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mHealth 2030

© Weissblick

Der mHealth-Markt boomt, das ist unbestritten. Aber wohin geht die Reise? Fünf Szenarien zeigen auf, wie das Feld der digitalen Selbst-, Körper- und Gesundheitsvermessung in Deutschland im Jahr 2030 aussehen könnte. Angesichts der rasanten Entwicklung von mobilen Gesundheitsanwendungen stellt sich also die Frage: Welche dieser möglichen Zukünfte wollen wir? Und was müssen wir heute tun, damit die gewünschte Zukunft Wirklichkeit wird?

 

Der Boom des mHealth-Marktes ist kaum zu übersehen. Immer mehr Gesundheits-Apps werden über die großen App-Stores angeboten und heruntergeladen. Und weder in den großen Sportgeschäften noch in den Elektronik-Fachmärkten kommt man an den ausgestellten Fitness-Tracking-Geräten vorbei. Was vor wenigen Jahren noch ein Betätigungsfeld von zumeist als Nerds belächelten oder beargwöhnten Anhängern der aus den USA kommenden Quantified-Self-Bewegung war, ist längst zum Massenmarkt geworden. Heute zählt jedes iPhone die Schritte seines Besitzers, ob dieser das nun Selbstvermessung nennt oder nicht.


Aber wohin führt das alles? Wie sieht die Zukunft der digitalen Selbst-, Körper- und Gesundheitsvermessung aus, und zwar jenseits von prognostizierten ökonomischen Absatzzahlen und geschätzter Marktgröße? Wie sehr wird beispielsweise unser Alltagsleben von den mHealth-Geräten und Gesundheitsdaten durchdrungen sein? Wird das alle betreffen oder nur bestimmte soziale Gruppen? Welche Rahmenbedingungen wird der Gesetzgeber in Deutschland setzen? Wie wird sich die Technik weiterentwickeln, wird sie immer stärker in unseren Körper integriert werden oder eher äußerlich bleiben? Und inwieweit behält der Einzelne die Kontrolle über die Daten, die über seinen Körper, seine Gesundheit und seinen Alltag erhoben werden?


Auf diese Fragen gibt es nicht die eine Antwort. Genauso wenig lässt sich die Zukunft voraussagen. Denn jede der angeführten Fragen lässt sich legitimerweise unterschiedlich beantworten, was wiederum die Einschätzung der anderen angesprochenen Bereiche beeinflusst (wenn sich die Technik so oder so weiterentwickelt, dann bedeutet das für ...). Die Zukunftsforschung arbeitet dementsprechend mit verschiedenen möglichen, also alternativen Zukünften. Für die Erarbeitung solcher Zukünfte hat sie unter anderem die Szenario-Methodik entwickelt. Ein Szenario ist die Darstellung einer möglichen zukünftigen Situation einschließlich der Entwicklungspfade, die zu dieser Situation führen. Es bildet immer nur einen Ausschnitt ab, stellt also kein umfassendes Bild der Zukunft dar. Und wozu soll das gut sein? Szenarien dienen im Allgemeinen der Generierung von Orientierungswissen für alle Akteure im Feld, um gegenwärtiges Handeln zu reflektieren und entsprechend auszurichten.


Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekts („Wissenstransfer 2.0“, Teilprojekt „Quantified Self“) wurde eine Reihe solcher Szenarien für das Feld der digitalen Selbst-, Körper- und Gesundheitsvermessung in Deutschland im Jahr 2030 entwickelt. Entsprechend der Szenario-Methodik geschah dies im Zuge eines Workshops, und zwar mit medizinischen bzw. wissenschaftlichen Expertinnen und Experten auf der einen Seite (Dr. Franz-Joseph ­Bartmann, Bundesärztekammer; Dr. Christopher Grieben, Deutsche Sporthochschule Köln; Dr. Ute von Jan, Medizinische Hochschule Hannover) und führenden Köpfen der deutschen Quantified-Self-Szene auf der anderen Seite (Christian Kleineidam, Michael Reuter, Andreas Schreiber, Florian Schumacher).

