Wer sich ein ungeschminktes Bild über die aktuelle Selbstwahrnehmung der deutschen Gesundheitsakteure machen möchte, dem sei das diesjährige "Rechtssymposium des G-BA" anempfohlen. Aber Vorsicht: Harte Kost! Zwar haben der Vorsitzende des Sachverständigenrats, Ferdinand Gerlach, und Rechtsanwalt Christian Dierks ein zeitgemäßes Bild der Potentiale der Digitalisierung im Gesundheitswesen gezeichnet. Und die neue Abteilungsleiterin Digitalisierung im BMG, Susanne Ozegowski, unterbreitete ein Angebot für eine offene, kooperative und pragmatische Fortführung der Digitalisierungsstrategie.
Aber die Beiträge von Susanne Möhring, Vertreterin des Bundesbeauftragetn für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, und von dem vom G-BA Vorsitzenden Josef Hecken als "Evidenzpapst" eingeführten IQWiG-Chef Jürgen Windeler brachten die Teilnehmenden schnell wieder auf den Boden der deutschen Wahrnehmungslage zurück. Und da schmückt man sich noch immer gerne mit dem Hut des Bedenkenträger und predigt das "Weiter-So". Und über allem thront ein Vorsitzender des G-BA, der sich in Eitelkeit und Freiheit als Herrscher des Systems inszeniert. Ans Kostensparen denkt er zuweilen auch und gibt den Hofnarren selbst…
Drei Bemerkungen, worüber geredet wurde. Und eine Abschlussbemerkung darüber, was nicht thematisiert wurde. Und welche Folgen das hat.
Guter Entertainer, schlechter Prozessmanager: Josef Hecken.
Wenn der Veranstalter die Eröffnung schon mit dem Satz beginnt, "Ich will die Ergebnisse der heutigen Tagung schon mal kurz zusammenfassen", weiß man, woher der Wind weht. Der starke Mann des deutschen Gesundheitswesens, eben jener Josef Hecken, ist nicht nur mächtig, er weiß sich in seiner Saarländer Launigkeit auch zu inszenieren. Gut: Man weiß, wie er denkt. Das ist angesichts der wachsenden Zahl an Politikerinnen und Politikern, die viel sagen, aber wenig aussagen, schon mal etwas.
Aber 2021 riecht die ganze Inszenierung des Professor Hecken doch sehr nach rheinischer Fröhlichkeit, 60er Jahren und "Old Boy Netzwerk", etwa wenn er im Hinblick auf das BfArM bemerkt, wie gut er persönlich mit dessen Präsidenten könne. Dieses kumpelhafte "Wir-kennen-uns-doch-schon-lange", diese Vermischung von ironischem Entertainment, Drohungen – mit Jens Spahn scheint er noch eine lange Rechnung offen zu haben – und Selbstinszenierungen – Ich, ich, ich, meine Firma kann dem nicht zustimmen – macht klar: Der Zugang zum Flaschenhals G-BA wird durch seinen Vorsitzenden streng kontrolliert.
Houston, wir haben ein Problem. Die Rolle der Datenschützer
Den Auftritt von Susanne Möhring, Vertreterin unseres Bundesdatenschutzbeauftragten, kann man in einem Satz zusammenfassen: Houston, wir haben ein Problem. Sie und Jürgen Windeler (s.u.) haben deutlich gezeigt, worum es in Deutschland geht: die Inszenierung der eigenen Macht. Worum es nicht geht: an einer Lösung mitzuarbeiten. Für Frau Möhring ist Digitalisierung noch immer Neuland. Man solle doch jetzt mal in Ruhe die angeschobenen einzelnen Elemente der Digitalisierung umsetzen, bevor man über Neues oder über Beschleunigung nachdenke. So so.
