Die Hersteller von Medizintechnik unterliegen vielfältigen regulatorischen Vorgaben, die sich je nach Einsatzzweck und Vertriebsgebiet ihrer Produkte unterscheiden. Anforderungen beispielsweise der FDA (U.S. Food and Drug Administration) oder der EU fließen in das Risikomanagement der Unternehmen ein. Manuelle Prüfprozesse stoßen angesichts dieser Aufgabenflut schnell an ihre Grenzen, auch weil mögliche Risiken im Produktionsprozess oder im Produktlebenszyklus aus der Verkettung einzelner Faktoren resultieren können. Daher ist es notwendig, verborgene Zusammenhänge aufzudecken und deren Abhängigkeiten zu berücksichtigen.
Dabei hilft ein Product Lifecycle Management (PLM), das eine domänenübergreifende Betrachtung aller Phasen des Produktlebenszyklus inklusive dynamischer Planungs- und Prognosemöglichkeiten ermöglicht. So können die in der Unternehmenspraxis häufig getrennt betrachteten Bereiche wie Änderungsmanagement, Regulatory Reporting, Stücklistenmanagement oder Supply Chain Management miteinander verknüpft und Wechselwirkungen analysiert werden, anstatt nur isolierte Silos zu betrachten.
Da mit einer PLM-Lösung alle Informationen und Prozesse – z.B. Zulieferteile, Baugruppen, Dokumente, Anforderungen, Änderungsaufträge, Qualitätsworkflows bis hin zu Recyclingmaßnahmen – über globale Lieferketten hinweg verwaltet und analysiert werden können, ergeben sich gerade für die Medizintechnikbranche zahlreiche Vorteile:
- Transparente und sichere Datenanalyse, da das manuelle Kopieren und Versenden von Daten entfällt. Es gibt nur eine Quelle der Wahrheit (Single Source of Truth).
- Schrittweise und kontinuierliche Produktoptimierung bei gleichzeitiger Qualitätssteigerung, da Unternehmensbereiche wie Entwicklung, Produktion oder Vertrieb einfacher und effektiver auf eine gemeinsame Datenbasis zugreifen und diese für sich nutzen können.
- Rückverfolgbarkeit über den gesamten Lebenszyklus bis hin zum Recycling und damit eine Basis, um auch neue Möglichkeiten der Entsorgung bzw. Kreislaufwirtschaft zu nutzen.
- Leichte Identifizierung einzelner Teile und Baugruppen und Integration in die von der europäischen Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, MDR) vorgeschriebene Produktkennung UDI (Unique Device Identification).
Der Gesetzgeber setzt klare Rahmenbedingungen
Verbesserungen oder Änderungen am Produkt sind über eine zentralisierte Datenverwaltung schneller und effizienter umzusetzen. Diese fortlaufende Optimierung gewinnt zunehmend an Bedeutung, da Vorschriften und Normen regelmäßig aktualisiert werden und sich auf das Qualitätsmanagementsystem (QMS) auswirken. Dafür werden Daten aus der Produktions- und Entwicklungsphase sowie Daten aus der Prozesssteuerung und Marktbeobachtung kontinuierlich verarbeitet, um Probleme oder Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die daraus resultierenden Änderungen müssen dann im Rahmen eines umfassenden Änderungsmanagementprozesses verfolgt werden. Gerade bei komplexen Produkten kann jedoch eine kleine Änderung zu Beginn des Produktionsprozesses eine Ketten-
reaktion auslösen, die sich auf Zusammensetzung, Anwendung, Design, Material, Verpackung, Dokumentation oder Produktionsprozesse auswirkt.
Erschwerend kommt hinzu, dass Medizinprodukte immer komplexer werden und selbst kleinste Komponenten oft mit eigener Software ausgestattet sind. All diese inhärenten Risikoquellen müssen so früh wie möglich identifiziert, analysiert und bestenfalls gelöst werden. Dabei sind nicht nur interne Auditergebnisse zu berücksichtigen, sondern auch Informationen aus anderen Quellen, wie z.B. ein Vorkommnis oder eine Problemmeldung. Im gesamten Risikomanagementprozess ist die Bewertung somit keine isolierte Betrachtung mehr, sondern ein Prozess, der kontinuierlich Inhalte und Daten generiert, die miteinander verknüpft werden müssen – nicht zuletzt im Hinblick auf die regulatorischen Anforderungen der FDA oder der MDR (Medical Device Regulation der EU). Die Zulassungsbehörden verlangen für die Zulassung von Medizinprodukten einen jeweils genau zu dokumentierenden Risikomanagementprozess.
