E-HEALTH-COM ist das unabhängige Fachmagazin für Gesundheitstelematik, vernetzte Medizintechnik , Telemedizin und Health-IT für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Mehr

Für das ePaper anmelden

Geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein, um sich an der Website anzumelden

Anmelden

Passwort vergessen?

Vernetzung |

"Wir brauchen nachhaltige Strukturen"

Die deutsche Ratspräsidentschaft 2020 steht im Zeichen der SARS-CoV-2-Pandemie. Doch es gibt noch andere Herausforderungen. Wo stehen wir 13 Jahre nach der letzten deutschen EU-Ratspräsidentschaft bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens? Ein Gespräch mit den Geschäftsführern der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG), Dr. Sven-Frederik Balders, und der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF), Sebastian C. Semler.

Dr. Sven-Frederik Balders (l), Geschäftsführer der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung (GVG) und Sebastian C. Semler (r.), Geschäftsführer der Technologie- und Methodenplattform für die vernetzte medizinische Forschung (TMF). Fotos: © GVG (l.), TMF (r.)

GVG und TMF richten im Dezember, gegen Ende der derzeitigen deutschen EU-Ratspräsidentschaft, das Nationale Digital Health Symposium 2020 aus. Anlässlich der letzten Ratspräsidentschaft Deutschlands im Jahr 2007 fand unter Beteiligung von GVG und TMF die Großveranstaltung eHealth week statt. Wenn Sie nun zurückblicken, welche Bilanz ziehen Sie?

Balders: Wir waren als GVG auch schon 2007 immer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle. In dem Jahr hat die Bundesregierung das Thema Digitalisierung zu einem Kernthema gemacht und damit war es auf der Chefetage angekommen. Danach begann das Tal der Tränen. Denn noch bis kurz vor Ausbruch der Pandemie mussten wir feststellen, dass es zu keinem politischen Konsens der Akteure gekommen ist. Dieser Prozess hat nun durch die erneute Ratspräsidentschaft und natürlich die Pandemie an Tempo aufgenommen.


Der Prozess hat Fahrt aufgenommen, aber ist er auch nachhaltig?

Balders: Wir haben in den letzten sechs Monaten mehr umgesetzt als in den vielen Jahren zuvor. Als Beispiel will ich die Einrichtung eines Zentralregisters für Intensivbetten nennen, das wir seit Jahren angemahnt haben. Das sind Entwicklungen, die unumkehrbar sind und wir sind gut beraten, das angenommene Tempo beizubehalten.


Semler
: Ich sehe ebenso die richtigen Ansätze, aber es braucht noch einen längeren Atem. Es wurden etliche Maßnahmen unter Zeitdruck und auf Zeit an Punkten eingeführt, wo es vorher Versäumnisse gab. Das gilt übrigens nicht nur für das Gesundheitswesen. Nun gilt es, die Strukturen so weit aufzubauen, dass wir auch ohne eine Krise die richtige Dynamik entfalten, um dem Anspruch an ein digital vernetztes Gesundheitswesen gerecht zu werden.

Welche Voraussetzungen sind denn notwendig, um das richtige Tempo beizubehalten und wie geht die Politik damit um?

Balders: Es braucht gesetzliche Rahmenbedingungen, Breitbandausbau und eine entsprechende Infrastruktur. Der politische Druck ist gewaltig gestiegen und die Politik zeigt sich bereit, auch Ersatzvornahmen zu machen, wenn die soziale Selbstverwaltung nicht zu einem Konsens findet.


Sie erwähnten es eben – COVID-19 hat viel bewegt, aber auch viele Defizite offengelegt. Welche Lehren ziehen Sie aus der Krise?

Semler: Es ist schön, dass die Telemedizin und die Videosprechstunde möglich gemacht wurden, aber all dies hätten wir natürlich schon zehn Jahre früher genauso haben können. Vorangetrieben wurden aktuell solche Anwendungen, deren Durchführung sich verzögert hatte, die aber technisch bereits möglich waren. Wirklich Neues zu schaffen, dauert. Stichworte sind hier: Genomische Medizin mit individualisierten Therapien, neue Prävention durch systematische Datenanalyse, vertrauenswürdige Lerndatenkörper für Künstliche Intelligenz. Dazu braucht es eine auf Nachhaltigkeit angelegte Strategie.


Eine dieser verzögerten Anwendungen ist die Videosprechstunde. Die wurde jedoch während Corona längst nicht so umfassend genutzt, wie gedacht. Warum?

Balders: Das hat mit der Akzeptanz zu tun. Wir haben in der GVG zum Thema Videokommunikation eine kleine Arbeitsgruppe zusammengetrommelt und befragt. Mit dem Ergebnis, dass die Akzeptanz immer wieder an starren Regeln scheitert. Außerdem müssen wir Strukturen ändern, zum Beispiel was die Finanzierung angeht. Das muss systematisch angegangen und durch Forschung und Versorgung begleitet werden.


Corona hat eine starke Wirkung auf unser Gesundheitssystem gehabt. An welchen Stellen war das besonders zu spüren?

Balders: Eindeutige Konsequenzen der Krise sind die gesteigerte Akzeptanz und der Veränderungswille. Die Anforderung an die Akteure, Veränderungen mitzugehen, ist viel stärker geworden, zumal man in nächster Zeit wird darlegen müssen, dass gewisse Versorgungsstrukturen nicht mehr adäquat aufrechtzuerhalten sind, wenn wir digitale Elemente nicht in die Versorgung einbringen.


Was müsste als Nächstes passieren, damit das möglichst schnell passiert?

Balders: Die Akteure müssen mit Blick auf ihre Einzelinteressen ihre Zustimmung geben. Es müssen an Versorgungssektorengrenzen analoge politische Kompromisse gefunden werden, damit sie in der digitalen Praxis tragfähig sind. Diese können wir in der GVG nicht herstellen, aber wir können eine Grundlage für schnelle politische Einigungsprozesse schaffen.


Kommen wir noch einmal zur Ratspräsidentschaft. COVID-19 hat einiges des ursprünglich anvisierten digitalen Schwerpunkts überlagert. Es bleibt aber bei dem Ziel, einen European Health Data Space zu bilden. Wie relevant ist das schon für Forschung und Versorgung bzw. was erhoffen Sie sich davon?

Semler: Dabei geht es um die Frage, wie dieser die Zusammenführung und gemeinsame Nutzung von Daten mit dem Ziel, Krankheiten besser zu erkennen, zu erforschen und zu bekämpfen, möglich machen kann. Es geht also einerseits um die Datenlage, andererseits um die Durchgängigkeit von Infrastrukturen über bestehende rechtliche, nationale Unterschiede hinweg. Vor diesem Hintergrund sehe ich an dieser Stelle eher eine Föderation nationaler Datenhalter. Die TMF unterstützt bereits die Arbeit an einem in der DSGVO vorgesehenen Code of Conduct, der beispielsweise für europaweite Rechtssicherheit sorgen könnte, ebenso die für einen European Health Data Space notwendige europäische Standardisierungsinitiative x-eHealth.


Balders: Bei der Programmplanung des „Nationalen Digital Health Symposium 2020“ haben wir bewusst solche Themen jenseits von Corona aufgenommen, für die wir uns jetzt Zeit nehmen sollten.

Die deutsche Gesundheitsforschung vernetzt sich bereits seit Jahren digital, zum Beispiel über die Medizininformatik-Initiative. Wie hat sich das in diesen Zeiten bezahlt gemacht?

Semler: Die Bundesregierung hat schon vor der Krise viele wichtige Dinge angeschoben, das gilt auch für das Bundesforschungsministerium mit der Gründung der Medizininformatik-Initiative, die wiederum die richtige Infrastrukturweichenstellung vorgenommen hat. Es wäre falsch, nur darauf zu schauen, was man in kurzer Zeit mit viel Geld machen kann, denn das ist nicht nachhaltig. Wir brauchen Investitionen in nachhaltige Strukturen.

Haben Sie ein Beispiel?

Semler: Auf dem universitätsweiten Netzwerk, das die Medizininformatik-Initiative (MII) gespannt hat, werden nun weitere Projekte aufgesetzt. Die Arbeiten und Strukturen des an der Charité koordinierten Nationalen Forschungsnetzwerks der Universitätsmedizin zu COVID-19 setzen direkt auf den Vorarbeiten und Strukturen der MII auf. Dies gilt insbesondere für die zentrale Forschungsdatenplattform, die von der MII für das Netzwerk aufgebaut wird. Der Kerndatensatz der Medizininformatik-Initiative wird nicht nur im Rahmen einer Kooperation mit der KBV abgeglichen mit der Definition der Inhalte der ePA, für welche die KBV verantwortlich ist. Auf Basis dieser Kooperation unter Einbindung der Standardisierungsorganisationen wie HL7 war er quasi die Mutter für den abgestimmten GECCO-Datensatz, der jetzt für COVID-19 benutzt wird. Dies mündet nun in weiteren Abstimmungs- und Standardisierungsinitiativen wie z.B. COCOS. Wir sehen: All dies ist möglich, weil über der Medizininformatik-Initiative Grundsatzfragen geklärt und harmonisierter Infrastrukturaufbau angeschoben werden konnten.

