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Von der Versorgung in die Forschung. Und zurück?

Halbzeit bei der Aufbauphase der Medizininformatik-Initiative. In vier Konsortien arbeiten die Universitätskliniken an der Vernetzung der medizinischen Forschung. Das ist viel Kärrnerarbeit, aber sie ist nötig. Denn am Ende geht es um die Digitalisierung der medizinischen Versorgung in Deutschland.

Viel zu bewegen: Die vier Konsortien der Medizininformatik-Initiative arbeiten am Aufbau der Grundlagen für die Digitalisierung der medizinischen Versorgung in Deutschland. Quelle: © Natalia Liubinetska – stock.adobe.com

Sie heißen SMITH, MIRACUM, HiGHmed und DIFUTURE: Die Namen der vier Konsortien der Medizininformatik-Initiative (MII) gehen mittlerweile auch Nichtinformatikern im Gesundheitswesen einigermaßen flüssig über die Lippen. Das allein ist schon einigermaßen bemerkenswert. Der in der Rückschau sehr clevere Einfall des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), ein großzügig bemessenes Förderprogramm für die Digitalisierung der IT-Infrastrukturen der medizinischen Forschung in Deutschland daran zu koppeln, dass die Universitätskliniken miteinander arbeiten, statt übereinander zu reden, hat aber nicht nur Neologismen produziert. Er hat auch zu einer von vielen in dieser Intensität nicht erwarteten Kooperationsdynamik geführt.


Praktisch alle Universitätsstandorte sind jetzt an Bord

Nie zuvor in der Geschichte der deutschen Hochschulmedizin haben unterschiedliche Universitätskliniken derart eng zusammengearbeitet – und derart umfassend. Mittlerweile hätten sich 33 universitätsmedizinische Standorte der Aufbau- und Vernetzungsphase der MII angeschlossen, sagte TMF-Geschäftsführer Sebastian Semler, dessen Arbeitgeber zusammen mit dem Verband der Universitätsklinika Deutschlands (VUD) und dem Medizinischen Fakultätentag das Nationale Steuerungsgremium der MII bildet. Es soll im Rahmen des sogenannten Begleitprojekts dafür sorgen, dass die vier Konsortien bei wichtigen Entscheidungen einigermaßen auf Linie bleiben: „Wir reden von einer idealerweise bundesweiten Vernetzung und Harmonisierung, und das Begleitprojekt soll genau das orchestrieren“, so Semler.


Tatsächlich hat die MII in Deutschlands Hochschulmedizin mittlerweile praktisch Flächendeckung erreicht. Im September habe sich eine der letzten noch ungebundenen Einrichtungen, die Ruhr-Universität Bochum, dem SMITH-Konsortium angeschlossen, berichtete Prof. Dr. Markus Löffler vom SMITH-Konsortialführer Universität Leipzig. SMITH veranstaltete Mitte September in Berlin den Kongress „New Horizons in Digital Health“, der die Vernetzung des deutschen Gesundheitswesens im Allgemeinen und den Stand bei der MII im Speziellen thematisierte – unter Teilnahme aller vier Konsortien und mit zahlreichen Ministerialrepräsentanten aus Bund und Ländern.


Kerndatensatz ist noch längst nicht fertig
Semler betonte, dass bereits in den ersten Jahren der MII grundlegende, konsortienübergreifende Abstimmungen erreicht wurden, auf die jetzt aufgebaut werden könne. So sei ein Mustertext zur Patienteneinwilligung formuliert und konsentiert worden. Man habe sich auf Eckpunkte zur semantischen Interoperabilität geeinigt und die Inhalte eines Kerndatensatzes definiert, der auf Dauer zu einer wesentlichen Grundlage für die semantische Interoperabilität des deutschen Gesundheitswesens werden soll.


Auch bei der technischen Interoperabilität gebe es Fortschritte, betonte Dr. Danny Ammon vom DIZ am Universitätsklinikum Jena. Das SMITH-Konsortium habe von Anfang an deutlich auf CDA und FHIR gesetzt. Und zumindest FHIR sei mittlerweile auch übergreifend akzeptiert: „Wir haben uns im Rahmen des Nationalen Steuerungsgremiums auch in der Gesamtinitiative auf FHIR verständigt“, so Ammon. Die Nutzung von Webtechnologie, für die FHIR steht, werde Flexibilität bringen und nicht zuletzt mobile Datenszenarien erleichtern.


