Es war eine Randnotiz der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Thrombose und Hämostase-Forschung (GTH) Ende Februar, aber eine, die in der Community, die sie betrifft, für viel Aufmerksamkeit gesorgt hat. Die Unternehmen smart medication und florio, die mit „eDiary“ und „HAEMO“ für zwei der im deutschsprachigen Markt insgesamt vier digitalen Hämophilie-Tagebücher verantwortlich zeichnen, treten in eine Kooperation ein.
Am Ende dieser Kooperation wird eine neue Generation des florio Tagebuchs stehen, und das (technisch etwas ältere) smart medication eDiary wird darin aufgegangen sein. „Wir halten das für den einzig sinnvollen Schritt, und die ersten Rückmeldungen aus der Community sind durchweg sehr positiv. Die Hämophilie braucht ein leistungsstarkes, offenes, nicht herstellerexklusives Tagebuch. Der Markt in Deutschland umfasst nur etwa 4000 Patienten und einige wenige Patientinnen. Da macht es viel Sinn, Kräfte zu bündeln“, sagt Dr. Andreas Rösch, Geschäftsführer der smart medication eHealth Solutions GmbH.
Ein (kleiner) Markt entsteht…
Die Geschichte des eDiary von smart medication ist auch die Geschichte von Healthcare-Digitalisierung made in Germany. Die Gründer von smart medication hatten früh erkannt, dass digitale Anwendungen für chronische Erkrankungen und insbesondere auch für chronische seltene Erkrankungen wie die Hämophilie enorm vielversprechend sind. Schon im Jahr 2007 (!!) erhielten die beiden auf Hämophilie spezialisierten Ärzte Dr. Wolfgang Mondorf und Dr. Hartmut Pollmann mit der Idee für eine digitale Tagebuchlösung für die Hämophilie den Innovationspreis der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DG TELEMED). Viele weitere Preise folgten.
In seiner heutigen Version erblickte das eDiary im Jahr 2012 das Licht der Welt, und danach bekam es sowohl von Seiten der Patient:innen als auch von vielen ärztlichen Versorger:innen rasch positive Resonanz. Im Gefolge entwickelte sich so etwas wie ein kleiner Markt für Hämophilie-Tagebücher. Pfizer, ein Anbieter von Blutprodukten, kam mit Haemoassist® 2 auf den Markt. Auch das Unternehmen Takeda (vormals Shire) hat eine App mit den Namen myPKFiT mit Fokus auf die Pharmakokinetik bei der Hämophilietherapie entwickelt. Vierter im Bunde war besagtes Unternehmen florio. Es gehört dem schwedischen Hersteller von Medikamenten (und Blutgerinnungsprodukten) für seltene Erkrankungen SOBI. Von den rund 4000 Patient:innen, die in Deutschland an einer Hämophilie A oder B leiden, nutzen derzeit rund 1500 das smart medication eDiary. Die drei anderen Tagebücher sind zusammen in ähnlichem Umfang verbreitet.
… und sucht eine wirtschaftliche Basis
Als klar war, dass Hämophilie-Tagebücher gebraucht werden und gekommen sind, um zu bleiben, stellte sich für ein kleines, selbständiges, pharmaunabhängiges Unternehmen wie smart medication die Frage einer nachhaltigen Finanzierung. Patient:innen kamen genauso wenig in Frage wie Leistungserbringer:innen, das war relativ rasch klar. Jenseits davon gab es anfangs im Prinzip nur noch zwei Möglichkeiten: Krankenkassen und Hersteller von Blutgerinnungsprodukten. „Wir haben endlose Gespräche mit vielen Krankenkassen geführt, es kam aber nie etwas dabei heraus“, so Dr. David Schmoldt, ebenfalls smart medication Geschäftsführer.
Einer der Punkte, die in dieser Zeit immer wieder diskutiert wurden und der die Skepsis der Krankenkassen wohl mit verursachte, war die Frage, ob Hämophilie-Tagebücher im Zuge einer besseren individuellen Anpassung der Faktorentherapie auch zu einem höheren Faktorenverbrauch führen, die ohnehin teure Therapie damit also noch teurer machen würden. Das Unternehmen smart medication hat in enger Kooperation mit Leistungserbringer:innen im Bereich Hämophilie immer wieder begleitende wissenschaftliche Studien durchgeführt und darin neben anderen Dingen gezeigt, dass diese Sorge übertrieben ist. Dennoch: Eine Krankenkassenfinanzierung kam nie zustande.
