Matthias Mieves, der für die SPD seit 2021 im Deutschen Bundestag und dort im Ausschuss für Digitales und im Gesundheitsausschuss sitzt, äußerte sich im Rahmen eines von der 10xD Plattform organisierten Kommentierungsfrühstücks. Aktuell werden die parlamentarischen Verhandlungen zum Digital-Gesetz (DigiG) und Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) vorbereitet. Ab November geht es dann in die Lesungen, eine Verabschiedung bis Jahresende wird angestrebt. Stand im Moment sei, dass es eine relativ lange Liste an Punkte gebe, die verbessert werden könnten: „Da geht noch mehr“, so Mieves. Sein persönliches Ziel sei, dass Deutschland bis zum Ende der aktuellen Legislaturperiode bei der rechtlichen Basis mit den europäischen Nachbarländern gleichziehe. Derzeit seien nicht nur die skandinavischen Länder, sondern sei auch Frankreich in einigen Bereichen weiter als Deutschland.
„Datensparsamkeit nicht stoisch praktizieren“
Kritik äußerte der Abgeordnete an der bisherigen Datenschutzpraxis im deutschen Gesundheitswesen: „So wie Datenschutz in Deutschland teilweise betrieben wird, kommt es einer Datennichtnutzung gleich, und das ist meines Erachtens ethisch nicht mehr vertretbar.“ Das Prinzip der Datensparsamkeit habe in Teilen seine Berechtigung. Wenn es aber im Bereich Gesundheit stoisch praktiziert werde, dann sei es nachteilig für die Patient:innen: „Wir müssen die Art und Weise, wie wir Datenschutz machen, weiterentwickeln.“
Mieves stellte sich klar hinter die Pläne, die elektronische Patientenakte (ePA) von der derzeitigen Opt-in- in eine Opt-out-ePA umzuwandeln, auch wenn das nicht das favorisierte Modell des Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit sei. Eine ePA zu beantragen und Dokumente einzustellen, sei derzeit ein Husarenritt, und entsprechend nutze die ePA keiner: „Die ePA ist im Moment faktisch tot und muss zum Leben erweckt werden.“
Plädoyer für digitalisierungsfreundliche Abrechnungsstrukturen
Einen Schwerpunkt der Diskussionen mit Mieves bildeten die Telemedizin sowie die Abrechenbarkeit digitaler Angebote. Die über zweihundert überwiegend virtuell zugeschalteten Teilnehmer:innen des Kommentierungsfrühstücks sprachen sich im Rahmen einer Spontanbefragung zu 94 Prozent dafür aus, mehr Ressourcen in digitale 365/24/7-Angebote zu stecken. Dem stand Mieves prinzipiell aufgeschlossen gegenüber. Er verwies darauf, dass Deutschland mit seinen im Schnitt 18 Präsenzarztbesuchen pro Jahr internationaler Spitzenreiter sei, gegenüber zum Beispiel sieben in Stockholm: Das führe nicht dazu, dass Deutsche gesünder seien und länger lebten, wohl aber dazu, dass Einrichtungen übervoll und Termine oft kaum zu bekommen seien.
Wie machen es andere Länder? Mieves nannte das Beispiel Schweden, wo viele Anliegen über Chats und digitale Self-Services „abgefangen“ werden. Im nächsten Schritt folgt oft eine telefonische Betreuung durch eine Pflegefachkraft, und nur wenn das nicht reicht, kommen die Videoschalte zu Arzt oder Ärztin und danach ggf. der Praxisbesuch in Präsenz ins Spiel. „Die Schweden haben damit hervorragende Erfahrungen gemacht“, so Mieves.
Dass die exzessive Präsenzkultur im deutschen Gesundheitswesen im Kern ein Abrechnungsthema ist, darauf wiesen die beiden Moderatoren des Kommentierungsfrühstücks, Ingo Horak und Thies Eggers, hin. Mieves sieht dieses Problem auch: „Unser Abrechnungssystem setzt Anreize dahingehend, dass Menschen einmal pro Quartal kommen und dass bestimmte Leistungen bevorzugt vor Ort in der Praxis erbracht werden. Ich bin sehr dafür, dieses System zu ändern.“ Ein Gedanke, über den nachzudenken lohne, sei beispielweise, bei Patient:innen, die sich in einer Hausarztpraxis einschreiben, komplette Jahre statt Quartale zu vergüten. Wenn Arzt oder Ärztin dann bestimmte Versorgungskomponenten telemedizinisch erbringen wollen, dann könnten sie das ohne Abschläge einfach tun. „Das wäre völlig in Ordnung für mich“, so Mieves. Die Frage ist natürlich, wer bei solchen oder ähnlichen Modellen den Impuls setzen muss. Ist es eine Sache der Selbstverwaltung? Der Bundespolitik? Der Kostenträger? Das blieb einmal mehr im Vagen.
Telemonitoring verbreitern, G-BA-Rolle überdenken
Was telemedizinische Infrastrukturen und insbesondere auch Telemonitoring angeht, sieht der SPD-Parlamentarier noch Ergänzungsbedarf. Mieves wies darauf hin, dass mit der ersten Überarbeitung des Referentenentwurfs des DigiG bereits Verbesserungen bei den Videosprechstunden gekommen seien. Diese müssen künftig nicht mehr zwingend in den Praxisräumen stattfinden, sondern können von zuhause aus erfolgen. Das soll es für Ärzt:innen attraktiver machen, entsprechende Leistungen auch aktiv anzubieten.
