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Digitale Pflege: » Der pflegerische Nutzen spielt kaum eine Rolle «

Die Corona-Krise scheint zum Kickstarter für die telemedizinische Versorgung in Deutschland zu werden. Aber gilt das auch für die Pflege, die in vielerlei Hinsicht im Herzen der Corona-Krise steht? Oder fällt die bei allem Technologie-Hype der letzten Monate einmal mehr hinten runter? Ein Gespräch mit dem Pflegeexperten Holger Dudel.

Quelle: © Holger Dudel

Wie technologieaffin ist die Pflege?
Pflegekräfte sind Menschen aus der Praxis des Lebens. Denen latent zu unterstellen, sie seien nicht technologieaffin, ist unangebracht. Dort wo Technologie angeboten und gegenfinanziert wird, können Pflegekräfte damit auch wunderbar umgehen. Aber am Angebot und vor allem an der Gegenfinanzierung hapert es. Wenn wir über Technik in der Pflege reden, dann geht es bisher hauptsächlich um Software und Dokumentation. Das hat mit der Orientierung an Patienten oder pflegebedürftigen Menschen nichts zu tun. Pflege ist im Kern eine Beziehungstätigkeit. Und genau dabei könnte Technologie enorm helfen, wie die Corona-Krise ja plastisch illustriert. Das passiert in Deutschland aber nicht. Weder stehen geeignete Module flächendeckend zur Verfügung noch spielen kundenbezogene IT-Bausteine in der Ausbildung der Pflegekräfte eine Rolle. Bei der Nutzung von Technik in der Sozialwirtschaft liegt Deutschland meilenweit hinter anderen Ländern zurück. Auch die unter dem AAL-Label politisch angestoßenen Digitalisierungsprojekte helfen nicht wirklich weiter, wenn der Transfer in die Versorgung nicht gelingt.

Die aktuelle Bundesregierung hat ja versucht, durch ein Sofortprogramm die Digitalisierung der Pflege voranzubringen. Hat das nicht geholfen?
Sie meinen die im Pflegepersonal-Stärkungsgesetz festgeschriebene Anschubfinanzierung? Also ganz ehrlich, da ist schon sehr viel Optimismus drin bei dem, was da politisch läuft. Irgendeine Art von Software hat mittlerweile selbst ein Familienbetrieb. Das Fördergeld wird genutzt, um die Software zu erneuern oder ein paar neue Geräte für die mobile Datenerfassung (MDA) anzuschaffen. Das ist besser als nichts, aber es ist nichts Nachhaltiges, und es ist vor allem wieder nur Unterstützung für die Dokumentation, gemäß § 8 Absatz 8 SGB XI, wo ausdrücklich betont wird, dass es darum gehe, die Pflegekräfte zu entlassen. Der Nutzen für pflegebedürftige Menschen spielt keine Rolle. Das Ganze geht also am Ziel vorbei. Wenn wir auf breiter Front Technik in die Sozialwirtschaft einführen wollen, dann ist das nicht mit einer Einmalzahlung getan, dann müssen wir grundsätzlich etwas ändern.

Inwieweit macht die Corona-Krise den Bedarf nach Technologie in der Pflege deutlich?

Wenn wir allgemein über Technologie und soziale Dienstleistungen reden, dann hilft es meiner Meinung nach, das in vier Bereiche aufzugliedern. Da ist zum einen der Bereich Sicherheit. Hier wäre zum Beispiel der Hausnotruf angesiedelt. Im Bereich Pflege sind Tele-Nurse und Tele-Care die klassischen Technologiethemen. Dazu gehören sensorgestützte Angebote, die der Pflege beim Pflegeprozess helfen, wie Sturz-, Inkontinenz- oder bestimmte Arten von Bewegungssensoren. Der dritte Bereich ist die soziale Teilhabe. Hier sind „soziale“ Technologie-Angebote angesiedelt, etwa solche, die sich an vereinsamte Menschen richten. Und der vierte Bereich schließlich lässt sich mit „Komfort“ überschreiben, er umfasst breiter gefasste Angebote, die nicht primär auf die Pflege zielen, wie etwa Schrittzähler oder Ernährungs-Apps.