Was zustande kam, war ein Sponsoring-Modell, bei dem das smart medication eDiary seine Unabhängigkeit und seinen Open-Community-Ansatz behielt und um einen Verein ergänzt wurde. Dieser hat smart medication in Wissenschaft und Forschung unterstützt, und im Laufe der Jahre zahlreiche wissenschaftliche Publikationen erstellt. „Das Vereinsmodell hat uns sehr gut unterstützt und unsere Unabhängigkeit ermöglicht“, so Rösch. „Es wurde aber im Laufe der Zeit schwieriger, zumal Hersteller teilweise eigene digitale Lösungen entwickelten.“
„Ihr werdet die erste DiGA“
Dann kamen Jens Spahn und das Digitale-Versorgung-Gesetz, das Ende 2019 in Kraft trat. Es führte, neben vielen anderen Neuerungen, die digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) als neuen Leistungsbereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein. Seit Mitte 2020 können Apps und Web-Anwendungen in Deutschland einen Zulassungsprozess beim BfArM durchlaufen, im Rahmen dessen sie nachweisen müssen, dass sie medizinischen oder prozessualen Nutzen bringen, eine Zertifizierung als Medizinprodukt haben und einige weitere Anforderungen erfüllen. Gelingt das, wird die entsprechende Anwendung Teil des DiGA-Verzeichnisses beim BfArM und kann von Ärzt:innen zulasten der GKV verordnet werden.
„Das hat uns damals ehrlich begeistert. Wir haben für uns plötzlich ein nachhaltiges Finanzierungsmodell gesehen, und Apps für seltene Erkrankungen wurden dann auch immer wieder als ideale DiGA-Kandidaten genannt“, erinnert sich Rösch im Gespräch mit E-HEALTH-COM. Tatsächlich war das eDiary von smart medication damals, noch vor dem Start der DiGA, als konkretes Praxisbeispiel für mobile Apps auf einer BfArM-Veranstaltung präsent. Und es gab damals auch den eHealth Kongress in Frankfurt, wo E-HEALTH-COM-Gründer Hans-Peter Bröckerhoff anmerkte, dass das smart medication eDiary ja vielleicht die erste offizielle DiGA werden würde.
Das smart medication eDiary wurde nicht die erste DiGA. Auch nicht die zweite oder dritte. Tatsächlich hat das Unternehmen nie einen Antrag auf Aufnahme ins DiGA-Verzeichnis gestellt. Und es ist damit nicht allein: Von den aktuell 44 gelisteten DiGA kümmert sich keine einzige um eine seltene Erkrankung. Es dominieren häufige bis sehr häufige Erkrankungen, für die es dann oft gleich eine ganze Handvoll DiGA gibt, etwa Depression, chronischer Rückenschmerz und Gelenkleiden, außerdem chronische Erkrankungen, die eine „Selbstzahler-Dimension“ haben wie Adipositas und erektile Dysfunktion.
DiGA für „Seltene“? Funktioniert nicht.
„Unsere anfängliche Begeisterung für die DiGA hat schnell nachgelassen, als klar wurde, welche Anforderungen gestellt werden. Und je mehr wir sehen, wie die GKV bei den DiGA politisch agiert, umso skeptischer werden wir, dass das etwas ist, was für Anwendungen im Bereich seltene Erkrankungen jemals ernsthaft in Frage kommen könnte“, so Rösch. Was Anforderungen angeht, sind die Themen vieldiskutiert, auch hier bei E-HEALTH-COM: Ohne randomisierte Studie ist beim BfArM kaum ein Durchkommen, aber wie viel Sinn es macht, ein Hämophilie-Tagebuch in einer randomisierten Studie zu evaluieren, darüber kann man streiten. Ein kleines Unternehmen ohne finanzkräftige Investoren oder Big Pharma im Hintergrund muss sich darüber Gedanken machen.
