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MedTech |

Medizinprodukte-Software – Klinische Bewertung und Leistungsbewertung

Ein neuer Leitfaden vermittelt Orientierung. Ulrich M. Gassner und Tobias Schreiegg diskutieren, worauf es in der Praxis ankommt.

Medizinische Software unterliegt in der Regel dem Medizinprodukterecht. Man spricht dann von Medizinprodukte-Software (Medical Device Software, MDSW).  Eine MDSW ist eine Software, die dazu bestimmt ist, allein oder in Kombination, einen der in der Medizinprodukteverordnung (MPVO) [1] bzw. In-vitro-Diagnostika-Verordnung (IVDVO) [2] spezifizierten Zwecke zu erfüllen, und zwar unabhängig davon, ob sie eigenständig ist oder aber ein Medizinprodukt steuert oder beeinflusst. Dementsprechend werden auf Basis der englischsprachigen Abkürzung für den Begriff „Medizinprodukt“ MD MDSW und IVD MDSW unterschieden. Eine IVD MDSW ist z.B. Software, die für die Schätzung des Risikos von Trisomie 21 bei einer Blutanalyse eingesetzt wird [3].

 

Klinische Bewertung und Leistungsbewertung

Ohne eine CE-Kennzeichnung auf medizinprodukterechtlicher Grundlage kann Medizinprodukte-Software nicht vertrieben werden. Außerdem wird sie für den Zugang zum ersten Gesundheitsmarkt benötigt. Auch Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) müssen zertifiziert sein [4]. Ein zentraler Bestandteil des Konformitätsbewertungsverfahrens ist für MD MDSW die klinische Bewertung und für IVD MDSW die Leistungsbewertung.

 

Im Einzelnen wird unter klinischer Bewertung der systematische und geplante Prozess zur kontinuierlichen Generierung, Sammlung, Analyse und Bewertung der klinischen Daten zu einer MD MDSW verstanden, mit dem Sicherheit und Leistung, einschließlich des klinischen Nutzens, der Software bei vom Hersteller vorgesehener Verwendung überprüft wird. Mit der Leistungsbewertung sollen Daten zur Feststellung oder Überprüfung der wissenschaftlichen Validität, der Analyseleistung und gegebenenfalls der klinischen Leistung einer IVD MDSW beurteilt und analysiert werden.

 

Trotz dieser unterschiedlichen Definitionen ähneln Konzept und Ablauf der beiden Bewertungsverfahren einander. Im Kern geht es sowohl bei der klinischen Bewertung als auch bei der Leistungsbewertung um einen ausreichenden klinischen Nachweis. Der Hersteller der MDSW muss klinische Daten und Ergebnisse der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung nachweisen, die in quantitativer und qualitativer Hinsicht ausreichend sind, um qualifiziert urteilen zu können ob die Software sicher ist und den angestrebten klinischen Nutzen bei bestimmungsgemäßer Verwendung erreicht.

 

Neuer MDCG-Leitfaden: Bedeutung und Anwendungsbereich

Zu Ablauf und Inhalt von klinischer Bewertung und Leistungsbewertung bei MDSW enthält die von der Koordinierungsgruppe Medizinprodukte (Medical Device Coordination Group, MDCG) erstellte und am 17.03.2020 veröffentlichte „Guidance on Clinical Evaluation (MDR) / Performance Evaluation (IVDR) of Medical Device Software“ wichtige Empfehlungen und Hinweise. Sie sind zwar nicht rechtsverbindlich, aber für die Praxis von maßgeblicher Bedeutung.

 

Der 21 Seiten umfassende Leitfaden bezieht sich nicht auf MDSWs, die ein anderes Medizinprodukt steuern oder dessen Nutzung beeinflussen. Gegenstand der Leitlinie sind vielmehr nur solche MDSWs, die eine unabhängige Zweckbestimmung aufweisen und die einen unabhängigen klinischen Nutzen realisieren sollen. Das dazu gehören auch z.B. Medical Apps.

Eckpunkte

Der Leitfaden beschreibt Verfahren, wie valide klinische Daten – ein zentraler Teil des klinischen Nachweises – generiert werden. Hierbei sollen drei Komponenten berücksichtigt werden:

(1)    valider klinischer Zusammenhang/wissenschaftliche Validität

(2)    technische oder analytische Leistungsfähigkeit

(3)    klinische Leistungsfähigkeit

 

Valider klinischer Zusammenhang/wissenschaftliche Validität

Bei der ersten Anforderung geht es um den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen einem MDSW-Output und einem klinischen oder physiologischen Zustand. Der Nachweis ist geführt, wenn die MDSW der klinischen Situation, dem Zustand, der Indikation oder dem Parameter entspricht, die in ihrer Zweckbestimmung definiert sind. Dies setzt voraus, dass die wissenschaftliche Validität klinisch anerkannt oder begründet ist. Als Quellen hierfür nennt der Leitfaden z.B.

  • technische Normen
  • Leitlinien wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften
  • Daten aus klinischen Studien (MD MDSWs) bzw. Leistungsstudien (IVD MDSWs)
  • veröffentlichte klinische Daten.