 

Zunächst wurden Schlüsselfaktoren identifiziert, von denen angenommen wird, dass sie die zukünftige Entwicklung des Feldes entscheidend prägen. Das sind insbesondere die wissenschaftlich-technologische Entwicklung, die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland, Art und Ausmaß der Kontrollmöglichkeiten des Einzelnen sowie Nutzungsformen und soziale Erwartungen; berücksichtigt wurden auch Potenziale der Wissensgenerierung durch Selbstvermessung. Dann wurde überlegt, wie diese Schlüsselfaktoren im Jahr 2030 genau aussehen könnten, und zwar halbwegs realistisch und plausibel. Schließlich wurden die verschiedenen Ausprägungen der Schlüsselfaktoren so kombiniert, dass sie zu fünf Szenarien verdichtet werden konnten. Sie sind im Folgenden dargestellt. Sprachlich sind sie so verfasst, als befänden wir uns bereits im Jahr 2030.

Szenario 1: Diagnostik und Therapie 2.0 – indikationsvermittelte Nutzung
Der Gesetzgeber hat den rechtlichen Grau-Bereich rund um Gesundheits-Apps stark minimiert. Mittlerweile ist klar geregelt, welche Qualitätsanforderungen die Geräte, Sensorik und Software im Bereich der Selbst-, Körper- und Gesundheitsvermessung erfüllen müssen, ab wann sie einer Zertifizierung und in welchen Fällen einer Zulassung bedürfen.  Dementsprechend hat sich auch eine klare Linie zwischen erstem und zweitem Gesundheitsmarkt herauskristallisiert. Ärzte setzen digitale Vermessungstechnologien zunehmend ein, um die Therapiemaßnahmen an ihren jeweiligen Patienten individuell anzupassen. Verbraucher nutzen die technischen Angebote insbesondere, um ausgewählte Gesundheits-Parameter zu überwachen und bei konkreten Beschwerden eine Erstdiagnose per App zu erhalten.

 

Eine darüber hinausgehende Auswertung und Nutzung der anfallenden Daten hat sich weder beim Einzelnen noch bei institutionellen Akteuren durchgesetzt, teilweise aus rechtlichen Gründen, teilweise aber auch aus mangelndem Nutzungspotenzial bzw. Interesse. Zur Selbst-, Körper- und Gesundheitsvermessung und zu einem entsprechenden Datentransfer kommt es also nur bei medizinischer Indikation bzw. konkretem Bedarf (oder im Rahmen von wissenschaftlichen Studien). Umgekehrt bedeutet dies, dass für viele Menschen eine Vermessung überhaupt kein Thema ist. Die wenigen, die sich auch anlasslos selbst vermessen, stehen in nur losem Austausch untereinander und streben keine Akkumulation ihrer Selbsterkenntnisse an.

Szenario 2: Gesundheitsexpertise 2.0 – selbstbestimmte Nutzung

Die wissenschaftlich-technologische Entwicklung ermöglicht es den Menschen, mittels am Körper getragener Sensorik (Wearables) und vernetzter Geräte in der Wohnung (z.B. Waagen, Licht- und Luftmessgeräte) permanent Daten über bestimmte Körper- und Gesundheitsparameter zu erfassen und auszuwerten. Den Komplexitätsgrad der Rückmeldung kann der Nutzer in der Regel selbst einstellen, von einer bloßen Visualisierung von Datenzusammenhängen bis zu algorithmusgestützten Handlungsaufforderungen. Derartige smarte Vermessungsnetzwerke werden von mehr und mehr Menschen genutzt mit der Folge, dass diese zunehmend eine ihre Gesundheit betreffende Expertise aufbauen, die sowohl nachweisbar positive Effekte auf ihr Gesundheitsverhalten hat als auch in der medizinischen Praxis von Nutzen sein kann und von ärztlicher Seite begrüßt wird. Entsprechend kommt es zunehmend zu einem Wissenstransfer vonseiten der Patienten in die medizinische Praxis.