Eine Absage erteilte Möhring – Überraschung – vor allem dem OptOut bei der elektronischen Patientenakte, auf den sich die Fraktionen der Ampel-Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung verständigt haben. Dass die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in anderen Ländern zu funktionierenden digitalen Infrastrukturen führt, dass die 18 Datenschutzbeauftragten und ihre mangelnde Abstimmung nicht zu mehr Datenschutz, wohl aber zu Verzögerung und Bürokratisierung führen, das alles war ihr keine Silbe wert. Auch die Stellungnahmen des Sachverständigenrates wurde souverän ignoriert. Nein, Möhring referierte in einem juristischen Universum vor sich hin, ausgehend von, wen wundert's, dem Volkszählungsurteil von 1984.
Was ok ist, nur verharrte sie dort. Kein Blick ins Ausland. Keine Abwägung zwischen Datennutzung und Datenschutz. Das Amt hält weiterhin das Prinzip der Datensparsamkeit hoch, pocht darauf, bei jeder digitalen Anwendung substanziell mitzusprechen und mitzuentscheiden. Denn nur so lasse sich beurteilen, ob das Prinzip der Datensparsamkeit tatsächlich ausgereizt sei. Und erst dann könne der Bundesdatenschutzbeauftragte einer OptOut Regelung, die eine "flüssigere" Datennutzung möglich mache, zustimmen.
Evidenz-Papst Windeler stellt seine eigene Arbeit infrage
Wie wenig vielen Akteuren im deutschen Gesundheitswesen an Lösungen gelegen und wie sehr sie daran interessiert sind, sich und ihre Institution ins Zentrum zu rücken, das hat niemand besser gezeigt als IQWIG-Chef Windeler. Zitat: "Ich bin ja hier als Bedenkenträger beauftragt". Seine Philippika gegen die Digitalisierung, garniert mit dem ausgelutschten Bonmot "ein schlechter Prozess digitalisiert ist ein schlechter digitalisierter Prozess", war ein erstaunliches Beispiel der Schlichtheit im Denken eines der wichtigsten Akteure im deutschen Gesundheitswesen und in Sachen evidenzbasierter Medizin.
Windelers Feindbild: Real World Data. Es fehle dabei der Nutzen für die Gesundheitsversorgung. Er führte dazu zwei Studien an, die gezeigt hätten, dass es auch mit Real World Data und künstlicher Intelligenz nicht möglich sei, nachgewiesenermaßen bessere und schlechtere Behandlungen voneinander zu unterscheiden. Nun kann es sein, dass bei Szenarien, in denen dreißig Faktoren berücksichtigt werden, in Real World Data Analysen keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden können. Aber: ist das wirklich ein Argument gegen die Nutzung von Real Wold Data für Versorgung und Forschung?
Und, weitergedacht: Ließe sich das von ihm angeführte Argument, in verschärfter Form, nicht auch gegen die gesamte evidenzbasierte Medizin wenden, die immer mit unterkomplexen Modellen arbeiten muss und Randfaktoren eliminiert, um statistisch aussagekräftig zu bleiben? Sollten wir in einer Zeit, in der sehr viel mit Datenlagen argumentiert wird, nicht klarer damit umgehen, dass letztlich alle wissenschaftlichen Modelle auf Hypothesen beruhen? Dass alle Methoden Grenzen haben und letztlich nur ein vereinfachtes Bild der Wirklichkeit abliefern? Ein Bild, das so lange gültig bleibt, bis es von einem neuen, differenzierteren Bild abgelöst wird?
Evidenzbasierte Medizin hat heute, zumindest in Teilen, die "eminenzbasierte" Medizin der Vergangenheit abgelöst. Gut so, aber was genau spricht dagegen, sie unter Nutzung von Real World Data, höherer Rechenkraft und unter Einsatz von KI weiter zu differenzieren? Mit einem tun sich die Vertreterinnen und Vertreter der evidenzbasierten Medizin besonders schwer: Zwar lassen sich einzelne Maßnahmen "evidenzbasiert" evaluieren. Transformationsprozesse in sich verändernden Umfeldern dagegen lassen sich nicht evidenzbasiert vorantreiben oder auch nur prognostizieren. Es gibt Placebotabletten, aber es gibt kein Kontrolluniversum.
