Sie sollten das Gesundheitswesen in der Digitalisierung richtig voranbringen und Deutschland im internationalen Vergleich nach vorne katapultieren – an die DiGA wurden viele Hoffnungen geknüpft, die sich bisher nicht durchgängig bestätigt haben. Nach einer ersten Einführung der „Apps auf Rezept“ mit niedrigen Risikoklassen ist die Zertifizierung von solchen mit der Risikoklasse IIb seit dem 26. März 2024 möglich. Kommt jetzt der große Umschwung?
Neue Chancen für DiGA
DiGA der niedrigen Risikoklassen liefern Informationen, die für Entscheidungen hinsichtlich Diagnostik und Therapie verwendet werden können, wohingegen Klasse-IIb-Produkte tatsächliche Therapieleistungen durchführen, die sowohl zur Besserung als auch potenziell zur Schädigung von Patient:innen führen können. Expert:innen versprechen sich vor allem für die Behandlung schwerwiegender Krankheiten wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen Benefits. Weil aber die potenziell negativen Auswirkungen der DiGA stärkere Auswirkungen als die der niedrigeren Risikoklassen haben, ist bei den DiGA IIb eine vorläufige Aufnahme in die BfArM-Liste nicht erlaubt.
Die Produkte haben demnach sofort alle Anforderungen zu erfüllen. Auf den Webseiten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) heißt es dazu: „Wie auch in den bisherigen Antragsverfahren zu Medizinprodukten der Risikoklasse I und IIa ist die durchgeführte Konformitätsbewertung gemäß der Verordnung (EU) 2017/745 (MDR) die zwingende Voraussetzung für eine Antragsstellung mit einem Medizinprodukt der Risikoklasse IIb. Das Konformitätsbewertungsverfahren stellt sicher, dass Patientensicherheit und Leistungsfähigkeit gewährleistet sind. Im Falle von Risikoklasse IIa und IIb ist das Verfahren umfangreicher, da eine Benannte Stelle einbezogen werden muss. Das Verfahren muss zum Zeitpunkt der Antragstellung vollständig abgeschlossen sein. Die Anwendung muss regelhaft in den Verkehr gebracht worden sein.“
Das wird für einige Anbieter, von denen die meisten Start-ups sind, zum Problem werden, denn die kostspieligen, aber notwendigen Studien für den Nachweis der positiven Versorgungseffekte haben viele Anbieter bei den DiGA der niedrigeren Risikoklassen u. a. über die freie Preisgestaltung finanziert. Dem wurde nun ein Riegel vorgeschoben. Für die Start-ups heißt das, sie müssen Investoren finden, die bereit sind, mehr Kapital locker zu machen und somit ein höheres finanzielles Risiko einzugehen, denn die Amortisierung der Kosten ist keine sichere Bank.
Innovation oder Hemmnis
Bislang wurde noch keine DiGA der Klasse IIb in das BfArM-Verzeichnis aufgenommen. Neben den Herausforderungen, die mit der Entwicklung und Markteinführung solcher Produkte verbunden sind, sieht Markus A. Dahlem, VP Science Click Therapeutics der Click Therapeutics/USA, das Problem, dass Anbieter bisher alles getan haben, um eine Höherklassifizierung ihrer DiGA zu vermeiden. „Da diese zuvor von der Aufnahme ausgeschlossen waren, gab es in diese Richtung auch wenig bis keine Innovationen, einfach, weil es kein Geschäftsmodell gibt. Das hemmt Innovation, weil es sich für Hersteller schlicht nicht lohnt, Produkte in den Markt zu bringen“, erläutert er.
Ein Auszug aus dem DiGA-Leitfaden zeigt auf, wie eng die Grenzen zwischen den Risikoklassen sein können: „Des Weiteren gilt zu beachten, dass es sich z. B. bei den kontinuierlichen Blutzuckermessgeräten in der Regel um Medizinprodukte der Risikoklasse IIb handelt. Wenn diese in Kombination mit einer DiGA vertrieben werden sollen, entspricht die Risikoklasse der Kombination nicht mehr der Definition einer DiGA, welche gemäß § 33a SGB V lediglich Medizinprodukte der Risikoklasse I oder IIa einschließt.“ Vor der Einführung von Klasse IIb gab es immer das Risiko, dass bestimmte Funktionen oder Features einer App zur Einstufung als Klasse IIb führen könnten. Bestand allein die Vermutung, dass dies passieren könnte, sahen Hersteller in der Vergangenheit in solchen Fällen lieber davon ab, die Features in die Apps einzubringen, um das Geschäftsmodell nicht zu gefährden.