Gleiches gilt für das Thema Medizinproduktezertifizierung, wo dank neuer Medical Device Regulation der EU selbst ein Hämophilie-Tagebuch wegen dessen Funktionen im Zusammenhang mit der Faktor-Dosierung in die Medizinprodukteklasse IIa fällt. „Natürlich gehören risikobehaftete Produkte in eine entsprechend hohe Medizinprodukteklasse“, so Schmoldt. „Aber de facto ist das, was mit der MDR jetzt kommt, völlig unabhängig von jeder individuellen Risikobetrachtung. Es wird einfach alles pauschal in Klasse IIa einsortiert.“ Auch hier: Wer einen finanzpotenten Miteigentümer oder Investor im Hintergrund hat, der davon profitiert, dass eine Erkrankung durch eine DiGA stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, für den mögen sich die zunehmend größeren Investitionen in DiGA auch dann lohnen, wenn die Refinanzierung durch die GKV-Erstattung nur grenzwertig ist. Aber ein Unternehmen ohne diesen Hintergrund ist dann irgendwann weg vom Fenster.
Zumal es bei der DiGA-Finanzierung anhaltende Diskussionen um relevante Veränderungen gibt. Preise um 400 bis 500 Euro pro Quartal sind dem GKV-Spitzenverband zu hoch, obwohl er sie selbst mitverhandelt. Der Verband lobbyiert massiv in Richtung Preisgrenzen in der Größenordnung von 200 Euro. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass es einen enormen Unterschied macht, ob eine App für eine Volkskrankheit wie Diabetes oder für eine seltene Erkrankung entwickelt wird. Und es macht natürlich auch einen Unterschied, ob eine App eine zeitlich begrenzte Psychotherapie digital abbildet, oder ob es sich um eine versorgungsbegleitende Anwendung für eine lebenslange Erkrankung handelt. „Selbst wenn wir den Marktanteil bei unserem Tagebuch von 25 % auf 50 % verdoppeln würden, reden wir am Ende nur über 2000 Patientinnen und Patienten. Das ist mit einmalig oder zweimalig 200 Euro schlicht nicht machbar“, so Rösch.
Zukunft der Hämophilie-Anwendungen dürfte gesichert sein
Aber differenzieren ist bei den derzeitigen Diskussionen um die DiGA-Kosten und die DiGA-Regulierung in Deutschland genauso wenig en vogue wie beim Thema Medizinproduktezertifizierung. Und weil das so ist, kommen digitale Anwendungen für seltene Erkrankungen unter die Räder. Ja, es gibt einige digitale therapiebegleitende Anwendungen. Aber funktionieren tun sie nur dort, wo es entweder extrem engagierte Communities gibt oder wo es sich um eine Indikation handelt, die kommerziell so interessant ist, dass im Umfeld der Indikation irgendwo Geld zur Verfügung steht.
Die Hämophilie ist so eine Indikation, weswegen man sich um die Zukunft von Hämophilie-Apps weniger Sorgen machen muss als um Anwendungen bei anderen seltenen Erkrankungen. Schmoldt sieht das auch so: „Die Kooperation, die wir jetzt eingegangen sind, ist für die Anwender:innen optimal. Das Tagebuch wird weiterentwickelt. Wichtige Funktionen und Themen unserer App werden Teil der neuen florio-App. Der Open-Community-Ansatz bleibt erhalten. Es wird weiterhin Add-on-Tools geben, die eine Datennutzung ermöglichen, aber es wird keinen Zugriff durch Pharmaunternehmen geben. Das alles wird für anhaltend hohe Akzeptanz sorgen.“
Auch das Unternehmen smart medication bleibt der Hämophilie erhalten. Es fokussiert sich künftig weniger auf Tagebuchanwendungen, dafür mehr auf versorgungsbegleitende Tools auf Ebene der Leistungserbringer:innen und Hämophilie-Zentren. Aktuell am Start ist eine Anwendung für die Begleitung der Gentherapie bei Hämophilie. Spannend, nur mit DiGA beziehungsweise Patientenanwendungen hat das nichts mehr zu tun.