Der weiße Elefant im Raum: Strukturveränderung
Die naheliegendste Frage wurde auch in diesem Symposium außen vor gelassen: Zwar geißelte G-BA-Chef Hecken immer wieder die mangelnde Bereitschaft der Akteure zur Veränderung. Auch wurde immer wieder kritisiert, wie schwerfällig das deutsche Gesundheitswesen sei, wenn es darum gehe, Veränderungen voranzutreiben oder auf die (lange bekannten) Herausforderungen – demographischer Wandel, Generationswechsel in den Gesundheitsberufen, Kostensteigerung – zu reagieren.
Es wurde auch diskutiert, ob Digitalisierung oder eine Kulturveränderung diesen Zustand ändern könnte. Aber ob auf die Idee, dass diese dauernde Verschleppung von Entscheidungen vielleicht auch oder sogar vor allem strukturell bedingt sein könnte: Auf diese Idee kam niemand, oder zumindest sprach es niemand aus. Niemand im Raum wagte sich an den weißen Elefanten: Dass nämlich ein Aufbrechen der zentralisierten und eng geführten Governance im deutschen Gesundheitswesen, die Überwindung des "Flaschenhalses" G-BA und der in seinem Umfeld angesiedelten Institutionen, notwendig wäre.
Meine Schlußfolgerung: So lange Veränderungen an der zentralisierten, bürokratisierten Struktur weiterhin ein Tabu des deutschen Gesundheitswesens bleiben, so lange Strategien der Öffnung und Veränderung nicht mal diskutiert werden können, wird sich die Situation nicht verändern. Eine Insel, das ist das deutsche Gesundheitssystem schon lange nicht mehr. Und investorengetriebene Akteure haben in vielen Bereichen, der Labormedizin, der zahnärztlichen Versorgung, inzwischen auch der ambulanten Erstversorgung begonnen, sich einzumischen. Da sind alle aufgeregten Appelle zwecklos. Wer Patientenwohl und Kostenbegrenzung – ohnehin nur eine Begrenzung des Kostenanstiegs – will, kann auf neue Lösungen, Skalierung, Beschleunigung, systemische Überlegungen nicht verzichten.
Chance verpasst
So lange Politik und etablierte Akteure diese Herausforderung nicht argumentativ annehmen, werden sie weiter Rückzugsgefechte führen, Rückzugsgefechte, die darauf abzielen, das ständische Muster der "freien Berufe" aus den vergangenen Jahrhunderten ins 21. Jahrhundert herüberzuretten. Um nicht missverstanden zu werden: Ja, das persönliche Vertrauen "meines Arztes", “meiner” Ärztin ist wichtig. Nur müssen diese Ärztinnen und Ärzte künftig lebenslang mit Wissenszuwachs, neuen Lösungen und Instrumenten, verbindlicher Zusammenarbeit, auch auf Augenhöhe mit anderen Berufen, ihr Berufsverständnis weiterentwickeln.
Transformation ist gestaltbar. Es braucht dazu eine Koalition der Willigen, Mut, die alten Geschäftsmodelle zu verlassen, Digitalisierung zu nutzen und neue zu etablieren. Welche Zäune dazu eingerissen werden sollten, darüber zu streiten, wäre an der Zeit. Das G-BA Symposium hat die Chance verpasst.
Weitere Information:
Die vollständige Dokumentation des G-BA-Rechtssymposiums zur Digitalisierung inklusive aller Vorträge ist online abrufbar:
https://www.g-ba.de/service/veranstaltungen/rechtssymposium-digitalisierung/
Autor:
Nikolaus Huss
Managing Partner
KovarHuss GmbH Policy Advisors
Berlin
nh(at)kovarhuss.de