Beim Thema Telemonitoring sprach sich Mieves eindeutig für eine Verbreiterung des Spektrums der Anwendungsszenarien aus. Derzeit gebe es mit der Herzinsuffizienz nur eine einzige abrechenbare Indikation. Hier stellt sich dann zwangsläufig die Frage nach der Rolle des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA): „Der G-BA stößt bei einigen Themen an seine Grenzen“, so Mieves. „Es hat zehn Jahre gedauert, um eine telemedizinische Abrechnungsziffer zu bekommen. So werden wir nicht weitermachen können.“
Mieves betonte, er habe große Zweifel, ob es sinnvoll und praktikabel sei, für jedes einzelne Anwendungsfeld speziell des Chroniker-Telemonitorings eigene Zulassungen anzustreben: Er halte das für unrealistisch, zumal sich die Technologien auch noch mit jedem neuen Innovationszyklus veränderten. Für zielführender hält der Abgeordnete die Zulassung bestimmter „Leistungsblöcke“, die dann auf analogen wie auch digitalen Wegen erbracht werden können.
Plädoyer gegen rein digitale Leistungserbringung
Keine Rückendeckung bekamen die Fans rein telemedizinischer Leistungserbringung. Auch hier diente Mieves wieder Schweden als Beispiel. Dort habe es eine Zeitlang rein telemedizinische Leistungserbringer:innen gegeben. Dies habe dazu geführt, dass sich Versorgung für ein junges, gesundes, urbanes und wohlhabendes Klientel verbesserte, während sich gleichzeitig die Versorgung in ohnehin unterversorgten Regionen bzw. Populationen verschlechterte.
Die Schweden hätten dann nachträglich Restriktionen eingeführt; unter anderem wurden Einrichtungen, die unbegrenzt Telemedizin anbieten wollten, verpflichtet, in den Regionen, in denen sie präsent sind, auch vor Ort Angebote zu machen. Entsprechend hätten die vorher reinen Telemedizinanbieter dann angefangen, Praxen zu eröffnen: „Ich halte das für einen sinnvollen Weg, der in Schweden dann auch zu innovativen Primärversorgungsmodellen geführt hat“, so Mieves.
Noch Klärungsbedarf bei hybriden DiGA und Apotheken
Relativ schwammig blieben die Diskussionen beim Thema hybride DiGA, also DiGA, die keine reinen digitalen Medizinprodukte sind, sondern die auch eine „Leistungserbringerkomponente“ enthalten. Das ist bisher nicht möglich, und das DigiG will das ändern. Was das dann allerdings konkret bedeutet, für die Zulassung, für die Abrechnung, für die Organisation der Versorgung, das bleibt weiterhin etwas unklar.
Was die Zulassung angeht, machte Mieves deutlich, dass der klassische DiGA-Fast-Track aus seiner Sicht ein Zulassungsverfahren ist, das vor allem für niedrige Risikoklassen Sinn mache. Wenn es in Richtung höheres Risiko oder auch – Stichwort hybride DiGA – in Richtung Blended Care gehe, könne die Sache aber anders aussehen: „Das ist noch ein Diskussionspunkt“, so Mieves. Relevanter als das Thema Zulassung dürfte für Erfolg oder Misserfolg hybrider DiGA allerdings einmal mehr das Thema Abrechnung sein: Regelversorgung? Wenn ja, wie? Selektivverträge? Das blieb offen.
Offen blieb auch, wie genau die im DigiG vorgesehene, assistierte Telemedizin in Apotheken ablaufen soll. Mieves sagte, er sehe ergänzende, zum Beispiel telemedizinische Leistungen nicht zuletzt als einen Weg, jenen 20 bis 30 Prozent der Apotheken, die wirtschaftlich in Bedrängnis seien, neue Angebote zu ermöglichen, um so die entsprechenden Standorte zu sichern. Gleichzeitig bringe es aber nichts, wenn pauschal die Vergütungssätze angehoben oder neue Leistungsoptionen geschaffen würden, wenn davon in erster Linie jene Standorte profitierten, die ohnehin schon hoch profitabel seien. Er sei gespannt, was aus dem Thema assistierte Telemedizin in der Versorgung gemacht werde: „Es gibt da noch kein fertiges Konzept in der Schublade.“
Warum geht das nicht flächendeckend?
Mieves Kernbotschaft beim Kommentierungsfrühstück in Berlin war, dass es in den nächsten Wochen noch einmal eine Möglichkeit gibt, in einigen Bereichen substanziell Einfluss auf insbesondere das DigiG zu nehmen. Er selbst sei dafür auf LinkedIn und anderen Kanälen ansprechbar. Um nochmal einen Denkanstoß für die Diskussionen innerhalb des Versorgungssystems zu liefern, hob der SPD-Abgeordnete das Innovationsfondsprojekt Optimla@NRW positiv hervor. Dieses Projekt zielt auf eine bessere ambulante Versorgung der Bewohner:innen von Pflegeheimen ab. Es werden Kanäle geschaffen, über die Pflegekräfte im Heim mittels mobilem Terminal mit zunächst einmal einer/einem speziell ausgebildeten MFA Kontakt aufnehmen. Wenn das nicht reicht, können die jeweiligen Hausärzt:innen telemedizinisch zugeschaltet werden.
Mittlerweile seien bei diesem Projekt rund dreißig Heime angeschlossen, und die Erfahrung zeige, dass das Gros der Probleme auf diesen Wegen gelöst werden können, ohne Vorortbesuch der Ärzt:innen und vor allem auch ohne dass der Rettungsdienst gerufen wird. Mieves hält diese Art der hybriden Versorgung für absolut wegweisend: „Wie kriegen wir das so ins System, dass es flächendeckend angeboten wird? Scheitert das an der Abrechnung? Das kann doch wohl nicht sein.“