Das Beispiel des von der AG Interoperabilität der MII entwickelten Kerndatensatzes zeige, dass die vier MII-Konsortien viele Gemeinsamkeiten hätten, betonte Löffler. Der Kerndatensatz illustriert aber auch, wie mühsam das Koordinationsgeschäft in der deutschen Hochschulmedizin weiterhin ist. Denn es handelt sich um Work-in-Progress. Von den sieben Basismodulen sind vier – Diagnosen, Laborbefunde, Prozeduren und die Medikation – sehr weit gediehen. Die Basismodule Demographie, Person und Falldaten sind in Arbeit. Und von den insgesamt 14 Erweiterungsmodulen sollen acht jetzt schrittweise angegangen werden. Mit anderen Worten: Es wurde schon einiges erreicht, aber es ist noch sehr viel mehr zu tun.


Ludewig: „Die Welt wartet nicht“

Ein aktuelles Highlight der sogenannten Aufbauphase der MII, die Ende 2021 mit einem Audit durch internationale Experten endet, sei unter anderem, dass die Abstimmung einer breiten Patienteneinwilligung („Broad Consent“) mit den Landes- und Bundesdatenschutzbehörden fast am Ziel sei, so Semler. Die Betonung liegt auf „fast“, denn in Sack und Tüten ist dieses leidige Thema immer noch nicht. Dr. Gottfried Ludewig, der Leiter der Abteilung Digitalisierung im Bundesgesundheitsministerium, wurde deutlicher: „Die MII versucht seit April 2018 [Pause] seit April 2018 mit 16 Landesdatenschutzbehörden das Thema Einverständniserklärung zu lösen. Jetzt haben wir September 2019. Die Welt wartet nicht auf uns.“


Ein anderes Thema, das derzeit konsortienübergreifend auf der Tagesordnung steht, ist eine gemeinsame Nutzungsordnung inklusive einheitlicher Verträge für Nutzung von und Zugang zu den über die Datenintegrationszentren (DIZ) zur Verfügung gestellten Daten. Es wird außerdem die sogenannte ZARS vorbereitet, die Zentrale Antrags- und Registerstelle oder „One-Stop-Agency“, über deren Online-Portal Wissenschaftler am Ende Datenanfragen stellen und die abgefragten Informationen erhalten sollen. Schließlich werden derzeit im Rahmen ergänzender Fördermodule auch die ersten konsortienübergreifenden Use Cases initiiert. Einer davon ist der sogenannte POLAR Use Case, der sich unter Löfflers Leitung mit den Risiken durch Polypharmazie und Arzneimittelwechselwirkungen befassen soll.


Die Fördermittelgeber sind zufrieden
Neben diesen konsortienübergreifenden Themen treiben die einzelnen Konsortien ihre jeweiligen individuellen Use Cases voran (s. Kasten S. 18). Und es passiert eine Menge an Detailarbeit auf Konsortialebene: „Wir müssen zum Beispiel für die DIZ Treuhandstellen schaffen und Metadatenverzeichnisse anlegen, in denen steht, welche Daten für die Forschung zur Verfügung gestellt werden. Und wir sind sehr intensiv damit beschäftigt, technische Konfigurationen in die Produkte der Industriepartner zu implementieren“, sagte Dr. Thomas Wendt, DIZ-Leiter im Rahmen des SMITH-Konsortium am Universitätsklinikum Leipzig.


Die Bundespolitik jedenfalls ist zufrieden mit der MII und ihren Fortschritten. Eva Nourney, Referatsleiterin im BMBF, betonte, dass die MII mit ihrem Kerndatensatz und den übergreifenden Use Cases schon jetzt konkrete Schritte umsetze, die eigentlich erst für die nächste Förderstufe vorgesehen gewesen seien. Auch auf der Länderebene gibt es Lob. Uwe Paul vom Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitalisierung in Sachsen-Anhalt gab zu, anfangs skeptisch gewesen zu sein: „Ich hatte nicht geglaubt, dass die Kooperation zwischen den einzelnen Konsortien so gut wird, wie sie sich anscheinend entwickelt.“