Digitaler Zwilling simuliert, überwacht und optimiert
Wenn die für das Risikomanagement verwendeten Daten aus Produktions-, Lieferanten- und Prozessinformationen kontinuierlich mit Informationen über Nichtkonformitäten, Auditergebnisse, Reklamationen, Korrekturmaßnahmen usw. angereichert werden, können Unternehmen potenzielle Probleme schneller erkennen und ihren Teams Echtzeitinformationen über Qualität und Leistung zur Verfügung stellen. Dadurch wird es möglich, prädiktive Analysen durchzuführen, um Design- oder Prozessfehler im Voraus zu erkennen und zu beheben. Kostspielige Prüfprozesse oder Nacharbeiten können so vermieden werden. Für den Datenpool, den Unternehmen dafür nutzen sollten, gilt: je größer und aktueller, desto besser.
Gerade in Kombination mit dem Internet der Dinge (IoT) ist diese Vernetzung ein wesentlicher Schritt hin zum digitalen Zwilling. Mit diesem digitalen Abbild eines realen Objekts oder Prozesses können Funktionen, Daten und Eigenschaften virtuell simuliert, überwacht und optimiert werden. Dies vereinfacht auch das Risikomanagement, da verschiedene Szenarioanalysen über den gesamten Lebenszyklus digital durchgespielt werden können – inklusive Service im Betrieb oder Rückführung ins Recycling. Bei einfachen Einwegprodukten steht der digitale Zwilling sicherlich nicht ganz oben auf der Prioritätenliste, aber gerade komplexere Produkte mit beispielsweise radioaktiven Inhaltsstoffen bieten sich als Kandidaten für ein digitales Abbild hervorragend an. Eine solide Datenbasis hilft auch bei der Einführung neuer Technologien wie der Künstlichen Intelligenz. KI ist ein wahrer Meister darin, in riesigen Datenmengen Muster zu erkennen, Abweichungen zu finden oder Produktivitätsbremsen zu identifizieren. Mit manuellen Methoden sind diese Auffälligkeiten nicht zu finden. Damit Medizintechnikhersteller dieses Potenzial ihrer Datenbestände nutzen können, um Risiken besser zu verstehen, zu bewerten, zu quantifizieren und letztlich zu minimieren, müssen zunächst isolierte Datensilos vernetzt und ein Informationsaustausch ermöglicht werden.
Was nicht passt, kann nicht passend gemacht werden
Regulatorische Fragen gehören seit jeher zu den schwierigsten Herausforderungen für Medizintechnikhersteller. Der Zulassungsprozess für ein neues Produkt nimmt – je nach Zielmarkt – gern auch Jahre in Anspruch. Vorschriften zu Sicherheit, Patientenversorgung, Benutzerfreundlichkeit etc. stellen jeweils einzelne Hürden dar, die sukzessive abgearbeitet werden. Daher ist es sinnvoll, bei einer PLM-Implementierung in einem Unternehmen auf bewährte Bausteine zurückzugreifen, z. B. auf bestehende ISO-Normen.
Darüber hinaus ist es wichtig, Vorkehrungen für marktspezifische Anforderungen zu treffen. Dies betrifft beispielsweise das digitale US-Zulassungsverfahren eStar. Mit diesem Programm ermöglicht die FDA es Medizinprodukteherstellern, ihre Zulassungsdokumente über ein interaktives PDF einzureichen. Das eStar-Programm ist damit nach dem eCopy/eSubmitter-Programm die nächste Evolutionsstufe der Digitalisierung und beinhaltet eine vorgegebene Struktur der Dokumente selbst bzw. strukturierte Daten.
Damit die eingesetzte PLM-Lösung nicht als Hemmschuh wirkt, sondern eine optimale Zusammenarbeit und Verzahnung ermöglicht, sollte keine generische Lösung, sondern eine speziell auf die MedTech-Branche zugeschnittene Software eingesetzt werden. So können alle Anwender und Arbeitsgruppen – von der Entwicklung über die Produktion bis hin zum Risikomanagement – die für sie notwendigen Funktionen nutzen und gleichzeitig Informationen mit anderen Abteilungen teilen, sodass alle Beteiligten davon profitieren.
Fazit
Digitale Werkzeuge für das Risikomanagement sind unverzichtbar und können, richtig eingesetzt, zu effizienteren Design- und Entwicklungsentscheidungen, zu geringeren Produk-tionskosten, regulatorischen Risiken oder Haftungsrisiken führen. Noch setzen allerdings zu wenige Medizintechnikunternehmen auf eine wirklich integrierte digitale Lösung, die die Analyse strukturierter Qualitäts- und Produktdaten ermöglicht. Doch nur auf dieser Basis wird der konsequente Übergang vom korrektiven zum prädiktiven Risikomanagement möglich. Und: Die digitale Abbildung von Produkten, Dienstleistungen und Sicherheitsrisiken mit Hilfe einer PLM-Lösung bildet auch die Grundlage für aufkommende Technologien und moderne Analysemethoden.