 

Sind solche Daten nicht vorhanden, kann bzw. muss der Hersteller eine Sekundärdatenanalyse oder eine klinische Studie bzw. eine Leistungsstudie durchführen.

 

Technische und analytische Leistungsfähigkeit

Mit dem Parameter der technischen oder analytischen Leistungsfähigkeit soll die technische Erfüllung der grundlegenden und beabsichtigten Leistungskriterien festgestellt werden. Er beantwortet die Frage nach der Fähigkeit einer MDSW, den beabsichtigten technischen bzw. analytischen Output präzise und verlässlich aus den Input-Daten zu generieren. Im Einzelnen sollen hierfür u.a. folgende Eigenschaftennachgewiesen werden:

  • Verfügbarkeit
  • Vertraulichkeit
  • Integrität
  • Zuverlässigkeit
  • Genauigkeit
  • analytische Sensitivität
  • Nachweisgrenze
  • Quantifizierungsgrenze,
  • analytische Spezifizität
  • Linearität
  • Grenzwert(e)
  • Messintervall
  • Verallgemeinerbarkeit
  • erwartete Datenrate oder -qualität
  • Abwesenheit inakzeptabler Cybersicherheitslücken
  • Human Factors Engineering.

 

Klinische Leistungsfähigkeit

Der Nachweis der klinischen Leistungsfähigkeit zielt auf den Realeinsatz der Software. Im Kern geht es hierbei um die Fähigkeit einer MDSW, klinisch relevante Ergebnisse entsprechend dem beabsichtigten Verwendungszweck zu liefern. Die klinische Relevanz des Output einer MDSW äußert sich in einem positiven Einfluss auf die Gesundheit eines Individuums, ausgedrückt in Form messbarer, patientenrelevanter klinischer Ergebnisse, einschließlich der Ergebnisse im Zusammenhang mit der Diagnose, der Risikovorhersage, der Vorhersage von Behandlungsreaktionen oder mit ihren Funktionalität, wie z.B. Screening, Überwachung, Diagnose oder Unterstützung bei der Diagnose von Patienten. Ergänzend oder alternativ kann sich die Leistungsfähigkeit der MDSW auch positiv auf das Patientenmanagement oder die öffentliche Gesundheit auswirken. Der Parameter der klinischen Leistungsfähigkeit spiegelt also auch den beabsichtigten klinischen Nutzen der MDSW wider.

 

Im Einzelnen verfolgt der Leitfaden einen an den Kriterien der Angemessenheit und Anwendbarkeit orientierten Ansatz.  Es hängt vom jeweils intendierten klinische Nutzen ab, welche Nachweise vom Hersteller zu erbringen sind.

 

Fazit

Der MDCG-Leitfaden formuliert auf der Basis teils unterschiedlicher rechtlicher Vorgaben einheitliche Prinzipien und Rahmenbedingungen für MD MDSW und IVD MDSW. Das ist weitgehend gelungen.  Zudem vermittelt er wichtiges Orientierungswissen. Namentlich wird verdeutlicht, wie sehr es darauf ankommt, dass bei jedem Schritt der klinischen Bewertung bzw. Leistungsbewertung quantitativ und qualitativ ausreichende klinische Daten zur Verfügung stehen. Äußerst hilfreich für die Praxis ist schließlich auch Anhang II des Leitfadens, wo sechs Referenzbeispiele dargestellt werden.

 

Literaturangaben:

[1]      Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (ABl. L 117 vom 5.5.2017, S. 1, berichtigt durch Berichtigung ABl. L 117 vom 3.5.2019, S. 9 und Berichtigung ABl. L 334 vom 27.12.2019, S. 165)
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02017R0745-20170505&qid=1584566737720&from=DE

[2]     Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/79/EG und des Beschlusses 2010/227/EU der Kommission (ABl. L 117 vom 5.5.2017, S. 176, berichtigt durch Berichtigung ABl. L 117 vom 3.5.2019, S. 11 und Berichtigung ABl. L 334 vom 27.12.2019, S. 167)
https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02017R0746-20170505&qid=1584566101575&from=DE
 

[3]   MDCG, Guidance on Qualification and classification of software - Regulation (EU) 2017/745 and Regulation (EU) 2017/746, October 2019, MDCG 2019-11
https://ec.europa.eu/docsroom/documents/37581/attachments/1/translations/en/renditions/native

[4]      Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (Digitale-Versorgungs-Gesetz – DVG) vom 09.12.2019, Bundesgesetzblatt vom 18.12.2019, Teil I S. 2562
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=%2F%2F%2A%5B%40attr_id=%27bgbl119s2562.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl119s2562.pdf%27%5D__1579710708804  

[5]   MDCG, Guidance on Clinical Evaluation (MDR) / Performance Evaluation (IVDR) of Medical Device Software, March 2020, MDCG 2020-1
https://ec.europa.eu/docsroom/documents/40323/attachments/1/translations/en/renditions/native

 

 

Text: 

Prof. Dr. Ulrich M. Gassner, Forschungsstelle für Medizinprodukterecht (FMPR), Universität Augsburg;

Tobias Schreiegg, Director Regulatory Affairs, Siemens Healthcare GmbH.