Obwohl der Typ-2-Diabetes aufgrund einer falschen Ernährung ausgelöst wird, erhält nur ein Bruchteil der neu Diagnostizierten eine Ernährungsschulung – und wenn, dann sind es meist Schulungsprogramme, die schon in die Jahre gekommen sind. Umso unverständlicher ist, dass der Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) das telemedizinische Lebensstilintervention TeLIPro trotz positiver Studiendaten nicht in die Regelversorgung überführen will.
TeLIPro ist ein Programm, das in einer telemedizinischen, randomisiert-kontrollierten, deutschlandweiten Studie evaluiert und in Diabetes Care publiziert wurde (Diabetes Care 2017; 40(7):863-71). Wesentliche Bestandteile sind der initiale kurzzeitige Einsatz von flüssigem Mahlzeitenersatz, gefolgt von kohlenhydratarmer Diät – der evidenzbasierte Standard für die Ernährungstherapie bei Typ-2-Diabetes. Zusätzlich umfasst TeLIPro eine strukturierte Glukoseselbstkontrolle und individuelles Coaching. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe kam es zu einer signifikanten Reduktion des HbA1c-Wertes von 0,8% und einer Gewichtsabnahme von 8 kg. Weiterhin konnten Diabetesmedikamente abgesetzt, die mittlere Insulindosis halbiert werden.
Dieses Programm wurde anschließend durch den G-BA Innovationsfonds ebenfalls mit einem randomisiert-kontrollierten Design erneut evaluiert. Leider wurde der wissenschaftlich belegte Ansatz der Nutzung eines flüssigen Mahlzeitenersatzes bei der Antragstellung gestrichen. Unabhängig davon hat die Studie ebenfalls signifikante Effekte auf den HbA1c und andere Parameter gezeigt und wurde 2023 erfolgreich publiziert (Nutrients 2023; 15(18):3954).
Andere Maßstäbe als an Medikamente
Diese Ergebnisse werden in dem Beschluss des Innovationsausschusses des G-BA auch bestätigt. Die Ablehnung basiert primär darauf, dass die Signifikanz sechs Monate nach Beendigung des Programms nicht mehr nachweisbar war. Auch wird angeführt, dass aufgrund der fehlenden Verblindung die randomisiert-kontrollierte Studie ein hohes Verzerrungspotenzial aufweise.
In Anbetracht der gesundheitspolitischen Dimension der steigenden Zahlen an Personen mit Typ-2-Diabetes ist diese Ablehnung völlig unverständlich. Das Argument der fehlenden Verblindung bei einer Lebensstil-Interventionsstudie ist absurd: Soll etwa ein Placebo-Coaching mit nicht zielführenden Gesundheitsempfehlungen gegeben werden? In der Tat wurde der Interventionseffekt sogar maskiert, da in der Kontrollgruppe durch die Übersendung von Waage und Schrittzähler sowie Zugang zu einem Online-Portal interveniert wurde. Denn wie soll man Patienten motivieren, an einem solchen Programm teilzunehmen, wenn man nicht eine unterschwellige Intervention auch der Kontrollgruppe anbietet?
Hinsichtlich des Argumentes, dass das Programm keine langfristige Veränderung der wesentlichen Parameter erreiche, stellt sich die Frage, warum solche Forderungen bei Medikamenten nicht gestellt werden. Der primäre Endpunkt in der Studie wurde erreicht, und der Therapieeffekt in der Nachbeobachtung blieb stabil, nur die Signifikanz ging verloren. Auch die innovativen und teuren Medikamente zeigen Wirksamkeit nur bei einer dauerhaften Therapie!
G-BA sendet deutliches Signal
Warum werden in Deutschland DiGA durch die Krankenkassen finanziert, die erst im Nachhinein in einfachen Beobachtungsstudien zeigen müssen, dass sie erfolgreich sind? Warum werden weiterhin Typ-2-Diabetes-Schulungsprogramme mit Fettreduktion und Erhöhung von Kohlenhydraten finanziert, für die es nach den neuesten Analysen keine wissenschaftliche Evidenz gibt? Auch das Disease-Management-Programm Typ-2-Diabetes wurde ohne jegliche wissenschaftliche Evaluation eingeführt und bis heute streitet sich die Wissenschaft, ob es irgendeinen klinischen Effekt gibt. Warum gibt man einem neuen Programm wie TeLIPro nicht eine Chance?
Durch die Ablehnung des G-BA wird ein deutliches gesundheitspolitisches Signal gesendet: Lebensstil-interventionen sind in Deutschland nicht gewünscht sind – man überlässt das Feld der Diabetestherapie lieber der Pharmaindustrie. Und der Lebensmittelindustrie kommt man bei der Vermarktung von fettreduzierten Produkten auch nicht in die Quere.
Autor:
Prof. Dr. med. Stephan Martin
ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf. Der Kommentar ist eine gekürzte Version eines offenen Briefs, den Martin an den G-BA Vorsitzenden Josef Hecken geschrieben hat und der in Langfassung in der Ärzte Zeitung veröffentlicht wurde.
Link zum Offenen Brief:
https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Herr-Professor-Hecken-sind-bei-Typ-2-Diabetes-Lebensstil-Interventionen-nicht-gewuenscht-449356.html