. VOR ORT eben.

 

Schon vor fast zwanzig Jahren wurden die wesentlichen Elemente für ein digital vernetztes Gesundheitswesen auf den Weg gebracht. Notfalldatensatz (NFD), elektronischer Arztbrief (heute KIM), elektronischer Medikationsplan (eMP) und elektronische Patientenakte (ePA) waren bereits in der ersten Fassung des § 291a des SGB V von 2003 angelegt. Hinzugekommen sind inzwischen – insbesondere in der letzten Legislaturperiode – weitere wichtige Initiativen wie die Einführung der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), eine massive finanzielle Unterstützung für die Digitalisierung der Krankenhäuser (Krankenhauszukunftsgesetz, KHZG) und nicht zuletzt eine eigene Abteilung für Digitalisierung und Innovation im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), welches zudem maßgeblich Verantwortung für die gematik übernommen hat.


Der Kaiser ist nackt
Die dadurch entstandene Dynamik macht Mut und der Beginn des Wandels ist unübersehbar! Und mehr denn je artikuliert sich jetzt auch bei den Ärzt:innen nicht nur die Einsicht, sondern der ausdrückliche Wunsch, dass unsere Arbeit endlich viel stärker digital unterstützt werden muss. Aber – ja, aber! – die Digitalisierung ist VOR ORT noch nicht angekommen. In den Arztpraxen und den MVZ, in den Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen, in den Apotheken und bei den medizinischen Fachberufen, bei der ambulanten Pflege und auch im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) „läuft“ es immer noch nicht. Natürlich, auf dem Papier und in schicken elektronischen Dashboards sieht es so aus, als sei doch schon alles da. Aber das stimmt eben nicht.


Bei einer Online-Veranstaltung mit fast 600 Ärzt:innen, an der ich vor wenigen Tagen teilnahm, wurde die ePA von 79 Prozent der Kolleg:innen befürwortet. Aber nur vier Prozent nutzen sie bislang! Im Alltag haben wir immer noch kein durchgehend funktionierendes System für den sicheren digitalen Datenaustausch (aka „KIM“). Immer noch ist der NFD keine Realität im Gesundheitswesen. Weder legen Arztpraxen regelhaft NFD an, noch könnten NFD in Notaufnahmen oder gar im Rettungsdienst überhaupt gelesen werden. Nicht anders ist es um den Medikationsplan – den bundeseinheitlichen (BMP), wie auch den elektronischen (eMP) – bestellt. All das ist noch nicht angekommen.


Man könnte auch sagen: Der Kaiser ist nackt. Oder zumindest hat er allenfalls sehr wenig an. Und deshalb habe ich jetzt vor allem einen Wunsch an die Digitalisierungsstrategie des BMG und der von ihm geführten gematik. Gehen Sie VOR ORT! Schauen Sie nach, was jetzt läuft und was noch nicht läuft. Schauen Sie nach und analysieren Sie – zusammen mit der Industrie, zusammen mit den Herstellern von Praxisverwaltungssystemen (PVS) und Krankenhausinformationssystemen (KIS) – was, wo und warum noch nicht läuft. Überlegen Sie dann – zusammen mit der Industrie! – Lösungen für die Probleme und schaffen Sie die Voraussetzungen, diese Probleme aus dem Weg zu räumen. Die Sanktionierung von Leistungserbringer:innen ist keine solche Voraussetzung, die taugt als Problemlöser nur sehr bedingt. Umso mehr bräuchte es aber die konsequente Zertifizierung von IT-Lösungen – und zwar auch und wesentlich unter dem Aspekt der Praxistauglichkeit und Usability.


Wieder ein Moratorium? Im Ernst?
Und: Priorisieren Sie! Spürbarer Nutzen für Patient:innen und Ärzt:innen sowie echte Vernetzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung: Diese zwei Dinge hat Minister Karl Lauterbach (SPD) Anfang März im Gespräch mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zum Prüfstein für das gemacht, was jetzt kommen muss. Danke, Herr Minister! Da kann ich nur zustimmen! KIM und der Notfalldatensatz und dann die ePA. Das sind Anwendungen der TI, die diesen Anspruch erfüllen. Darauf, dass Software und Hardware für diese Anwendungen jetzt überall wirklich funktionieren und nutzbar sind, darauf kommt es an. Und nicht auf die sofortige Einführung des E-Rezepts, erst recht nicht, wenn es noch nicht „ready for prime-time“, ist.


Und ein Letztes: Die Krankenkassen müssen endlich ihrer Aufgabe nachkommen, Patient:innen über die ePA zu informieren, für die ePA zu werben und es ihren Versicherten wirklich leicht zu machen, sich eine
anzulegen. Ca. 0,6 Prozent der Versicherten haben derzeit eine ePA – das ist zu wenig. Denn wenn der Patient VOR ORT keine ePA hat, kann der Arzt sie auch nicht befüllen!

 

Die Ärzt:innen VOR ORT sind inzwischen viel weiter als die Standesvertreter:innen, die jetzt allen Ernstes erneut – so wie vor zwölf Jahren (!) – ein „Moratorium“ fordern. Die Ärzt:innen VOR ORT wollen mehrheitlich kein Moratorium, sie wollen die digitale Vernetzung. Und sie wollen sie jetzt. Aber sie muss einfach (!) nutzbar (!) und nutzerfreundlich im PVS und KIS funktionieren (!), um Nutzen zu bewirken. Wenn das gewährleistet ist, dann kommt die Nutzung ganz von allein. Beispiele dafür gibt es genug. VOR ORT! Auch diese sollten Sie sich ansehen.

 

Autor:

Dr. med. Philipp Stachwitz

ist Facharzt für Anästhesiologie, Schmerztherapeut und Experte für Digitale Medizin
Kontakt: philipp(at)stachwitz.de