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Decision Support in der Radiologie

Foto: © pressmaster

Bildgebende Untersuchungen sind zeit­aufwendig, teuer und zumindest teilweise strahlen­­­intensiv. Umso ärgerlicher, wenn die falschen Unter­suchungen beantragt oder durchgeführt werden. Elektronische Entscheidungsunterstützungs­systeme könnten die Indikationsqualität bei den
zuweisenden Ärzten verbessern und in den Radiologien zu Effizienzgewinnen führen. Erste Pilotprojekte mit europaweit einheitlichen digitalen Überweisungsleitlinien laufen.

 

Neue diagnostische Verfahren in der Medizin schaffen auch Nachfrage. Bei neu etablierten Verfahren besteht immer die Gefahr, dass die Indikation zunächst weiter gefasst wird, als die Vorzüge der Methode es rechtfertigen. Frei nach Paul Watzlawick: Für jemanden mit einem brandneuen Hammer sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.


In der Radiologie versprechen moderne Verfahren in der Regel eine höhere Sensitivität bzw. Spezifität, eine schnellere Diagnosefindung und/oder die Vermeidung invasiver Prozeduren zum Wohl von Patienten und Kostenträgern. Auf der Negativseite stehen die erhöhte Strahlenbelastung der Bevölkerung – außer im Falle von MRT- oder Ultraschall-basierten Modalitäten – sowie die in der Regel höheren Kosten.


Die Nutzenbewertung neuer Verfahren ist dabei alles andere als trivial und erfordert diagnostische Studien mit unterschiedlichen Patientenkohorten. Wenn diese vorliegen, bleibt das Problem, die Erkenntnisse über geeignete Indikationen für radiologische Untersuchungen in den klinischen Alltag zu bringen – in Form von papiergebundenen Leitlinien oder IT-gestützten Entscheidungsunterstützungssystemen (Clinical Decision Support Systems, CDSS).

Leitlinien für die Indikationsstellung zur Bildgebung: Die Bilanz ist durchwachsen
Die erste Leitlinie zum Thema Indikationen zu radiologischen Untersuchungen in Europa wurde 1989 vom britischen Royal College of Radiologists (RCR) veröffentlicht; eine Reihe anderer europäischer Länder folgten. Seit 1993 wurden auch in den USA Leitlinien entwickelt, die heutzutage als ACR Appropriateness Criteria vorliegen und regelmäßig aktualisiert und erweitert werden.


Sind Überweisungsleitlinien also eine Erfolgsgeschichte? Die Bilanz ist eher durchwachsen. So wurde 2013 auf einem internationalen Workshop zum Thema festgestellt: Leitlinien funktionieren nicht. Als Grund wurde unter anderem genannt, dass es zu viele derartige Leitlinien gibt, die zudem zumindest teilweise uneinheitliche Empfehlungen aussprechen. Kritikpunkte sind auch die mangelnde Benutzerfreundlichkeit von Print-Versionen der Leitlinien, die mit der Beschaffung von Leitlinien teilweise verbundenen Kosten und eine mangelnde Beteiligung der überweisenden Ärzte an der Entwicklung der Leitlinien.


Dass gedruckte, ausformulierte Leitlinien wenig hilfreich sind und kaum zu ihrem Einsatz motivieren, bestätigte sich in einer Umfrage unter den radiologischen und nuklearmedizinischen Fachgesellschaften Europas: Leitlinien im Fließtext-Format, ob gedruckt oder digital als PDF, waren unbeliebt; tabellarische Darstellungen und Flussdiagramme wurden bevorzugt. Das liebste Medium der Befragten waren nichtpasswortgeschützte Webapplikationen, gefolgt von der ­Integration der Leitlinien in ein CPOE-System (Computerized Physician Order Entry), Leitlinien in Form eines allein stehenden CDSS und mobilen Apps. Print-Leitlinien und passwortgeschützte Webapps standen auf dem Wunschzettel an letzter Stelle.