Sind die Gesundheitsministerien vorbereitet?
Paul erinnerte freilich auch an die große offene Frage, die zur Halbzeit der MII niemand seriös beantworten kann, nämlich die Frage, wie sich das, was die Universitätsklinika im Schulterschluss mit den Forschungsministerien vorantreiben, zu jenen Digitalisierungsbemühungen verhält, die aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) und der gematik gesteuert werden: „Aus Sicht der Wissenschaftsministerien ist es ganz klar, dass wir mit Konsortien wie SMITH neue Strukturen schaffen, die auch die Gesundheitsversorgung betreffen. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob die Gesundheitsministerien das begreifen und darauf vorbereitet sind.“


Für Paul stellt die MII implizit die Frage, wie das Gesundheitssystem in zehn Jahren aussehen soll, und er ist damit nicht allein. Denn das Ziel der MII ist es ja nicht nur, Daten für die inneruniversitäre Forschung zur Verfügung zu stellen. Es geht vielmehr um eine Forschungsinfrastruktur, die es ermöglichen soll, effizient mit longitudinalen, pseudonymisierten Patientendatensätzen zu arbeiten. Das funktioniert nur, wenn die per DIZ zur Verfügung gestellten Datensätze irgendwann sektorübergreifend sind. So weit ist es noch nicht, aber die Weichen werden gestellt. Das SMITH-Konsortium beispielsweise will Anfang 2020 erste Veranstaltungen starten, an denen auch nichtuniversitäre Krankenhäuser und ambulante Versorger teilnehmen: „Wir müssen wissen, worauf wir uns einzurichten haben, wenn es 2022 in die Ausbau- und Erweiterungsphase geht“, so Löffler.


Enter the patient
Die Gretchenfrage ist, wie das genau aussehen wird. Bleiben Versorgung und Forschung getrennte Welten, verknüpft allenfalls über eine eng umschriebene und hoch regulierte Forschungsschnittstelle, über die ambulante Datensätze in den DIZ sehr eingeschränkt für Wissenschaftler verfügbar gemacht werden? Oder wird es einen größeren Wurf geben, bei dem digitale Versorgungs- und Forschungsinfrastrukturen sehr eng verzahnt werden und der Patient umfangreiche Möglichkeiten an die Hand bekommt, seine Datenhoheit auszuüben und enge oder auch breite Einwilligungen für unterschiedliche Arten der medizinischen Forschung zu erteilen?


Erste Antworten auf diese Fragen könnten laufende Gesetzesinitiativen des BMG geben, die nicht nur Details zur Umsetzung von Patientenrechten im Zusammenhang mit den (auf die Versorgung zielenden) elektronischen Patientenakten nach § 291 SGB V regeln sollen, sondern in denen unter anderem auch das Thema Datenspende konkretisiert werden soll. Prof. Dr. Hans Ulrich Prokosch von der Universität Erlangen, Konsortialsprecher des MIRACUM-Konsortiums, hat da schon konkrete Vorstellungen: „Wenn wir irgendwann einen Broad Consent haben, werden wir ein Patientenportal brauchen, das mit den DIZ kooperiert.“ Um dort hinzukommen, müsse im Sinne eines User Centric Design Approach mit Patienten zusammen eine entsprechende Portal-App geschaffen werden.

 

Tatsächlich hat das MIRACUM-Konsortium einen Prototyp für eine solche Patienten-App im Herbst bereits entwickelt: „Mit einer solchen App kann sich der Patient auf dem Smartphone anmelden und Forschungseinwilligungen setzen, künftig vielleicht auch sehen, was mit seinen Daten jeweils gemacht wird“, so Prokosch in Berlin. Derzeit ist das natürlich noch nicht im Echtbetrieb, sondern es funktioniert nur in Simulationsumgebungen. Aber es hilft, sich eine Zukunft vorzustellen, in der tatsächlich der Bürger beziehungsweise Patient – und nicht medizinische Einrichtungen oder irgendwelche Unternehmen – den „Datenhut“ aufhaben. Vielleicht könnte ein Patient eines ­Tages sogar informiert werden, wenn irgendein Wissenschaftler unter Nutzung seiner Daten eine wissenschaftliche Arbeit publiziert. Ist das deutsche Gesundheitswesen reif für so viel Transparenz?