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COVID und die Folgen: Nächste Ausfahrt digitales Meldewesen

Die Eindämmung der Covid-19-Pandemie soll stärker regionalisiert werden. Dadurch werden, neben konsequentem Testen, vor allem die Gesundheitsämter noch wichtiger als bisher. IT-Lösungen können – und müssen – dabei helfen. Doch Deutschland hat die IT-Modernisierung des Infektionsschutzes verschleppt.

Quelle: © Double Brain – stock.adobe.com

Im Gesundheitsamt in Berlin Mitte funktionierte das Management von Covid-19-Patienten bis Ende April so wie in vielen, vielen anderen Gesundheitsämtern in ganz Deutschland: Infizierte und deren Kontakte wurden in ellenlangen Excel-Tabellen aufgelistet. Ob ein Kontakt erreicht wurde, ob er Symptome hatte, wann er kontaktiert wurde und wie oft, all diese für das individuelle „Tracking, Tracing, Isolating“ bei Sars-CoV-2-Infizierten entscheidenden Informationen fanden sich in den Spalten und Zeilen der Excel-Tabellen wieder. Jede Statusänderung wurde in dem entsprechenden Tabellenfeld akribisch notiert, damit die Kollegen in der nächsten Schicht genau wussten, was der aktuelle Stand bei Patient X oder Kontakt Y ist.


Berlin und andere digitalisieren die Kontaktnachverfolgung

Excel ist nicht alles. Die Kommunikation mit dem Labor über die positiven Testergebnisse geschah und geschieht in Berlin wie anderswo schwerpunktmäßig per Fax. Für die gesetzlichen Surveillance-Meldungen nutzten und nutzen die Berliner noch eine weitere Software, SurvNet@RKI genannt. SurvNet wurde Anfang der Nullerjahre entwickelt, kurz nachdem im Jahr 1999 das alte Bundesseuchengesetz von dem moderneren Infektionsschutzgesetz abgelöst wurde. Nach zwei Jahrzehnten ist die Software entsprechend in die Jahre gekommen. Sie dient der Übermittlung der gesetzlich festgelegten Datenextrakte an die zuständige Landesstelle und von dort an das RKI. Rund die Hälfte der Gesundheitsämter in Deutschland nutzt das vom RKI zur Verfügung gestellte SurvNet@RKI. Die übrigen Ämter nutzen kommerzielle Lösungen, die den SurvNet-Standard implementiert haben.


Auch wenn Berlin bisher keine Schwerpunktregion der Covid-19-Pandemie in Deutschland war, hatte zumindest das Gesundheitsamt Berlin Mitte, das zweitgrößte der zwölf Berliner Gesundheitsämter, einige Wochen lang sehr viele Covid-19-Patienten, Sars-CoV-2-Infizierte und Kontaktpersonen, um die es sich parallel kümmern musste, teilweise um die 1 500. „Irgendwann hat die Excel-Liste das nicht mehr geschafft“, sagte Behördenleiter Dr. Lukas Murajda Ende April im ÖGD Podcast. Die Menge an Datensätzen sei einfach zu groß geworden, und vor allem die Tatsache, dass viele Mitarbeiter parallel mit derselben Excel-Tabelle arbeiten mussten, entwickelte sich zu einem enormen Problem, das die Arbeit der Behörde fast lahmlegte.


Es musste also etwas geschehen, und die Berliner entschieden sich für eine digitale Kehrtwende. Die Excel-Tabellen wurden abgeschafft, und es wurde eine Software eingeführt, die speziell für die Betreuung infizierter Menschen und deren Kontaktpersonen in Ausbruchsszenarien entwickelt wurde, nämlich die SORMAS-Software des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI). Mittlerweile gibt es in Berlin einen Senatsbeschluss, der besagt, dass alle Ämter diese Software einführen können. Analoge Regierungsbeschlüsse gibt es in Baden-Württemberg und Niedersachsen, und es wird erwartet, dass weitere Bundesländer dazukommen. Stand Mitte Mai arbeiteten nach Auskunft des HZI 16 der insgesamt 375 Gesundheitsämter in Deutschland bereits mit der Software.


