Mit seiner Ankündigung, mit einer eigenen Praxissoftware in den deutschen Markt zu gehen, hat das französische Unternehmen Doctolib einem lange Zeit statischen Markt einen neuen Impuls gegeben. Im Herbst 2025 werde es soweit sein, sagte der Geschäftsführer von Doctolib in Deutschland, Nikolay Kolev, im Gespräch mit E-HEALTH-COM: „Wir fangen an mit Allgemeinmedizin, Pädiatrie und Gynäkologie und wollen das dann in den folgenden Jahren um andere Facharztdisziplinen erweitern.“
Nutzerfreundlichkeit und KI-Unterstützung sind Kernthemen
Die Tests der neuen Software laufen Kolev zufolge auf Hochtouren, die meisten relevanten Zertifizierungen seien bereits erfolgt. Unter andere werde angestrebt, möglichst viele administrative Tätigkeiten mit Hilfe von KI zu automatisieren. So werde es unter anderem einen Sprechstundenassistenten geben, der Arzt-Patienten-Gespräche aufzeichnet und KI-basiert Dokumentationsvorschläge macht. Ein weiteres Feature soll ein KI-basierter Abrechnungsassistent sein.
Auf eine angestrebte Kundenzahl für das erste Jahr wollte sich Kolev gegenüber E-HEALTH-COM nicht festlegen. Ziel sei vielmehr, eine optimale Nutzererfahrung zu bieten. Technisch setzt die Software auf die vor drei Jahren in Frankreich eingeführte Praxis-IT und natürlich auf die Doctolib-Kommunikationsplattform auf, mit der sie eng verzahnt wird. Messen lassen will sich Doctolib am Net Promoter Score (NPS), ein Maß für die Usability von Software-Lösungen. Die französische Praxissoftware erreiche mittlerweile auf der NPS-Skala von minus 100 bis plus 100 einen Score von 60. Viele deutsche Praxis-IT-Lösungen seien demgegenüber teils weit im Negativen, so Kolev.
„Wir wollen Kommunikationskanäle konsolidieren“
Dass die Doctolib-Praxissoftware in der Branche sehr aufmerksam verfolgt wird, liegt nicht zuletzt daran, dass das Unternehmen mit seiner Termin- und Kommunikationsplattform mittlerweile äußerst präsent im ambulanten Gesundheitswesen ist. Rund 25 Millionen Patient:innen seien aktuell registriert, und etwas mehr als 100.000 „Gesundheits-Teams“ bilden die Kundschaft auf Seiten der Arztpraxen und anderer ambulanter medizinischer Einrichtungen. Über die reine Terminbuchung sei man mittlerweile weit hinaus, so Kolev: „Wir wollen Kommunikationskanäle konsolidieren. Hier sind wir unter anderem durch die Patientennachrichten einen großes Stück vorangekommen.“
Teil dieser Konsolidierungsstrategie ist auch ein KI-basierter Telefonassistent, der laut Unternehmen mittlerweile von rund 5000 Gesundheitsfachkräften genutzt wird. Doctolib hat den Telefonassistenten jetzt bei einer Kundenveranstaltung in Berlin vorgestellt und die geplante Weiterentwicklung skizziert. „In Deutschland laufen 60 bis 70 Prozent der Patientenkommunikation von Arztpraxen noch über das Telefon. Das ist völlig anders als in anderen Ländern, und deswegen haben wir den KI-gestützten Telefonassistenten zuerst für Deutschland entwickelt. Frankreich kommt im nächsten Schritt“, so Kolev.
Flexibilisierung durch LLM-Integration geplant
Der Telefonassistent bietet dieselben Features wie die Terminbuchungsplattform bzw. die Patienten-App. Termine können unmittelbar telefonisch vereinbart werden; existierende Kommunikationskanäle zum Patienten wie SMS oder E-Mail werden genutzt bzw., wenn noch nicht vorhanden, von der KI telefonisch erfragt. Anrufe, die die KI nicht bearbeiten kann, landen sowohl als Aufzeichnung als auch inhaltlich zusammengefasst in einem Postfach und können dann abgearbeitet werden. Der administrative Aufwand und die Telefonbelastung würden dadurch stark verringert, betonte Kolev, gleichzeitig löse man das Problem der schlechten telefonischen Erreichbarkeit von Arztpraxen.
Dass der Kontaktkanal Telefon ein Riesenproblem für Arztpraxen ist, wurde bei der Veranstaltung in Berlin deutlich. Praxen berichteten von teils bis zu 1000 Anrufen pro Monat. Ein Arzt erzählte, dass er eine komplette MTA-Stelle für die Telefonie vorsehe und dass diese zu 100 Prozent im Home-Office arbeite, um den Praxisablauf nicht durch ständiges Telefonieren zu stören. Es würden dann nur jene Telefonate durchgestellt, die nicht „remote“ bearbeitet werden können. Eine andere Ärztin berichtete von einer Warteschleifen-Lösung, bei der die Anrufer nach 7 Minuten einfach rausgeworfen werden, wenn es der Praxis bis dahin nicht gelingt, das Telefonat anzunehmen: „Ich mache das nicht gerne, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen“, so die Ärztin.
Technisch liegt dem KI-Telefonassistenten von Doctolib die KI-Plattform des vor einem Jahr übernommenen Unternehmens Aaron.AI zugrunde. Diese arbeitet aktuell noch nicht mit großen Sprachmodellen, doch soll das im nächsten Schritt kommen. Dadurch werde die KI-Telefonie nochmal deutlich flexibler und die Gespräche „echten“ Unterhaltungen ähnlicher, so Kolev. Die KI soll dann zum Beispiel auf Nachfragen der Patient:innen eingehen können und damit auch für jene Menschen zugänglicher werden, die mit strukturierten Telefonassistenten sonst fremdeln.