Für ihre Fallstudien haben die Forschungsgruppen Sensoren genutzt, die in Kleidungsstücke eingebaut sind und die Körperbewegungen erkrankter Personen während ihres normalen täglichen Lebens registrieren. Algorithmen verarbeiten die von den Sensoren übermittelten Signale in ihrem Gesamtzusammenhang. Dieses neue KI-System ist nicht nur imstande, die für eine neurologische Erkrankung charakteristischen Bewegungsmuster zu identifizieren, die so klein sind, dass sie selbst für erfahrene Neurolog:innen unsichtbar bleiben. Es kann darüber hinaus auch das Krankheitsstadium von Patient:innen ermitteln und in jedem Einzelfall mit hoher Genauigkeit vorhersagen, welchen weiteren Verlauf die Erkrankung ohne therapeutische Eingriffe voraussichtlich nehmen wird. Die sensorgestützten Algorithmen fungieren als digitale Biomarker, die erstmals ein präzises und kontinuierliches Monitoring der Patient:innen ermöglichen. In diagnostischer Hinsicht sind diese Biomarker den etablierten klinischen Verfahren zur Erkennung neurodegenerativer Krankheitsbilder überlegen: Vom Ausbruch einer Erkrankung bis zum Aufspüren charakteristischer Symptome verstreicht nur etwa halb so viel Zeit wie bei der Anwendung traditioneller Methoden.
Die beiden jetzt veröffentlichten Fallstudien zur Friedreich-Ataxie und zur Duchenne-Muskeldystrophie zeigen, dass die zugrunde liegende neue Technologie vom Prinzip her auf alle Erkrankungen anwendbar ist, die Störungen oder Veränderungen des Bewegungsverhaltens verursachen. Vor allem bei Erkrankungen, für die ein schleichender oder sehr wechselhafter Verlauf charakteristisch ist, kann sie wertvolle diagnostische und therapeutische Unterstützung leisten. „Die systematische Verknüpfung von Wearables und Künstlicher Intelligenz versetzt die Medizin erstmals in die Lage, auch für seltene neurodegenerative Krankheiten Therapiekonzepte zu entwickeln, die auf die individuelle körperliche Verfassung der Patient:innen zugeschnitten sind. Nach Beginn einer Therapie können unsere Biomarker dabei helfen, deren Wirksamkeit zu überprüfen und gegebenfalls nötige Anpassungen vorzunehmen“, sagt Prof. Dr. Aldo Faisal. Wichtige Forschungsbeiträge zu der neuen Technologie sind unter seiner Leitung am Imperial College in London in Zusammenarbeit mit weiteren britischen Partnereinrichtungen entstanden. Als Professor für Digital Health an der Universität Bayreuth wird er sie am Standort Kulmbach in einem neuen „Quantitative Living Lab (QLiLa)“ weiterentwickeln, das sich derzeit im Aufbau befindet.
Eine Fallstudie zur Friedreich-Ataxie: Messung der Genaktivität nur aufgrund von Bewegungsdaten
Die nach ihrem Entdecker Nicolaus Friedreich (1825-1882) benannte Friedreich-Ataxie beruht auf einer genetisch bedingten Störung der körpereigenen Produktion des Proteins Frataxin. Diese Erkrankung kann das Nervensystem auf sehr unterschiedliche Weisen schädigen. Die Diagnose wird im Anfangsstadium oft dadurch erschwert, dass gleiche oder ähnliche Symptome auch bei anderen neurologischen Erkrankungen auftreten können. Die neuen Biomarker sind in der Lage, die genetische Steuerung der Frataxin-Produktion im Zeitverlauf zu überwachen. Erstmals kann jetzt die Aktivität von Genen im Menschen nur anhand von Bewegungsdaten, ohne die Entnahme von Blut- oder Gewebeproben, gemessen werden. Dies ermöglicht langfristige Prognosen, zu denen die etablierten klinischen Verfahren nicht in der Lage sind. Den Patient:innen bleiben daher langwierige Untersuchungsreihen erspart, und das Gesundheitssystem wird von den entsprechenden Kosten entlastet. Das neue KI-System ermöglicht damit erstmals die Entwicklung effektiver, auf die einzelnen Patient:innen passgenau zugeschnittener Therapien.
Fallstudie zur Duchenne-Muskeldystrophie: Zeitnahes und präzises Monitoring therapeutischer Maßnahmen
Die Duchenne-Muskeldystrophie wurde erstmals von dem Physiologen Guillaume-Benjamin Duchenne (1806-1875) beschrieben. Es handelt sich um eine genetisch bedingte Muskelerkrankung, die schon im frühen Kindesalter beginnt. Vor allem wegen starker Beeinträchtigungen der Atemfunktion ist die Lebenserwartung der Erkrankten oftmals sehr begrenzt. Den Forscher:innen ist es jetzt gelungen, einen Biomarker – den „KineDMD“ – zu entwickeln, der ein zuverlässiges Gesamtbild von den aktuellen motorischen Fähigkeiten einer erkrankten Person vermittelt. Zeitnah und präzise werden die Wirkungen therapeutischer Maßnahmen erfasst. „Unsere Forschungsergebnisse enthalten zahlreiche Anknüpfungspunkte dafür, diese Technologie auf andere neurodegenerative Erkrankungen, aber auch auf kardiologische und orthopädische Erkrankungen auszuweiten – bis hin zu Schädigungen des Nervensystems, die beispielsweise durch einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt verursacht wurden. Diese zwei Publikationen zeigen, wie weit man kommen kann, wenn Forscherinnen und Forscher aus den Bereichen Künstliche Intelligenz, Ingenieurwissenschaften, Lebenswissenschaften und klinischer Medizin im Team eng zusammenarbeiten“, erklärt Prof. Dr. Aldo Faisal.
Künftige Forschungsarbeiten an der Universität Bayreuth
Das Quantitative Living Lab (QLiLa), das Prof. Faisal in Kulmbach – dem Standort der Fakultät für Lebenswissenschaften der Universität Bayreuth – aufbaut, ist ein weltweit einzigartiges Vorhaben. Der Fokus der Forschungsarbeiten wird sich darauf richten, KI-Methoden für die Lösung gesundheitsrelevanter Fragen einzusetzen und sie dabei zugleich in den Lebensalltag zu integrieren. Dem von Prof. Faisal geleiteten interdisziplinären Team gehören Forscher:innen aus den Ingenieurwissenschaften, der Informatik, den Verhaltens- und den Neurowissenschaften an. Gemeinsames Ziel ist die Analyse menschlicher Verhaltensweisen und die Entwicklung neuer Technologien, die ein langes, gesundes und selbständiges Leben unterstützen. Die Idee des „Living Labs“ – auch „Reallabor“ genannt – überträgt den naturwissenschaftlichen und technischen Labor-Begriff auf einen Ort des täglichen Lebens, konkret auf zwei Wohnungen. Statt Wissenschaft in abstrakten Experimenten im Labor oder im Krankenhaus durchzuführen, sollen Menschen künftig in ihrem täglichen Leben mit digitalen Verfahren untersucht und behandelt werden können.
Quelle: Universität Bayreuth