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Corona-Krise: Fallen alle rechtlichen Hürden?

Die Corona-Krise könnte sich zum Booster für die Digitalisierung des Gesundheitswesens entwickeln. Ein Kommentar von Sebastian Vorberg.

Auf einen Schlag entwickelt sich das vor kurzem noch geheiligte Fernbehandlungsverbot in ein Fernbehandlungsgebot und auch in eine Fernbehandlungsnot. Es ist sicherlich gerade nicht die richtige Zeit, um dem deutschen Gesundheitswesen gekränkt die Versäumnisse von vor ein paar Tagen vorzuwerfen. Einigen wir uns einfach darauf, dass jetzt alles ganz schnell gehen muss und dass jetzt alle auf einen Schlag die Argumente für eine digital unterstützte Gesundheitsversorgung verstehen und mittragen.

 

Noch vor ein paar Tagen galt das Digitale Versorgung-Gesetz (DVG) als ein großer Paradigmenwechsel. Fernbehandlung, digitale Gesundheitsanwendungen und elektronische Patientenakte wurden vom Gesundheitsminister mit teilweise als empörend empfundener Geschwindigkeit durch die Gesetzgebung gejagt. Dennoch bewegte sich die Branche nur sehr schwerfällig weg vom geheiligten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt. Datenschutz, „Ja-aber-Mentalität“ oder einfach eine umfassende digitale Inkompetenz der Branche hielten noch einen Fuß auf der Bremse.

 

 

Digitalisierung rettet die Medizin vor dem Kollaps

Und jetzt? Ganz plötzlich ist der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt ein Problem. Der durch die Corona-Krise verursachte Behandlungsnotstand betrifft nicht nur die Intensivkapazitäten, sondern auch alle sonstigen Bereiche der Medizin, die bisher auf persönlichen Patientenkontakt ausgerichtet waren. Hinzu kommt die Bevölkerungsperspektive. Das bisher über alles und ohne Abwägungen der Verhältnismäßigkeit geheiligte, allgemeine Persönlichkeitsrecht in Gestalt des Datenschutzes soll ganz plötzlich der notwendigen Nachverfolgbarkeit der infektiösen Patienten kompromisslos weichen. Digitale Aufklärung und Diagnosehilfen retten die ärztliche Praxis vor dem Kollaps und müssen dafür sorgen Ignoranz, Panik und Fehleinschätzungen der Bevölkerung vorzubeugen. Die Disziplin und die mündige Besonnenheit wird zum relevantesten Faktor für die Volksgesundheit.

 

Betroffen sind alle Bereiche im Gesundheitswesen. Auch für Therapieformen wie die Physiotherapie ist es nun sofort notwendig, die Möglichkeiten der digitalen Unterstützung von Behandlungen und die Fernbehandlung so weit wie nur irgendwie möglich zuzulassen und die Strukturen hierfür zu schaffen. Jedem wird in Zeiten der Corona-Krise klar:

 

  • Wir brauchen umfassende Fernbehandlung in der Medizin und zwar sofort.
  • Wir brauchen qualitative digitale Aufklärung und Diagnoseunterstützung für alle medizinischen Fragen.
  • Wir müssen so viel Medizin wie möglich zu den Patienten nach Hause bringen.
  • Der Patient muss in die medizinische Verantwortung für sich und andere genommen werden.

 

Kurz gesagt: Wir brauchen die umfassende Digitalisierung in der Medizin und die weitgehendste digitale und praxisunabhängige Patientenkommunikation. Sofort!

 

Die Perspektive dreht sich, nicht der Gesetzestext

Aber halt! Wir haben in Deutschland eines der am strengsten regulierten Gesundheitssysteme der Welt. Können wir da einfach unsere Meinung ändern und auf einmal ist alles, was vorher als problematisch oder sogar unrecht galt, auf einen Schlag zulässig und bedenkenfrei? Auch das kann hier abgekürzt werden. Das gesamte Medizinrecht und alle Regularien in der deutschen Medizin bleiben auch in der Corona-Krise in Kraft, sofern nicht unmittelbar die Maßnahmen des kollektiven Infektionsschutzes betroffen sind oder durch Ausnahmegesetze jetzt akut geändert werden. Medizinprodukterecht, Arzneimittelrecht, ärztliches Berufsrecht, Arzthaftungsrecht, Sozialrecht, Datenschutzrecht, Heilmittelwerberecht und Kassenrecht existieren unverändert und sind während der Krise ebenso zu berücksichtigen wie zuvor und danach. Dennoch ändert sich gerade etwas sehr viel Wesentliches: Die Perspektive auf die geltenden Regularien dreht sich teilweise um 180 Grad.

 

Vor kurzem wurde die Krankmeldung über eine App oder per Telefon noch äußerst kritisch diskutiert. Das kürzlich erst gelockerte Fernbehandlungsverbot stand noch unter der hartnäckig verteidigten Bedingung des Einzelfalls. Eine Diskussion über die Ortung von Patienten über Mobilfunkgeräte wäre noch vor ein paar Wochen reflexartig und kompromisslos als inhaltlich absurd in allen denkbaren Lebenslagen abgestraft worden. Die Reflexe und auch die Kompromissbereitschaft in diesen und anderen Fragen haben sich über Nacht geändert. Dieser Perspektivenwechsel betrifft alle systemrelevanten Entscheider, Leistungserbringer und sogar die gesamte Bevölkerung.

 

Corona-Krise wird den Strukturwandel nachhaltig vorantreiben

Im Ergebnis wird die Corona-Krise das Recht nicht aus den Angeln heben. Gesetzlich wird fast alles beim Alten bleiben. Aber die Anwendung der Regelungen wird sich wegen der Veränderung der Perspektive weitreichend verändern. Recht ist eben kein starres, kompromissloses Konstrukt. Für Ausnahmen, Härtefälle und besondere Interessen muss immer Platz bleiben. Dieser Platz wird nun in der Corona-Krise voll ausgeschöpft, um der derzeitigen Situation gerecht zu werden.

 

Als Ausblick lässt sich erkennen, dass die neu gewonnenen Perspektiven nach der Corona-Krise nicht wieder einfach so verschwinden werden. Die Corona-Krise treibt die überfälligen Strukturen und das Verständnis für die Mittel der körperlosen, digitalen Medizin jetzt so massiv voran, dass eine wohlwollende Betrachtung auf Dauer gewährleistet sein wird. Als langfristige Veränderung wird eine überfällige Öffnung der rechtlichen Diskussionen hin zur digitalen Medizin und zur Fernbehandlung verbleiben.

 

Autor:

Sebastian Vorberg, LL.M. (Houston)

Fachanwalt für Medizinrecht – Vorberg.Law

Vorstandssprecher Bundesverband Internetmedizin e.V.