Zwar ist nun der Weg in die Höherklassifizierung frei, doch so manchen Anbieter treibt die Frage nach der Kosten-Nutzen-Rechnung weiter um. Dahlem gibt darüber hinaus zu bedenken: „Die Hersteller haben die Erfahrung gemacht, dass bei den jetzt schon im Markt befindlichen DiGA die Kritik vonseiten der Kostenträger laut wurde, dass die DiGA überteuert sind und im Verhältnis nicht so viel bringen.“ Das dürfte bei kommenden Apps nicht anders werden. Wenn nun die Kostenträger weiter daran arbeiten, die Preisgestaltung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, schrumpft die Gewinnspanne für Anbieter.
Fragt man beim BfArM nach dem aktuellen Stand in Sachen DiGA IIb, will man zwar keine Angaben dazu machen, ob in nächster Zeit mit der ersten DiGA IIb zu rechnen ist, aber man äußert sich grundsätzlich zuversichtlich. Pressesprecher Maik Pommer erklärt, dass bisher noch keine Anwendungen dieser höheren Klassen im Verzeichnis gelistet sind, weil sich die Hersteller noch an die neuen Anforderungen anpassen müssen. Er weist darauf hin, dass die Beratung durch das Innovationsbüro eine wichtige Rolle spiele, denn es gebe zahlreiche Anbieter, die noch keine Erfahrung mit den regulatorischen Anforderungen haben. Die Zulassungsverfahren der niedrigeren Risikoklassen hätten in der Vergangenheit jedoch gezeigt, dass Hersteller, die die Beratung in Anspruch nehmen, in der Folge auch höhere Aussichten auf eine Listung ihrer DiGA haben, weil sie sich einen besseren Überblick über die Anforderungen verschaffen konnten. Pommer zeigt sich zuversichtlich, dass nach einer anfänglichen Vorlaufphase die ersten Anwendungen der höheren Risikoklassen gelistet werden. „Das Interesse der Hersteller ist groß“, sagt Pommer.
TI-Anbindung an die ePA macht Fortschritte
Der § 341 SGB V verpflichtet DiGA-Hersteller dazu, zu gewährleisten, dass DiGA-Daten künftig (freiwillig, auf Wunsch der Patient:innen) direkt in die elektronische Patientenakte (ePA) übermittelt werden können. Die auf übergewichtige und adipöse Patient:innen zielende App Oviva ist eine der ersten DiGA, die diesen Weg geht. Die App, ein Medizinprodukt Klasse IIa, ermöglicht den Nutzer:innen, Informationen wie Mahlzeiten, körperliche Aktivität und Gewicht aufzu-zeichnen. Sie erlaubt zudem den Dialog mit dem Behandlungsteam per Chat und stellt hilfreiche Lerninhalte bereit. Für die TI-Anbindung von Oviva hat der Hersteller mit dem Unternehmen RISE zusammengearbeitet. Erster Schritt waren Tests in der Referenz-umgebung der gematik. Seit Juli ist die App jetzt an die Produktivumgebung der Tele-matikinfrastruktur angeschlossen. Damit können Nutzer:innen in Zukunft – im Rahmen der neuen ePA für alle – Daten aus der App direkt in die ePA übertragen und auf diese Weise den behandelnden Ärztinnen und Ärzten zugänglich machen.
Schlechtere Bedingungen für kleine Start-ups
Als längst überfälligen Schritt bezeichnet Philip Kopf, Associated Partner bei QuR.digital und Mitglied des Bundesverbands Internetmedizin e. V. (BiM), die Einführung der Klasse IIb für DiGA. Er sieht vor allem für etablierte Anbieter nun die Chance, einen Schritt weiter gehen zu können, ohne einen besonderen Mehraufwand betreiben zu müssen. „Die Anforderungen für die Zertifizierung sind praktisch dieselben wie für Klasse IIa, weshalb es unverständlich war, dass Klasse IIb ursprünglich ausgeschlossen wurde. Hersteller können nun mit ihren Produkten in einen neuen Bereich vorstoßen, der vorher nicht zugänglich war.“ Ursprünglich waren DiGA auch als Vehikel gedacht, um Innovationen auf den Markt zu bringen und diese finanziell zu unterstützen. Doch inzwischen tun sich einige Schattenseiten auf: Die Einführung der Anwendungen bringt hohe regulatorische und finanzielle Belastungen mit sich, die vor allem kleine Start-ups ausbremsen, kritisiert Kopf. Diesen bleibt oft nichts anderes übrig, als sich an große, finanzkräftige Unternehmen zu wenden, um eine DiGA auf den Markt zu bringen. Das allerdings macht die Start-ups abhängig und hemmt einen diversifizierten Markt. Um den Innovationsprozess zu fördern, wäre es nach Kopfs Ansicht wünschenswert, Wege zu finden, um die regulatorischen Hürden zu verringern und kleineren Unternehmen mehr Unterstützung zu bieten.