Von Ebola lernen

SORMAS steht für Surveillance Outbreak Response Management & Analytics System. Es handelt sich um eine Software für das Ausbruchsmanagement, bei der es darum geht, Prozesse zu managen und relevante Termine zu planen und abzuarbeiten. Aufgabenverteilung, Reminder-System und Prozessalgorithmen sind die zentralen Stichworte. Bei jedem Infizierten gibt es ein Abfragemenü, das die Kontaktpersonen auflistet bzw. mit dem sie erfasst werden können. Es ist klar ersichtlich, wer kontaktiert werden muss, wie der Gesundheitsstatus ist und wer sich wann zurückmelden sollte. Hinterlegt ist auch, was genau zu tun ist, wenn eine Kontaktperson Symptome hat oder was passieren muss, wenn jemand die Antwort verweigert.


Prozessmanagement – was trocken klingt, könnte tatsächlich eine der wichtigsten Maßnahmen sein, um die Covid-19-Pandemie in Deutschland dauerhaft einzudämmen. Infektionsexpertinnen und -experten aus aller Welt betonen bei jeder Gelegenheit, dass bei einem Virus mit den Eigenschaften des Sars-CoV-2-Virus nicht in erster Linie Kontakt-Apps und ab einem gewissen Punkt auch nicht so sehr das undifferenzierte Social Distancing der Weg zum Erfolg sind, sondern das konsequente Testen und die darauf aufsetzende, mühsame, aber extrem effektive, manuelle Kontaktnachverfolgung mit anschließender temporärer Isolierung.


SORMAS wurde vom HZI für die Ebola-Epidemien in Afrika entwickelt und wird dort mittlerweile in Regionen mit zusammen mehr als 120 Millionen Einwohnern eingesetzt. Zwar gibt es viele Unterschiede zwischen Sars-CoV-2 und dem Ebola-Virus, das weitaus tödlicher ist. Aber es gibt auch ein paar Gemeinsamkeiten, und die hohe Relevanz der Kontaktnachverfolgung ist genau eine davon. Umso problematischer ist, dass bei der Covid-19-Pandemie in Deutschland zumindest manche Gesundheitsämter zwischenzeitlich nur noch symptomatische Patienten nachverfolgten, und einige sich bei Kontaktpersonen der Kategorie A gar nicht mehr die Mühe des weiteren Tracings machten. Das zeigt, dass es hier ein Problem gibt. „Es ist eindeutig nicht die Idee des Kontaktpersonenmanagements, dass gewartet wird, bis jemand Symptome hat. Es geht darum, vorher etwas zu tun“, so Prof. Dr. Gérard Krause, Abteilungsleiter Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, der sehr bedauert, dass die Wirksamkeit des Tracings bei Sars-CoV-2 zu wenig öffentlich diskutiert und die Arbeit der Hygieneinspektoren kaum gewürdigt wird.


The Great Cyber-Wall of the Landkreise
Hintergrund des zögerlichen Tracings dürften neben Missverständnissen im Zusammenhang mit der asymptomatischen Übertragung von Sars-CoV-2, deren Relevanz nach wie vor unklar ist, vor allem personelle Kapazitätsengpässe sein. Die Bundesregierung will hier mit dem 2. Gesetz zum Schutz der Bevölkerung in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nachsteuern. Auch einen Bund-Länder-Pakt für den ÖGD hat Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) angeregt.


Es macht aber nicht nur das fehlende Personal Probleme. Tatsache ist auch, dass personalentlastende Softwarelösungen wie SORMAS – es gibt auch Produkte anderer Anbieter – in Deutschland im Moment nur eingeschränkt einsatzfähig sind. Während die unterschiedlichen Gesundheitsämter in den Ebola-Regionen digital vernetzt sind, arbeiten die deutschen Ämter bisher mit SORMAS im Stand-alone-Betrieb. „Das hat zur Folge, dass Kontakte, die über Kreisgrenzen hinweggehen, manuell rückverfolgt werden müssen“, so Krause. Dass das Kapazitäten bindet, ist offensichtlich. Insbesondere in städtischen Regionen, wo sich Sozialkontakte sehr viel weniger an Stadtkreise orientieren als auf dem Land, ist das ein Riesenproblem.


Rechtlich gesehen sei die Vernetzung der Gesundheitsämter in Deutschland möglich, so Krause gegenüber
E-HEALTH-COM. Mit der Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) aus dem Jahr 2013 wurde auch die Rechtsgrundlage für eine gemeinsame Datenbank geschaffen. Der Teufel steckt aber wie so oft in der politischen Umsetzung. Auf Ebene der Bundesländer müssen Vereinbarungen getroffen werden, die die gemeinsame Datenbank, die das Gesetz erlaubt, auch wirklich möglich machen. Das soll jetzt kommen, in Berlin und anderswo, aber schnell geht das nicht.