 

Dabei hat der Gesetzgeber im Laufe der letzten Jahre ein höchstes Maß an Datenschutz umgesetzt und – gerade im internationalen Vergleich – damit indirekt dafür gesorgt, dass in Deutschland viele Anwendungen auf den Markt gekommen sind, die diesem strengen Datenschutz gerecht werden und gleichwohl den Verbrauchern den erwarteten Nutzen bringen. Damit behält der Nutzer weitestgehend die Kontrolle über die gesammelten Körper- und Gesundheitsdaten, die er nur in Ausnahmefällen, und dann ganz gezielt, an Dritte weitergibt. Diese (seine) Daten kommen also in erster Linie ihm selbst zugute, weshalb jeder weitgehend frei von sozialem Erwartungsdruck entscheiden kann, ob und inwieweit er seinen Körper und seine Gesundheit vermisst. Nicht wenige wollen davon nach wie vor nichts wissen und interessieren sich auch ansonsten nicht für ihre Gesundheit.

Szenario 3: Gesundheitssystem 2.0 – indifferente Nutzung
Ob zu Hause, unterwegs oder am Arbeitsplatz: Überall werden durch den Einsatz und die Vernetzung von am Körper getragener Sensorik (Wearables) und smarten Geräten in der Umgebung permanent Daten über den Körper und die Gesundheit der meisten Menschen gesammelt. Analysiert und ausgewertet werden sie an zentralen Stellen, etwa von Krankenkassen, Arbeitgebern, kommunalen Ämtern oder Banken, wo sie auch primär genutzt werden. Die Menschen selbst interessieren sich hingegen kaum für die über sie erhobenen Daten, für das, was sie aussagen und was mit ihnen geschieht, solange sie nur einen ­Vorteil sehen, seien es finanzielle Vergünstigungen oder einen Tag zu­sätzlichen Urlaub. Diejenigen, die dem permanenten Datentransfer ursprünglich mal skeptisch gegenüberstanden, haben es aufgegeben, sich dagegen zu wehren.

 

Zwar hat der Gesetzgeber einige grundsätzliche Dinge geregelt und zum Beispiel das Einholen einer informierten Einwilligung zur Bedingung für die Datensammlung gemacht, ansonsten aber den Anbietern freie Hand für die Ausgestaltung ihrer Produkte gelassen. So sind auch solche erhältlich, die einen hohen Datenschutz gewährleisten, da aber die meisten Menschen dem Thema ohnehin indifferent gegenüberstehen und auch die zentralen Institutionen diesbezüglich wenig Interesse zeigen, werden sie kaum nachgefragt.

Szenario 4: Big Brother 2.0 – fremdbestimmte Nutzung
Der Wert personenbezogener Daten ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Nicht nur die Geschäftsmodelle privatwirtschaftlicher Unternehmen basieren zunehmend auf dem Handel mit solchen Daten, auch öffentliche Institutionen können es sich nicht mehr leisten, auf die Auswertung personenbezogener Daten zu verzichten. Dies betrifft insbesondere körper- und gesundheitsbezogene Daten, die mehr und mehr über im Körper befindliche Sensorik, seien es Implantate oder schluckbare Insideables, erhoben und direkt zur Auswertung an die nutzenden Institutionen transferiert werden. Krankenkassen können auf diese Weise besser kontrollieren, wie gesundheitsbewusst sich die Versicherten im Alltag verhalten und inwiefern sie die individuell abgestimmten Empfehlungen befolgen.

