Nach mehreren Runden und rund einem Jahr Hin und Her gibt es jetzt ein abschließendes Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Hamburg im Rechtsstreit zwischen den beiden Teledermatologie-Platzformen OnlineDoctor und Dermanostic. Es handelt sich um zwei der führender Teledermatologie-Plattformen in Deutschland. Entsprechend viel Aufmerksamkeit gab und gibt es für diesen Konflikt, der auch den auf Health-IT spezialisierten deutschen Anwaltskosmos in zwei Lager gespalten hat.
Nicht unerwartet: Regel 11 beschäftigt die Anwälte
Gegenstand des Streits war die „berüchtigte“ Regel 11 der Europäischen Medizinprodukte-Verordnung (MDR). Dass sich daran zwangsläufig Rechtsstreite entzünden würden, darauf hatten schon im Entstehungsprozess der MDR viele Expert:innen hingewiesen. Spricht nicht gerade für die Formulierung der Regel, aber das ist ein anderes Thema.
Die Regel 11 besagt, dass für „Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden“, eine Medizinproduktezertifizierung Klasse IIa nötig ist. Nach alter Regulierung reichte für viele digitale Medizinprodukte eine Zertifizierung Klasse I. Der Unterschied ist erheblich, weil ab Klasse IIa eine Auditierung durch Benannte Stellen nötig wird, was die Zertifizierung langwierig und teuer macht.
Ping-Pong zwischen Landgericht und Oberlandesgericht
Im Sommer 2023 hatte OnlineDoctor gegen die Konkurrenten von Dermanostic zunächst erfolglos vor dem Landgericht Hamburg und dann erfolgreich vor dem OLG Hamburg eine Einstweiligen Verfügung (EV) erwirkt, da die Dermanostic-Plattform als Medizinprodukt Klasse I im Markt war, obwohl es sich nach damaliger Selbstdarstellung von Dermanostic um eine Plattform handelte, die eine Diagnose unterstützte und ermöglichte und zu Behandlungsentscheidungen führte. Etwas pikant daran war von Anfang an, dass auch die Plattform von OnlineDoctor ein Medizinprodukt Klasse I ist. Das Unternehmen macht für sich aber Übergangsfristen geltend, da es schon vor der neuen MDR im Markt war. Eine IIa-Zertifizierung sei zudem in Arbeit, so OnlineDoctor schon vor einem Jahr. Bisher liegt sie nicht vor.
Der Rechtsstreit zog sich dann hin. Dermanostic legte gegen die EV Widerspruch ein, dem das dann erneut zuständige Landgericht Anfang 2024 stattgab mit der Begründung, dass eine Teledermatologie-Lösung, die lediglich von Patient:innen erstellte Bilder und dazugehörige Anamnesebögen von A nach B transportiere, nicht aber verarbeite, nicht unter die Regel 11 falle und entsprechend keine IIa-Zertifizierung benötige. Das Gegenargumente waren immer die Teleradiologie-Plattformen, die unstrittig IIa-Medizinprodukte sind und dies auch schon waren, bevor sie mit diagnoseunterstützenden KI-Tools aufgerüstet wurden. Hier werden allerdings auch schon an die Befundungsarbeitsplätze „on site“ ganz andere Anforderungen gestellt.
OLG verweist auf eigenständige Leistungen der Software
Der Fall ging, das war auch allen Beteiligten klar, nach dieser Intervention des Landgerichts zurück ans OLG. Und das hat am 20. Juni 2024 seine ursprüngliche Haltung in einem nun abschließenden Urteil, das E-HEALTH-COM vorliegt, bestätigt. Demnach wird Dermanostic
„im Wege der Einstweiligen Verfügung […] verboten, im geschäftlichen Verkehr die Softwareapplikation ‚dermanostic‘ mit der Zweckbestimmung zur ‚asynchronen Untersuchung von Hautveränderungen mittels Aufnahme, Speicherung, Anzeigen und Übermittlung von digitalem Bildmaterial von den betroffenen Hautarealen sowie die Beantwortung eines Anamnesebogens und der Kommunikation (Chat) mit Fachärzten‘ in den Verkehr zu bringen und/oder auf dem Markt bereitstellen zu lassen, solange sie nicht als Medizinprodukt der Klasse IIa, IIb oder III […] zertifiziert ist.“
Die relativ ausführliche Begründung des OLG bringt keine neuen Argumente, sondern fasst das bisher Gesagte nochmals zusammen. Das OLG bezog sich schon bisher und bezieht sich weiterhin wesentlich auf den Wortlaut der Klassifizierungsregel 11 der MDR, der da lautet:
„Software, die dazu bestimmt ist, Informationen zu liefern, die zu Entscheidungen für diagnostische oder therapeutische Zwecke herangezogen werden, gehört zur Klasse IIa.“