Auch technisch muss die Datenbankvariante der SORMAS-Software noch etwas angepasst werden, denn eins zu eins aus den Ebola-Regionen übertragen lässt sich die Vernetzungslösung nicht. Hier deutet sich allerdings eine Lösung an. Einzelne Bundesländer wollen die Finanzierung dieser Weiterentwicklung maßgeblich übernehmen, sodass viele mittlerweile einigermaßen optimistisch sind, dass landkreisübergreifende Datenbanken für eine Kontaktnachverfolgung in einigen Monaten Realität sein könnten – vielleicht rechtzeitig für eine neue Corona-Welle im Herbst.


Das DEMIS-Desaster: Nur die Laborschnittstelle soll bald kommen. Vielleicht.
Die einzige digitale Baustelle im deutschen Gesundheitswesen ist die Datenbank für die Kontaktnachverfolgung leider nicht. Auch die SurvNet-Soft-ware ist dringend renovierungsbedürftig. Es gibt bei SurvNet zum Beispiel keine Laborschnittstelle, und auch keine Schnittstelle zu Arztpraxen und Krankenhäusern. Wichtigstes Kommunikationsmittel im deutschen Meldewesen ist und bleibt das Fax. Die Daten werden dann von den Mitarbeitern der Ämter per Hand eingegeben, in SurvNet und die Excel-Tabelle oder, wo die abgeschafft wurden, in Softwarelösungen wie SORMAS. „Dass das zu einem Meldeverzug führen kann, hatte sich bei der EHEC-Epidemie gezeigt“, so Krause. Sars-CoV-2 legt hier den Finger noch einmal in die Wunde, denn das Problem der fehlenden Laborschnittstelle ist hier wegen der hohen Bedeutung der Tests und der hohen Zahl an Infizierten besonders ausgeprägt.


Es ist nicht so, dass das SurvNet-Problem auf Regierungsebene nicht bekannt ist. Schon in der Novelle des Infektionsschutzgesetzes aus dem Jahr 2013 war das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (DEMIS) angelegt. Es dauerte vier Jahre, bis das Geld dafür zur Verfügung stand. Seither, seit 2017, wurden 5,6 Millionen Euro investiert und es wird eifrig entwickelt, aber fertig ist DEMIS noch lange nicht. Man gehe davon aus, dass ein Großteil der Funktionen bis 2022 realisiert werden könne, so das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der AFD Ende April. Das erinnert an den Berliner Flughafen.


Vorgeprescht werden soll jetzt zumindest mit der Laborschnittstelle, die DEMIS bringen soll. Das entsprechende Modul soll als SurvNet@DEMIS vorab zur Verfügung gestellt werden. Davon würde auch eine Ausbruchsoftware für die Kontaktverfolgung profitieren, denn die könnte die Schnittstelle dann natürlich auch nutzen. Gesundheitsamts-Chef Murajda in Berlin wünscht sich das jedenfalls sehnlichst: „Wir arbeiten in SurvNet als offizieller Datenbank und parallel in SORMAS, das für uns das Arbeits-Tool ist. Wir hoffen sehr, dass es bald eine Verknüpfung gibt und uns die Doppeleingabe dann erspart bleibt.“  


Bald? Vielleicht. Ende April teilte das Bundesgesundheitsministerium in seiner Antwort auf die oben erwähnte Kleine Anfrage mit, dass SurvNet@DEMIS „in wenigen Wochen“ zur Verfügung stehen werde. Bei einer Anfrage von E-HEALTH-COM Mitte Mai beim RKI blieb die Antwort allerdings vage: „Die Entwicklungen sind weiter fortgeschritten, aber wir können noch kein genaues Datum nennen.“ Wenige Wochen, so scheint es, sind ein dehnbarer Begriff.