 

Kommunale Ämter können zwecks Verhältnisprävention zielgerichteter gesundheitsförderliche Umweltbedingungen in einzelnen Stadtquartieren schaffen. Und auch Arbeitgeber wollen sicherstellen, dass ihre Arbeitnehmer nicht außerhalb der Arbeitszeit ein gesundheitsschädliches Verhalten an den Tag legen. Mit seiner Liberalisierungspolitik hat der Gesetzgeber eine solche Entwicklung explizit angestrebt, nachdem sich in anderen Ländern schnell sowohl der ökonomische Nutzen für die Volkswirtschaft und die öffentlichen Haushalte als auch die gesundheitsförderlichen Auswirkungen für die Bevölkerung gezeigt haben. Auch die Menschen sehen mehrheitlich den Nutzen, nicht zuletzt für ihre eigene Gesundheit, und sind bereit, dafür die Kontrolle über die sie betreffenden Daten aufzugeben. Teilweise werten sie die Daten zusätzlich selber aus. Das durch den Austausch mit anderen Selbstvermessern produzierte, über den Einzelfall hinausgehende Wissen, stößt allerdings weder in der Wissenschaft noch in der medizinischen Praxis auf Interesse, da dort die ohnehin frei fließenden Daten bevorzugt selbst ausgewertet werden.

Szenario 5: Mensch 2.0 – extensive Nutzung
Mehr noch als in der Vergangenheit wird Gesundheit – ganz im Sinne der Weltgesundheitsorganisation verstanden als Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – in der Gesellschaft als das höchste Gut angesehen, das es zu erstreben, erhalten oder auch zu optimieren gilt. Dass man dafür ein permanentes Monitoring einer Vielzahl von Gesundheitsparametern betreiben, die entsprechende Sensorik zunehmend in den eigenen Körper hinein verlagern (Implantate, Insideables) und mit zusätzlichen Geräten zu Hause vernetzen muss, wird von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Diejenigen, die sich nicht auf diese Weise um ihre Gesundheit kümmern, stoßen in ihrem sozialen Umfeld zunehmend auf Unverständnis, nicht zuletzt, weil sie an vielen gesellschaftlich etablierten Praktiken (z.B. Gesundheitsrankings) nicht teilhaben können.

 

Da der Gesetzgeber relativ klar geregelt hat, unter welchen Bedingungen Krankenkassen, Arbeitgeber, Unternehmen und öffentliche Institutionen die erhobenen Körper- und Gesundheitsdaten nutzen können, diese aber immer und unabänderlich der Person gehören, die sie betreffen, sind mehr und mehr Menschen bereit, ihre Daten freiwillig zur Verfügung zu stellen, sobald es der Gesundheitsförderung oder der Forschung dient. Einige werten die Daten auch selber aus, führen zusätzlich Selbst-Experimente durch und produzieren im Zuge eines systematisierten und koordinierten Austauschs untereinander eine neue Art von Gesundheitswissen, das aufseiten der Wissenschaft und Medizin zunehmend positiv aufgenommen und in die entsprechenden Diskurse transferiert wird.


Fazit
Zur Reflexion eigener Strategien und Aktivitäten der Akteure im Feld können solche Szenarien insofern beitragen, als sie zum Beispiel anregen zu fragen, welches Szenario denn als das wünschenswerteste gelten kann oder soll (für wen?), welches das wahrscheinlichste ist und was das jeweils für die eigenen Anstrengungen bedeutet, die Verwirklichung eines bestimmten Szenarios zu befördern bzw. zu verhindern. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des genannten Workshops schätzten das Szenario 2 „Gesundheitsexpertise 2.0 – selbstbestimmte Nutzung“ mehrheitlich als das sowohl wahrscheinlichste als auch wünschenswerteste Szenario ein. Ein Großteil der beteiligten Selbstvermesser allerdings – der Lead User, wenn man so will – wünschte sich das Eintreten von Szenario 5 „Mensch 2.0 – extensive Nutzung“.

 

Beiden Szenarios gemeinsam ist zum einen eine klare Gesetzgebung und Regulierung des Feldes und zum anderen der Umstand, dass der Einzelne weitgehend die Kontrolle über Art und Ausmaß der Nutzung seiner Körper- und Gesundheitsdaten behält. Dies könnte bereits ein erster Anhaltspunkt für die anzustrebende Weiterentwicklung und zukünftige Ausrichtung des Feldes sein.

 

Autor: Dr. Nils B. Heyen
Projektleiter am Competence Center Neue Technologien des Fraun-hofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe