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Medizin |

Denkblockaden lösen, digitale Onkologie machen!

Die Krebsmedizin will ernst machen mit individualisierter Therapie und Patientenzentrierung. Digitale Datenräume sollen dabei helfen.

Bild: © amnaj – stock.adobe.com, 223889524, Stand.-Liz.

Krebs wird in Deutschland noch immer vielfach zu spät diagnostiziert. Krebsprävention spielt bisher keine überragende Rolle. Und je nachdem, welche Krebserkrankung ich habe, wo ich wohne und wie ausgeprägt mein Wille und meine Fähigkeit sind, mich zu informieren und für meine Interessen zu kämpfen, ist das, was ich am Ende an Versorgung(squalität) bekomme, dann doch und immer noch recht unterschiedlich.

 

Viele Patient:innen rennen von Pontius zu Pilatus, bevor sie ein Zentrum gefunden haben, das sich um sie kümmert. Wenn sie es gefunden haben, rennen sie weiter von Pontius zu Pilatus, denn die Möglichkeiten einer dezentralen, digital gestützten, wohnortnahen Versorgung werden regelhaft nicht oder kaum genutzt. Die molekulare Tumordiagnostik und ihre Aufarbeitung in molekularen Tumorboards sind zwar vielerorts implementiert. Aber ob wirklich jeder und jede dazu Zugang erhält, der oder die davon profitieren würde, ist dann doch zweifelhaft – Zahlen dazu gibt es nicht, wir sind ja in Deutschland. Gravierender noch: Der Zugang zu dem, was aus der Diagnostik folgen würde – experimentelle, für die jeweilige Indikation oft nicht zugelassene, molekular gezielte Therapien – ist oft mühsam, ungeregelt, vom Engagement einzelner Ärzt:innen und Patient:innen und dem Wohlwollen einzelner Kostenträger abhängig. Auch im günstigsten Fall dauert es, bis die nötigen Formulare da sind, wo sie sein müssen – Zeit, die viele Krebsbetroffene schlicht nicht haben.

 

Tresordenken überwinden

Um die Krebsversorgung auf die nächste Stufe zu heben, braucht es Forschung und Innovation an vielen Enden. Stichworte, die hier nur am Rande erwähnt sein sollen, lauten systembiologisch inspiriertes Krebsmanagement, „Next-Generation-Prevention“ mit Einbeziehung eines breiten Spektrums an Risikofaktoren von Genom über Einzelzellproteom und Umweltfaktoren bis Verhalten und molekular personalisierte Sequenztherapien. Das ist alles hilfreich, edel und gut, aber am Ende landen wir immer bei der Frage, wie sich diese Visionen konkret in der Versorgung implementieren lassen. Wie können die zahlreichen innovativen Präventions- und Behandlungsansätze, die die Krebsmedizin und die Krebsforschung hervorbringen, einerseits schnell und flächendeckend eingeführt, andererseits solide evaluiert werden?

 

Der Antwortdreiklang lautet Kooperation, Interdisziplinarität, Digitalisierung. Deutschland leidet hier immer noch an Denkblockaden, die dringend gelöst werden müssen. Was haben wir in der Pandemie gejammert, dass unsere medizinischen Datenschätze nicht gehoben würden, dass wir uns auf Länder wie UK und Israel verließen, wenn es um die zeitnahe Analyse von Versorgungsdaten gehe. Aber dieses Gejammer ist scheinheilig, solange es Rahmenbedingungen gibt, die Unternehmen dazu zwingen, Versorgungsdatensätze für die produktbezogene Forschung oder das Training von KI-Algorithmen im Ausland einzukaufen und außerhalb der hiesigen Jurisdiktion auszuwerten, und solange Forschungsgruppenleiter:innen in den Universitäten eifersüchtig über die eigenen Datenschatzkistchen wachen und darin enthaltene Juwelen erst einmal zwei Jahre lang selbst betrachten wollen, bevor sie sie widerwillig auch anderen zugänglich machen.

 

Eine Infrastruktur für Kooperation, Transparenz und Vertrauen

Helfen können digitale Datenräume. Denn sie schaffen Vertrauen durch Transparenz. Wer Daten in einem digitalen Datenraum zugänglich macht, für den es klare Spielregeln gibt, der erfährt, was mit den Daten passiert, der wird nicht negativ überrascht, der wird im besten Fall Kooperationspartner in spannenden Projekten, die anders nie zugänglich gewesen wären. Digitale Datenräume in der Onkologie ermöglichen es in Verbindung mit entsprechenden Apps und validierten Fragebögen auch, von den Patient:innen erhobene Daten zu Outcomes und zum „Versorgungserleben“ zu erheben, sie für die Forschung und für die Qualitätssicherung – Stichwort Benchmarking – auszuwerten und das Ganze ggf. mit Konsequenzen zu hinterlegen, die darauf abzielen, erkannte Defizite zu beseitigen oder das Patientenerleben zu verbessern.

 

Neben dieser Datendimension besitzen digitale Datenräume auch eine Versorgungsdimension, die gerade in der immer komplexer werdenden Onkologie nicht zu unterschätzen ist. Qualitativ hochwertige Krebsversorgung ist Teamsport, die konventionellen und die molekularen Tumorboards illustrieren das. Damit die Mannschaftsleistung stimmt, ist eine gewisse Zentralisierung erforderlich. Nicht umsonst bewegt sich die deutsche Versorgungslandschaft im Bereich Krebs mit den Organzentren, den Nationalen Centren für Tumorerkrankungen (NCT) und den Comprehensive Cancer Centers (CCC) seit Jahren in diese Richtung.

 

Nun ist Zentrenbildung zwar medizinisch geboten. Für Menschen, die im Bayerischen Wald, in der Altmark oder in Schwedt wohnen, ist ein physisches Zentrum aber nicht zwangsläufig besonders attraktiv. Es ist auch gar nicht nötig: Gewebeproben lassen sich dezentral entnehmen, Gespräche können telemedizinisch erfolgen, und für die psychosoziale Betreuung sind Gemeindepfleger:innen oder andere Ansprechpartner:innen vor Ort im Zweifel ohnehin hilfreicher. Was nötig ist, ist ein ausreichend fest gewobenes Netzwerk aller für die Versorgung relevanter Akteur:innen, und eben ein Datenraum, innerhalb dessen sich das Wissen um den aktuellen Stand der Versorgung – „Charité inside“ oder „NCT inside“ – zentrifugal verbreitet, während gleichzeitig die Daten zentripetal zurückgespielt werden, sodass sich am Ende die Versorgung in Schwedt und in Berlin-Mitte nur dadurch unterscheidet, das im einen Fall die Oder in Sichtweite ist und im anderen Fall nicht.

 

How to Datenraum

Die Frage ist: Wie kommen wir zu solchen Datenräumen? Die nötigen Netzwerke sind längst am Entstehen. Die Zentren für Personalisierte Medizin in Baden-Württemberg etwa planen, in Kooperation mit den Kostenträgern Real-World-Evidenz zu genomisch personalisierten Off-Label-Therapien zu generieren und damit den Zugang zu diesen Therapien zu vereinfachen. Das auf dem Kölner Netzwerk Genomische Medizin aufsetzende, nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) hat für den Lungenkrebs Bahnbrechendes geleistet. Ein anderes Beispiel mit stärkerem Fokus auf digitalen Anwendungen wie Telemedizin und patientenseitigem Monitoring der Lebensqualität ist das nordbayerische DigiOnko Projekt im Bereich Brustkrebs.

 

Der Punkt ist aber: Wir müssen diese Projektwelt so langsam verlassen. Wenn wir ernst machen wollen mit der neuen Krebsmedizin, dann dürfen Netzwerke nicht mehr nur dann funktionieren, wenn sich dort Freunde von Freunden von Professoren, selten Professorinnen, versammeln. Es braucht eine selbstverständlich digitale Infrastruktur, die unabhängig vom Engagement Einzelner und von Old-Boy-Netzwerken zur Verfügung steht, und die unabhängig davon funktioniert, ob eine einzelne Einrichtung oder Person gerade Lust hat, mitzumachen oder nicht.

 

Wer darüber länger als nur ein paar Sekunden nachdenkt, der landet bei der Erkenntnis, dass der Weg dorthin nur über Patientenzentrierung führen kann. Es braucht eine Instanz, die eine patientenzentrierte Infrastruktur betreibt, sich um Datensicherheit kümmert und legitime Teilnehmer:innen authentifiziert. Es braucht irgendeine Art von Institution, die relevante Tools zur Verfügung stellen kann und diese pflegt. Denn zu glauben, dass es reicht, irgendwo eine gemeinsam zugängliche Datenbank hinzustellen, dürfte etwas naiv sein. Und es braucht eine Treuhandstelle, die getrennt ist von der Institution, die die Daten zugänglich macht.

 

Und jetzt zu den Patient:innen

Die Treuhandstelle, so trocken der Begriff klingt, ist der Gravitationspunkt digitaler Datenräume. Sie ist die einzig plausible Stelle, an der sich Patientensouveränität materialisieren kann. Die Mehrheit der Patient:innen, die einfach nur medizinisch versorgt werden will, wird ihre Daten für die Versorgung uneingeschränkt freigeben. Die wahrscheinlich immer noch große Zahl an Patient:innen, die zur Forschung und zur Generierung von Real-World-Evidenz durch welche forschende Instanz auch immer beitragen will, legt den Schalter an genau dieser Stelle, der Treuhandstelle, entsprechend um – und warum nicht auf einem Patientenportal mit sicherem Login?

 

Die Minderheit derer, die sehr genau wissen will, was mit ihren Daten an welcher Stelle passiert und die mitbestimmen will, wer damit arbeiten darf und wer nicht, könnte das ebenfalls über ein solches Portal tun. Dass hier auch eine sinnvolle Andockstelle für von den Patient:innen selbst generierte Daten wäre, Stichwort Patient Reported Outcome und Experience Measures, liegt auf der Hand.

 

Für eine solche Vision braucht es flankierende Tätigkeiten an allen Ecken und Enden. Ohne einen standardisierten, baukastenartig nutzbaren, alle oder jedenfalls die meisten krebsrelevanten Datendomänen integrierenden Datensatz wird es nicht gehen. Wer gute Daten will, muss Dokumentationsbürokratie minimieren, sprich Doppeldokumentation vermeiden. Aus demselben Grund braucht es auch eine enge Zusammenarbeit jener, die an Forschung und Real-World-Evidenz interessiert sind mit jenen, die an der Digitalisierung der Versorgung arbeiten. Dass in Deutschland die Digitalisierung des Gesundheitswesens seit bald zwei Jahrzehnten von zwei unterschiedlichen Bundesministerien in herzlicher Konkurrenz parallel vorangetrieben wird, ist schon etwas speziell.

 

Am Ende wird jede und jeder über den eigenen Schatten springen müssen. Digitale Datenräume bieten die Möglichkeit, mit Hilfe transparenter Architekturen Vertrauen zu erzeugen und es unabhängig von persönlichen Netzwerken längerfristig zu erhalten. Wenn das Ziel die patientenzentrierte, personalisierte, präventiv agierende Krebsversorgung in einem lernenden Gesundheitswesen ist, dann wird es ohne solche Datenräume nicht gehen. Dazu muss die Patientensouveränität endlich raus aus den gesundheitspolitischen Sonntagsreden – und rein in die Versorgung. Dahin wo es (manchem) wehtut.

 

 

Dieser Artikel ist eine gekürzte Version eines Essays, der anlässlich des Vision Zero Summit am 20./21. Juni 2022 in Berlin entstand und der in voller Länge beim Verein Vision Zero https://www.vision-zero-oncology.de/media/pdfs/veroeffentlichungen/2022_VZ_Summit_Brosch_eVersion.pdf abrufbar ist. Der hier publizierte Ausschnitt fokussiert auf Digitalisierungsaspekte. Dank für Inspiration geht an Thomas Berlage (Fraunhofer FIT), Ruth Hecker (Aktionsbündnis Patientensicherheit und Universitätsmedizin Essen), Christof von Kalle (Berlin Institute of Health) und Otmar Wiestler (Helmholtz-Gesellschaft).