USA: Digitale Umsetzung der Leitlinien brachte den Erfolg
In den USA sind die Präferenzen nicht anders. Dort waren die schon lange etablierten Appropriateness Criteria unter Nichtradiologen wenig bekannt und wurden kaum eingesetzt. Das änderte sich aber, als sie in Form von CDSS innerhalb von Order-Entry-­Systemen vorlagen. Ab diesem Zeitpunkt wurden nicht angemessene Untersuchungen tatsächlich seltener angeordnet. In den USA ist der Einsatz von CDSS deswegen ab Anfang 2018 bei Medicare- und Medicaid-Patienten Pflicht, wenn komplexere Bildgebung angefordert wird, also MRT, CT, PET und andere Modalitäten.


Auch in Europa sind Überweisungsleitlinien laut Artikel 57 der neuen EU-Richtlinie EURATOM 2013/59 gefordert, aber nicht explizit in digitaler Form. Statt die teils deutlich divergierenden Leitlinien, die in Europa im Einsatz waren, zu vereinheitlichen, beschloss die ESR, die praxiserprobten ACR Appropriateness Criteria zu übernehmen und an die europäischen Verhältnisse anzupassen. 2015 wurde der Prototyp eines solchen CDSS im Rahmen des European Congress of Radiology (ECR) der Öffentlichkeit vorgestellt, der ESR iGuide, der zusammen mit der amerikanischen National Decision Support Company (NDSC) entwickelt wird. NDSC war auch in den USA für die Implementierung der Appropriateness Criteria in ein CDSS zuständig. Das dort eingesetzte Tool heißt ACR Select und ist bereits in mehr als 100 Institutionen im Gebrauch.


Der ESR iGuide beinhaltet klinische Szenarien und Indikationen sowie radiologische Untersuchungen für neun Bereiche der radiologischen Diagnostik: Herz, Thorax, Gastrointes­tinaltrakt, Bewegungsapparat, Nervensystem, Urologie, Gefäße, Brust und weibliche Geschlechtsorgane. Mit seinen Empfehlungen sollen 80 Prozent der täglichen Radiologieanforderungen abgedeckt werden.

ECR-2017-Daten: Jede vierte Anforderung nicht angemessen oder fragwürdig
Der Piloteinsatz des ESR iGuide fand in der Hospital Clinic de Barcelona ­unter der Leitung von Prof. Dr. Luis Donoso statt. Auf dem ECR 2017 ­Anfang März in Wien wurden die Daten eines weiteren Pilotprojekts vorgestellt: In Kroatien wurde der ESR iGuide in vier Krankenhäusern verschiedener Größe, vom kleinen Haus bis zum Universitätsklinikum, in das dortige KIS integriert. Die Daten zeigten, dass etwa 10 Prozent der Anforderungen nicht angemessen waren; bei weiteren 15 Prozent  war die Indikation fragwürdig.


Nicht nur in Deutschland kommen viele Überweisungen aus dem ambulanten Sektor. Gibt es schon Erkenntnisse dazu, wie gut der ESR iGuide dort integriert und akzeptiert wird? Marcel Wassink (NDSC Europe): „Der ambulante Sektor ist Teil eines neuen Pilotprojekts in Schweden. Hier, in der Region Jönköping, haben wir unter anderem vier Praxen für die Teilnahme gewonnen.“ Wassink berichtet, der Start zweier weiterer Pilotprojekte stehe in Dublin und Doha (Katar) bevor. Planungen laufen außerdem für Projekte in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Russland, Saudi-Arabien und mehreren osteuropäischen Ländern.


So soll sichergestellt werden, dass eines der wichtigsten Ziele des ESR iGuide erreicht wird: Anpassungsfähigkeit an die unterschiedlichen Gesundheitssysteme der Länder und Regionen Europas. Auf Landesebene, auf regionaler Ebene und sogar auf Ebene einzelner Krankenhäuser können die innerhalb des ESR iGuide verwendeten Leitlinien modifiziert werden, etwa indem Appropriateness Scores geändert werden oder neue Regeln hinzugefügt werden. Das sogenannte Rapid Response Team, bestehend aus Experten aus Europa und den USA, begutachtet jede solche Änderung der Leitlinien und auch das Feedback, das einzelne Ärzte aus der Software heraus abgeben. Dann entscheidet es über die Integration dieser Änderungen in die übergreifenden Leitlinien.