Wenn wir uns die Corona-Krise entlang dieses Schemas ansehen, dann ist klar, dass zum einen Technik für eine soziale Teilhabe eine wichtige Rolle spielt. Hier muss aber deutlich betont werden, dass die für die deutsche Pflegelandschaft, in der Heimpflege wie in der ambulanten Pflege, ohnehin charakteristischen Defizite in sozialer Teilhabe durch die Corona-Krise nur verstärkt werden. Das zweite prioritäre Technik-Feld in der Corona-Krise ist das Feld der Pflege. Denn natürlich sind Pflegekräfte potenzielle Überträgerinnen und Überträger von Viren, und natürlich lässt sich dadurch, dass gewisse Dinge aus der Ferne erledigt werden, das Infektionsrisiko für alle Beteiligten senken.

Was wären speziell im Bereich Pflege sinnvolle Technikszenarien für die Corona-Krise?
Nehmen Sie einen absoluten Standardprozess, die Medikamentengabe in der ambulanten Pflege. Das läuft im Normalfall so, dass die Pflegekraft zum Kunden fährt und dort die Medikamenten-Einnahme überwacht. Dann geht es zum nächsten Kunden. Da gibt es an den verschiedensten Stellen das Risiko, dass die Pflegekraft sich entweder selbst ansteckt oder eine unbemerkte Infektion an Menschen weitergibt, die praktisch immer zur Hochrisikogruppe gehören. Dieser ganze Prozess lässt sich alternativ auch wunderbar videobasiert abbilden, dafür braucht es auch kein hochtechnisches Equipment. Per Monitor kann eine Pflegekraft beurteilen, ob die richtige Person die richtige Tablette bekommt und sie richtig einnimmt. Auch viel pflegerische Beratung lässt sich problemlos aus der Distanz erbringen. Ich sage nicht, dass das immer wünschenswert ist, aber in einer Situation wie der Corona-Pandemie ließe sich damit das Risiko reduzieren, vielleicht sogar das eine oder andere Leben retten.

In der medizinischen Versorgung hat die Corona-Krise dazu geführt, dass zumindest temporär Erstattungsbeschränkungen für telemedizinische Leistungen aufgehoben wurden. Die Folge: Ärztinnen und Psychotherapeuten haben sich zu Zehntausenden für die Nutzung solcher Angebote angemeldet. In der Pflege gibt es keinen solchen Schub?
Sehen Sie etwas? Ich sehe nichts. Es hat schon vor der Corona-Krise nur einzelne, projektbezogene Initiativen gegeben, die es Pflegeeinrichtungen erlaubt hätten, beispielsweise Lösungen für eine technologiegestützte soziale Teilhabe zu implementieren. Und Corona hat hier auch nichts verändert. Im Moment ist es so, dass zwar jede Pflegezeitschrift pro Ausgabe mindestens einen Artikel zu Technik und Pflege bringt, dass davon aber nichts flächendeckend in der Versorgung ankommt. Es gibt zugegeben ein paar Software-Unternehmen, die den Heimen seit Corona anbieten, bestimmte Tools für den Kontakt mit Angehörigen bis zum Beispiel September kostenlos zu nutzen. Aber da sind keine längerfristigen Strategien erkennbar. Die Hoffnung der Hersteller ist, dass die Heime das ab Herbst aus eigener Tasche bezahlen. Neben der fehlenden Nachhaltigkeit ist das Zweite, was uns gerade auch aus DGQ-Sicht umtreibt, dass das Thema Qualität ausgeklammert wird. Ob es bei einer technischen Lösung einen pflegerischen Nutzen gibt, spielt kaum eine Rolle, vor allem gibt es kein bundesweites Konzept für eine Evaluation, die dann auch Auswirkungen auf die Erstattbarkeit hat.

