Wenn die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen ein Erfolg werden soll, brauchen wir ein neues Gleichgewicht von Datennutzung und Datenschutz – und viel mehr Verständnis für die verborgenen Potenziale, die in Gesundheitsdaten schlummern.
Die COVID-19-Pandemie zeigt uns seit über einem Jahr, womit Deutschland seine Unfähigkeit bezahlt, Gesundheitsdaten schnell und gezielt auszuwerten. In einer dynamischen Situation, in der es auf einen schnellen Zugriff auf feingranulare Daten zu Infektionen, Labortests, Kontakten, Impfungen und Begleiterkrankungen ankommt, kosten Verzögerungen und eine Begrenzung der Datenverwertung am Ende Leben oder zumindest Gesundheit. Es ist in Deutschland im Moment nicht möglich, Versorgungsdaten zeitnah für die Forschung oder zum Beispiel für das Pandemiemanagement auszuwerten – auch dann nicht, wenn Patient:innen das ausdrücklich wünschen. Sie können die eigenen Gesundheitsdaten nicht unkompliziert digital zur Verfügung stellen.
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Sinne einer Verweigerung der Datenfreigabe von Bürger:innen wird in Deutschland oft hochgehalten. Das informationelle Selbstbestimmungsrecht von Patient:innen dagegen, mit ihren Daten etwas Sinnvolles zu tun, wird oft mit Füßen getreten. Bis ich als Patient in der Lage bin, mit meinen digitalen Gesundheitsdaten meinen Wunsch auf Auswertung als informationelle Selbstbestimmung auszuüben, wurden mir so viele Knüppel zwischen die Beine geworfen, dass ich aufgebe, bevor die Daten irgendwo ankommen.
Wir sollten aufhören, uns diese Asymmetrie als Datenschutz schönzureden. Informationelle Selbstbestimmung heißt nicht nur das Recht auf Nichtverwendung von Daten. Für Menschen, die an einer Erkrankung leiden oder – zum Beispiel in der Pandemie – von einer Erkrankung bedroht sind, bedeutet informationelle Selbstbestimmung in erster Linie eine sinnvolle Verwendung ihrer Daten zum Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit. Datenschutz ist immer auch eine Güterabwägung mit anderen Grundrechten.
Informationelle Selbstbestimmung bedeutet auch, die Möglichkeit zu haben, seine Daten für die Forschung zur Verfügung zu stellen, damit vielleicht andere künftig profitieren. Die einzelne Datenspende hilft der Forschung aber nur bedingt: Um sinnvolle Aussagen über die Versorgung treffen zu können, sind viele Datensätze nötig, und es muss eine gewisse Vollständigkeit gewährleistet sein. Der Sachverständigenrat Gesundheit regt in seinem neuen Gutachten deswegen an, bei der elektronischen Patientenakte über ein Opt-out-Verfahren statt eines Opt-in-Verfahrens nachzudenken und das „Recht auf Löschen“ im Kontext der ePA zugunsten eines „Rechts auf Verschatten“ zu überdenken, damit Datensätze, mit denen geforscht werden soll, die nötige Vollständigkeit behalten.
Vielleicht sollten wir sogar bestimmte Versorgungsdaten festlegen, die – pseudonymisiert unter Einhaltung aller Datenschutzprinzipien – ohne Zustimmung forschend ausgewertet werden dürfen, ähnlich wie das bei Abrechnungsdaten ja auch geschieht. Die europäische Datenschutz-Grundverordnung gibt dafür durchaus Spielräume. Wir alle profitieren von einem solidarischen System der Versorgung. Hier gäbe es die Möglichkeit, auch solidarisch und legal für Verbesserungen in Diagnostik und Therapie zu sorgen.
Letztlich benötigen wir eine neue Ethik für Gesundheitsdaten. Persönliche medizinische Daten sind die schützenswertesten Daten, die wir haben. Aber unsere Risikowahrnehmung ist geradezu grotesk blind gegenüber anderen Werten. Die COVID-19-Pandemie hat das für jeden sichtbar gemacht. Eine Ethik des Datenschutzes bedeutet auch eine Ethik der Datennutzung, im individuellen Interesse, aber – zumal in einem solidarisch finanzierten Gesundheitswesen – auch im kollektiven Interesse. Daten teilen heißt besser heilen. Das geht auch, ohne dem Missbrauch Tür und Tor zu öffnen.
Autor:
Prof. Dr. Christof von Kalle
ist Chair für klinische und translationale Wissenschaft am Berlin Institute of Health (BIH) und Gründungsdirektor des klinischen Studienzentrums von BIH und Charité – Universitätsmedizin Berlin. Er ist außerdem Mitglied des von der Bundesregierung bestellten Sachverständigenrats Gesundheit und als solcher Mitautor des neuen Gutachtens „Digitalisierung für Gesundheit – Ziele und Rahmen-bedingungen eines dynamisch lernenden Gesundheitssystems“.