Und wie steht die Ärzteschaft zu den neuen Risikoklassen? Bisher gab es von Standesvertreter:innen vor allem Kritik. In einem Schreiben an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aus dem letzten Jahr warnten Bundesärztekammer (BÄK), Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), GKV-Spitzenverband, Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) sowie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vor einer Einbeziehung von Medizinprodukten der Risikoklasse IIb in das DiGA-Verfahren. Sie äußerten die Befürchtung, dass die aktuellen regulatorischen Anforderungen nicht ausreichen, um die Sicherheit und Wirksamkeit der Anwendungen zu gewährleisten. „Es handelt sich hierbei um Interventionen, die Teil des ärztlich verantworteten diagnostisch-therapeutischen Prozesses sind. Diese Produkte sind somit Bestandteil einer ärztlichen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode mit weitreichenden medizinischen Konsequenzen“, mahnten die Organisationen in ihrem Schreiben.
Herausforderung Nachweis des Versorgungsnutzens
Lebensstil-Apps haben es bisher schwer, eine dauerhafte DiGA-Listung zu bekommen. Der Nachweis des positiven Versorgungs-effekts ist herausfordernd. Die für Typ-2-Diabetes entwickelte App glucura, ein Medizinprodukt Klasse I, ist bisher vorläufig im DiGA-Verzeichnis gelistet. Sie hat jetzt eine neue, randomisierte Studie gestartet, die Daten für eine dauerhafte Listung liefern soll. Die App ergänzt spezifisch die Versorgung im Disease-Management-Programm Typ-2-Diabetes. Die Anwendung startet mit einer zweiwöchigen Echtzeitbeobachtung des Blutzuckers mittels rtCGM-Sensor und gibt dann ein KI-basiertes, individuelles Mahlzeiten-Blutzucker-Feedback. Ziel ist eine Optimierung der Blutzuckereinstellung. Die randomisierte Studie, die derzeit läuft, ist auf 180 Tage angelegt.
Patient:innen könnten gefährdet werden, wenn höhere Risikoklassen nicht streng genug überprüft werden, so die Standesvertreter:innen weiter. Zudem befürchtete man, dass es zu einer Verwässerung der Qualitätsstandards kommen könnte, da die bisherigen Anforderungen für niedrigere Risikoklassen nicht ausreichen. Aus diesem Grund forderten die Verfasser:innen des Briefes eine strengere Überprüfung und klare Regelungen für die DiGA IIb. Ohne die Einbindung der Heilberufler:innen wird es aber nicht gehen. Schon die DiGA der niedrigeren Risikoklassen sind bei Ärzt:innen nicht genug bekannt und/oder werden nur zögerlich verschrieben. Hier sehen Vertreter:innen aus der Industrie neben den oft als zu langwierig und bürokratisch empfundenen derzeitigen Regulierungsverfahren die größten Hürden für die Etablierung tragfähiger Geschäftsmodelle.
Fazit
Dass DiGA IIb ein großes Potenzial zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung bieten, stellen die wenigsten infrage, doch insgesamt ist die Einführung von DiGA der Risikoklasse IIb nicht nur eine Frage der regulatorischen Rahmenbedingungen, sondern auch der wirtschaftlichen und technologischen Machbarkeit. Es bleibt also abzuwarten, wie sich dieser Bereich weiterentwickeln wird und ob die Hersteller bereit sind, die damit verbundenen Risiken und Kosten auf sich zu nehmen. Langfristig Leidtragende der aktuellen Lage könnten vor allem kleine Start-ups sein, die nicht über die nötigen Ressourcen verfügen, um den oft lange und steinigen Weg der Zertifizierung durchzuhalten. In der Folge könnten sich viele entscheiden, ihre Produkte lieber auf dem internationalen Markt anzubieten, etwa in den USA, wo für solche Produkte attraktivere Marktbedingungen geschaffen wurden – daran kann jedoch niemand ein Interesse haben.