Sie haben das Tele-Nursing bei der Medikamentengabe in Pandemiezeiten angesprochen. Wo sehen Sie darüber hinaus konkrete Einsatzszenarien für technologische Lösungen, die die Pflege in Deutschland voranbringen könnten?
Wenn wir beim Bereich Pflege bleiben, dann wären Lösungen wünschenswert, die letztlich darauf abzielen, Pflegebedarf zu verringern. Ein Beispiel sind Produkte, die eine Inkontinenz anzeigen. Mit ihnen können aus der Inkontinenz resultierende Folgeprobleme vermieden werden. Davon profitiert der pflegebedürftige Mensch immens. Es gibt Lösungen, die dazu beitragen, einen Dekubitus zu vermeiden, da ist der Nutzen genauso evident. Auch Sturzsensoren sind praktisch intuitiv nützlich. Natürlich muss es bei solchen Produkten jeweils auch einen wissenschaftlichen Nutzenbeleg geben, damit sind wir wieder beim Thema Qualität. Aber das ist aus meiner Sicht nicht das Hauptproblem. Solche Evidenz lässt sich generieren, sofern es für den Anbieter danach auch eine Perspektive gibt.

Woran genau hakt es?

Es hakt an der Finanzierung und an der Bereitschaft, jahrzehntealte Denkschablonen abzulegen. Es reicht nicht, wenn bestimmte Innovationen in den Pflegehilfsmittel-katalog reingeschrieben werden, das zeigt das Beispiel der Sturzsensoren ganz deutlich. Die wurden in den Katalog aufgenommen, aber es ist keine Finanzierung dafür in Sicht, weil es keine entsprechenden Verträge mit den Pflegekassen gibt, die daran offensichtlich kein Interesse haben. Wir müssen dahin kommen, dass auf pflegewissenschaftlichem Know-how basierende Technik konsequent in den Pflegehilfsmittelkatalog aufgenommen wird und dass dafür dann auch zwingend Preise verhandelt werden müssen. Bei den Themen Tele-Nursing und Tele-Care gibt es genau dieselbe Problematik mit den Kostenträgern. Sie haben die durch Corona verbesserten Erstattungsmöglichkeiten der Videosprechstunden in der medizinischen Versorgung angesprochen. In Analogie zur medizinischen Versorgung müssten Pflegedienste, die Infektionsrisiken reduzieren, wenn sie eine monitorgestützte Medikamentengabe anbieten statt mit dem Dienstwagen rauszufahren, genauso honoriert werden. Die Bereitschaft der Kassen dazu ist bisher nicht erkennbar.

Wie könnten wir in diesem Punkt weiterkommen, und was kann die DGQ dazu beitragen?
Theoretisch wissen wir, was wir tun müssen. Das steht alles in der Pflegecharta drin. Wir müssen Menschen aktivieren und die Selbstbestimmung verbessern, wir müssen die Pflegequalität stärken und Pflegebedarf vermeiden. Bei all diesen Punkten können technische Lösungen in unterschiedlichem Maße helfen. Es braucht also Anreize, die Einrichtungen belohnen, wenn sie Pflege vermeiden, Qualität anbieten und die Selbstständigkeit fördern. Die gibt es aber nicht. Eine Pflegeeinrichtung profitiert heute tendenziell davon, wenn der Pflegegrad steigt, weil sie dann mehr Geld erhält, der Aufwand aber nicht in gleichem Maße ansteigt. So lange das so ist, werden wir in der Fläche keine präventiv ausgerichtete Pflegetechnik sehen. Aus meiner Sicht müssen wir die ganze Art und Weise, wie wir Pflege in Deutschland finanzieren, überdenken. Die DGQ kann sich in diese Debatte einbringen. Wir sind grundsätzlich politisch neutral und verstehen uns vor allem als Anwalt der Qualität in der Pflege. Zu dieser Perspektive gehört neben der Systemseite auch die Seite der pflegebedürftigen Menschen, der Patienten und ihrer Angehörigen. Ich bin überzeugt: Wenn wir über Qualität in der Pflege, und insbesondere über Qualität aus der Kundenperspektive reden, dann landen wir ganz zwangsläufig auch bei technologischen Lösungen. Und wenn wir von der Qualität her argumentieren, und nicht eine technologieverliebte Diskussion führen, dann haben wir auch mehr Chancen auf Erfolg.