In der Vergangenheit wurde das Forschungsdatenzentrum in Bezug auf den Datenschutz kritisiert und auch die erste Version der ePA hat Gegenwind vom Bundesdatenschutzbeauftragten erfahren. Es gibt Datenschützer, die öffentlich geäußert haben, dass sie ihre Daten nicht der Forschung spenden würden. Wie sehen Sie die Rolle der Datenschützer?
Balders: Es ist das Credo aller GVG-Mitglieder, dass der Datenschutz an oberster Stelle steht, aber letztlich auch nicht als „Totschlagargument“ instrumentalisiert werden soll. Man kann ihn achten und ihm gleichzeitig gerecht werden. Unser stellvertretender Vereinsvorsitzender Prof. Dr. Gregor Thüsing ist zugleich im Vorstand der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit vertreten. Er hat ein Auge darauf, dass Datenschutz nicht zu einem politischen Argument wird, sondern auf der Sachebene behandelt werden muss. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder einen intensiven Dialog mit den Datenschutzämtern sowohl der Länder als auch des Bundes geführt. Ohne den Datenschutz läuft nichts, allerdings darf er ein Weiterkommen auch nicht verhindern.


Semler: Man muss das auf drei Ebenen betrachten. Erstens ist der Datenschutz grundsätzlich etwas Positives. Gerade in der einwilligungsbasierten Forschung leben wir davon, dass es Datensicherheit gibt. Ohne sie gäbe es keine Akzeptanz für die Forschungsdatennutzung. Wenn man sich aber darin verfängt, aus dem Datenschutz ein rein politisches Argument zu machen, läuft etwas falsch. Insofern ist es zweitens auch für die TMF wichtig, den Dialog zu führen. Seit 2001 tut sie das für den Bereich der medizinischen Forschung mit allen Datenschutzbehörden in den Arbeitskreisen Wissenschaft und Gesundheit. Im Rahmen dieses formalisierten Abstimmungsverfahrens werden generische Datenschutzkonzepte fortgeschrieben, die von allen Datenschutzaufsichtsbehörden deutschlandweit anerkannt werden und somit Rechtssicherheit verschaffen. Auf dieser Basis konnten wir so erstmalig einen DSGVO-basierten Broad Consent für die Medizininformatik-Initiative abstimmen, der nun sukzessive bundesweit zum Einsatz kommt. Auch hier noch einmal ein Blick auf COVID-19: Das plötzliche Auftreten und die sich schnell verändernden Fragestellungen zu diesem Krankheitsbild, von der viralen Pneumonie zu einer Multiorganerkrankung, illus­trieren den Bedarf, schnell und breit an Versorgungsdaten für solche akuten Forschungszwecke heranzukommen. Die Regelung des neuen § 287a SGB V zu einer federführenden Datenschutzaufsicht für länderübergreifende Forschung wird diesen Prozess weiter stärken und beschleunigen. Hier hat sich also seit der letzten Ratspräsidentschaft am meisten verändert: Es ist politisch angekommen und wird, auch durch Corona, zunehmend öffentlich akzeptiert, dass die E-Health-Infrastrukturen dringend auch die Forschung unterstützen müssen.


Und was ist die dritte Ebene?
Semler: Die dritte Ebene, von der man Datenschutz betrachten muss, ist die Tatsache, dass die Konzepte, wie wir einwilligungsbasierte Forschung durchführen, eigentlich überholt sind. Wenn Sie heute über alle denkbaren Risiken der Nutzung klinischer Daten oder Bioproben informieren und auch technische Datenverarbeitungsprozesse erklären wollen, wie es die gesetzlichen und behördlichen Anforderungen ergeben, landen Sie bei einem Mehrseiter, den keiner mehr lesen möchte und in Teilen auch nicht mehr versteht. Diesen geben Sie dann irgendwo im Versorgungskontext – vielleicht bei der Patientenaufnahme oder in der Arztpraxis – dem Patienten, in einem Moment, in dem dieser ganz andere Sorgen hat. Wir müssen an dieser Stelle also überlegen, ob wir nicht manches Dogma – gemeinsam mit den Patienten – neu denken und auch andere Strukturen zur Wahrnehmung der  Patientenautonomie schaffen müssen. Dazu gibt es z.B. ein von der TMF koordiniertes Expertengutachten für das BMG im Sinne „Datenspende neu gedacht“, in dem wir verschiedene Fragen aufwerfen. Zum Beispiel, dass eine Opt-out-Lösung im Sinne der Patienten ethisch wie auch rechtlich mitnichten schlechter wäre als eine Opt-in-Lösung. Bei Patienten gibt es eine große Bereitschaft, sich über solche Ideen ernsthaft und ergebnisoffen zu unterhalten, wenn am Ende ihre Möglichkeiten der Information und Partizipation verbessert werden.