Wird Sars-CoV-2 auf die Telematikinfrastruktur warten?
Verkompliziert wird die Schnittstellenthematik noch dadurch, dass das ganze Projekt eine sozusagen übergeordnete Dimension besitzt. SurvNet@DEMIS wird vom RKI und vom Fraunhofer FOKUS entwickelt, und die gematik ist als Unterstützerin im Boot. Dass die gematik mitmischt, erstaunt nur auf Anhieb. Denn natürlich ist das elektronische Meldewesen geradezu eine Paradeanwendung für die Telematikinfrastruktur (TI). Politisch wurde es aber nie wirklich als eine prioritäre TI-Anwendung vorangetrieben, obwohl es öffentlich geförderte Projekte unter anderem in Nordrhein-Westfalen gab, die die Digitalisierung des Meldewesens auf Basis einheitlicher Standards eigentlich erreichen wollten. Die wesentlichen inhaltlichen und technischen Komponenten der Standardschnittstellen existieren auch längst.


Was fehlt, ist die TI. Prinzipiell vorgesehen ist, die DEMIS-Anwendung auf der TI als „andere Anwendung des Gesundheitswesens mit Zugriff auf Dienste der TI aus angeschlossenen Netzen“ (aADG-NetG-TI) zu realisieren. Aber die TI ist bisher nur ein Versichertenkarten-Update-Torso. Die ärztliche Kommunikationsschnittstelle KOM-LE/KIM wird getestet, aber selbst wenn der Test kurz und schmerzlos verlaufen sollte, ist eine Flächendeckung noch in einiger Ferne, solange es noch keine oder nur einen zugelassenen Konnektor(en) dafür gibt. Klar ist: Das Virus Sars-CoV-2 wird nicht auf KOM-LE/KIM und den Rest der TI warten. „Eine Anbindung an die TI ist keine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit von DEMIS“, beeilt man sich im BMG dann auch zu versichern.


Auch der digitale Draht zwischen Amt und Bürger soll kommen

Unabhängig von DEMIS und SurvNet würden viele Gesundheitsämter auch gerne digital mit ihren Sars-CoV-2-Infizierten und deren Kontaktpersonen kommunizieren. Denn das ständige Abtelefonieren der langen Excel- oder SORMAS-Listen frisst ebenfalls enorm Kapazitäten, zumal die allermeisten quarantänierten Kontaktpersonen symptomfrei sind und symptomfrei bleiben, weil sie entweder gar nicht infiziert sind oder sie zu der Mehrheit jener gehören, die von Sars-CoV-2 nur wenig merken. Auch die Übermittlung der Testergebnisse an jene Kontaktpersonen, die getestet wurden, erfolgt aktuell meist telefonisch. Und auch das wäre zumindest bei einem negativen Test nicht zwingend nötig.


Die elektronische Kommunikation zwischen Gesundheitsamt und betreuten Bürgern bzw. infizierten Patienten geht die SORMAS-Software des HZI gerade mit einem neuen Modul an, SB-Modul genannt. SB steht für Symptomtagebuch und Befundübermittlung. Es handelt sich um eine freiwillige App, die Infizierten und Kontaktpersonen von den Gesundheitsämtern angeboten werden kann. „Jede Kontaktperson würde ihre Daten selbst eingeben, und eine persönliche Kontaktaufnahme wäre nur noch nötig, wenn Symptome auftreten oder Zweifel an der Kooperation bestehen. Das würde den Arbeitsaufwand im Gesundheitsamt radikal verringern“, betont Krause.


Das SB-Modul ist keine Neuentwicklung. Es nutzt die Plattform Infrastruktur-Auskunft (PIA), die vom HZI im Rahmen der NAKO Gesundheitsstudie entwickelte wurde. PIA wird im Rahmen von Covid-19 für ganz unterschiedliche Szenarien weiterentwickelt, darunter die gesundheitliche Überwachung von medizinischem und pflegerischem Personal. Hier soll es in Kürze ein Pilotprojekt in einer geriatrischen Klinik und bei einem ambulanten Pflegedienst geben. Die Plattform soll auch für Citizen-Science-Initiativen und möglicherweise für die ambulante Überwachung nur leicht erkrankter Covid-19-Patienten genutzt werden.
Rechtlich sieht Krause bei dem SB-Modul keine Hürden, da die Anwendung komplett freiwillig wäre. Beim Datenschutz kommt der Anwendung die NAKO-Vergangenheit zugute, denn dort wurde das Datenschutzkonzept bereits intensiv beleuchtet. Nichts zu tun hat das SB-Modul mit der vieldiskutierten Tracing-App, und auch nichts mit der Datenspende-App, die das RKI vor einigen Wochen gelauncht hat. „All diese Anwendungen haben ihre Berechtigung, aber wir brauchen auch Tools, die den Gesundheitsamts-Mitarbeitern vor Ort helfen“, so Krause.