Dem Einwand der IIa-Kritiker:innen, wonach eine teldermatologische Plattform-Software quasi nur Transmissionsriemen zwischen Patient:innen und Dermatolog:innen sei und keine Informationen „liefere“, folgt das OLG nicht. Letztlich ging es um die genaue Definition von „liefern“. Vom OLG verwiesen wird – auch das nicht neu – unter anderem auf die interaktiven Patientenfragebögen der bisherigen Dermanostic-Plattform, die die Diagnostik der telebefundenden Hautärzt:innen lenken. Auf dieses und andere Features wurde von dem Düsseldorfer Unternehmen an unterschiedlichen Stellen auch prominent hingewiesen. Darauf hat jetzt auch Sebastian Vorberg, Fachanwalt für Medizinrecht aus Hamburg, auf LinkedIn aufmerksam gemacht, der in dieser Selbstdarstellung einen Hauptfehler von Dermanostic sieht. Er schreibt:
„Überall wurde vollmundig davon berichtet und manifestiert, dass die App dem Arzt bei der Diagnostik dient und relevante Informationen für die Diagnostik liefert. Diese seien auch qualitätsgeprüft und medizinische hochwertig.“
Dermanostic hatte in diesem Zusammenhang unter anderem geltend gemacht, dass der Fragebogen keine eigenständige Leistung der Software sei, sondern von Expert:innen entwickelt wurde. Das ist jenseits aller Selbstdarstellungen und auf diese oder jene Weise kommunizierten Zweckbestimmungen der aus inhaltlicher Sicht entscheidende Punkt. Das OLG grätscht in diese Argumentation hinein:
„Wenn die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang einwendet, dass schließlich ein Expertenteam sich die Fragestellungen überlegt habe, sodass kein Unterschied zu dem Dermatologen vor Ort bestehe, ist dem entgegenzuhalten, dass eine Software immer ein von Menschen hergestelltes Programm ist, […] sodass die Tatsache, dass ein ‚Expertenteam von Hautärzten‘ die Fragen entwickelt bzw. die Programmierung vorgegeben hat, kein taugliches Abgrenzungskriterium sein kann.“
Setzt sich diese Argumentation durch, dann wäre künftig bei medizinischen Plattformen alles, was nicht reine Datenübertragung ist, potenziell problematisch bzw. würde die Forderung nach einer IIa-Zertifizierung nach sich ziehen.
„Dermanostic bleibt online“
Die entscheidende Frage ist jetzt natürlich, wie immer bei solchen Streitfällen, wie es weitergeht. Aus Sicht von OnlineDoctor muss der Konkurrent sein Produkt vom Markt nehmen. Theresa Siverding, Chief Legal Officer bei OnlineDoctor, sieht eine Bedeutung des Urteils über den Einzelfall hinaus: „Das Urteil gibt jetzt Klarheit und eine eindeutige Vorgabe für die asynchrone Teledermatologie. Uns als Team bestätigt das Urteil darin, den hohen Zeitaufwand und die Kosten in die Zertifizierung als Medizinprodukt der Risikoklasse IIa zu investieren.“
Was die grundlegende Bedeutung des Urteils angeht, sieht man das bei Dermanostic durchaus ähnlich. Geschäftsführerin Alice Martin weist unter anderem darauf hin, dass es nun sehr viel aufwändiger für telemedizinische Plattformen werde, strukturierte interaktive Fragebögen zu nutzen. Das habe nicht zuletzt zur Folge, dass die Patientenanamnesen weniger gezielt erfolgen könnten, was letztlich mehr Aufwand für alle Beteiligten – Patient:innen und Ärzt:innen – bedeute.
Was das Thema „Produkt vom Markt nehmen“ angeht, betonte Martin gegenüber E-HEALTH-COM, dass Dermanostic weiterhin online bleibe. In Reaktion auf das Urteil sei die Zweckbestimmung den Vorgaben des OLG entsprechend geändert worden. Die vorgesehene neue Zweckbestimmung ist auf dermanostic.com/medizinprodukt einsehbar. Sie platziert die App als Software zur Verbesserung und Unterstützung von Patentenmanagement und Kommunikation im Rahmen der Teledermatologie.
Ergänzend dazu sei das Produkt an den urteilsrelevanten Stellen und hier insbesondere beim Fragebogen angepasst worden, so Martin. Konkrete Pläne, eine IIa-Zertifizierung in die Wege zu leiten, gebe es aktuell noch nicht. Ausschließen möchte Martin das aber auch nicht. Von einem „Aus“ für Dermanostic, wie das in der Presse teils suggeriert worden sei, könne in jedem Fall keine Rede sein: „Die nutzenden Ärztinnen und Ärzte können in jedem Fall weiterarbeiten.“