Patientenschutz und Effizienzsteigerung
Wassink zufolge soll der ESR iGuide über verbesserte Leitlinien-Adhärenz vor allem zwei Ziele erreichen: Effi­zienzsteigerung im Gesundheitswesen und verbesserter Strahlenschutz der Bevölkerung. Und obwohl der ESR iGuide sich nicht an Patienten richtet, soll er auch als Argumentationshilfe fungieren, wenn Patienten nichtindizierte Untersuchungen wünschten. Zudem würde das Haftungsrisiko beim Verzicht auf eine Untersuchung sinken, wenn der Verzicht aus der konsequenten Anwendung evidenzbasierter Leitlinien heraus erfolgt. Auch die zuweisenden Ärzte bekommen also mehr Rechtssicherheit.


Die Ziele der Effizienzsteigerung und des Strahlenschutzes sind in den USA wie auch in Europa wichtig, jedoch mit jeweils etwas anderer Priorisierung: In Europa treffen Radiologen traditionell unabhängige Entscheidungen – sie stellen selbst die Indikation zu einer Untersuchung. Ein Teil der nichtindizierten Anforderungen wird also durch den Radiologen aussortiert. Die zu erwartende Effizienzsteigerung kommt demnach nicht nur durch den Wegfall bildgebender Maßnahmen zustande, sondern auch durch einen effizienteren Einsatz der Arbeitszeit von Radiologen. „Es kostet Radiologen in der Klinik oft ein bis zwei Stunden pro Tag, korrekte Indikationen zu stellen und mit Zuweisern zu telefonieren, um unklare Fragestellungen zu präzisieren“, so Wassink.

Auf dem Weg zur nächsten Generation des Clinical Decision Support
Dies wird von Prof. Dr. Hans-Ulrich Kauczor, Direktor der Radiologischen Klinik am Universitätsklinikum
Heidelberg, bestätigt. Er schätzt, dass seine Mitarbeiter etwa zwei Stunden pro Tag mit trivialen Aufgaben verbringen, die klinikintern durch SOPs festgelegt sind und so mithilfe eines ausgereiften CDSS auch automatisiert werden könnten. Um dies konsequent in die Tat umzusetzen, müsse die nächste Herausforderung bewältigt werden: Die tiefere Integration von CDSS in die klinischen Systeme.
„Als CDSS implementierte Überweisungsleitlinien sind eine gute Grundlage. Fortgeschrittene CDSS sollten dann aber auch klinische Parameter in ihre Vorschläge miteinfließen lassen, beispielsweise Laborwerte. Wenn Laborwerte fehlen oder außerhalb eines festgelegten Bereichs liegen, sollte ein CDSS dies erkennen und von der Untersuchung abraten – ebenso beispielsweise bei Allergien. Und wenn das funktioniert, sollten CDSS im nächsten Schritt anhand der vorliegenden Patienten- und Indika­tionsdaten das geeignete Untersuchungsprotokoll auswählen“, sagt Kauczor.

Größte Hürde ist die volumen-basierte AbrechnungCDSS seien, so betont Kauczor, stets nur supportive Werkzeuge, die keine eigenständigen Entscheidungen träfen, sondern dem Kliniker Entscheidungshilfen lieferten. Als solche würden die Systeme von der überwiegenden Zahl der Radiologen in seiner Klinik begrüßt: „Die Leute freuen sich, wenn sie weniger Zeit mit Trivialitäten verbringen müssen und mehr Zeit haben, komplexe Fragestellungen zu bearbeiten.“ Auf das gesamte Gesundheitssystem bezogen hänge die Akzeptanz von CDSS jedoch davon ab, dass die Honorarstruktur weg von einer volumenbasierten Radiologie und hin zu einer wertebasierten Radiologie gehen müsse, die das Outcome für den Patienten in den Vordergrund stelle. Das sei im ambulanten Sektor noch schwerer zu erreichen als innerhalb des DRG-Systems.


Nach Meinung von Marcel Wassink könnten sowohl Krankenkassen und Kliniken als auch Strahlenschutzbehörden daran interessiert sein, den Einsatz des ESR iGuide zu finanzieren. Dass der Zugriff auf Überweisungsleitlinien für den einzelnen Niedergelassenen kostenpflichtig werde, sei eher unwahrscheinlich. Das konkrete Modell für die Kostenübernahme werde aber erst nach Auswertung weiterer Daten aus Pilotstudien entwickelt.

 

Autorin: Dr. Med. Christina Czeschik ist Ärztin und Medizininformatikerin. Sie arbeitet heute als Beraterin und Fachautorin.