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Digitale Antibiotika

Auch ohne COVID-19 sollte eine optimale Hygiene für medizinische Einrichtungen ein Top-Thema sein. Denn Krankenhausinfektionen sind eine stete Gefahr für die Patienten. Nicht nur hygienebewusstes Verhalten, auch IT-Lösungen können Risiken verringern.

Quelle: © aleksandarfilip – stock.adobe.com

Wie wichtig nosokomiale Infektionen sind, muss der pflegepolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, Kordula Schulz-Asche, niemand erklären. Die ehemalige Krankenschwester und Entwicklungshelferin kennt medizinische Einrichtungen nicht nur von außen: „Wir gehen davon aus, dass es allein in Deutschland rund 20 000 Todesfälle durch nosokomiale Infektionen gibt und dass wir europaweit pro Jahr fast neun Millionen solcher Infektionen haben. Das ist ein Riesenproblem.“


Bessere Hygienekonzepte für ambulante Pflege und Pflegeheime

Schulz-Asche nahm aus Anlass des Tags der Patientensicherheit 2020 an einem virtuellen Roundtable-Gespräch teil, das der Medizintechnikverband BVMed veranstaltet hatte. Diskutiert wurde – ganz unabhängig von der Pandemiesituation –, welche Hebel es gibt, um die Krankenhaushygiene zu verbessern und nosokomiale Infektionen zu reduzieren. Klar ist: Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung alleine reichen nicht. „Der Zeitbedarf spielt gerade beim Pflegepersonal eine zentrale Rolle, wenn es um die Umsetzung von Infektionsschutzmaßnahmen geht“, so Schulz-Asche. Hygiene habe eben nicht nur mit persönlichem Verhalten, sondern auch mit Fachkräftemangel zu tun.


Es seien aber nicht nur die Rahmenbedingungen, so Schulz-Asche. Gerade in der ambulanten Pflege würden Schutzmaßnahmen in der Praxis oft nicht so konsequent genutzt, wie das eigentlich wünschenswert wäre. Und auch die Frage, wie Angehörige so angelernt werden können, dass sie einen größeren Beitrag zur Patientensicherheit leisten, müsse mehr diskutiert werden. Ähnlich viel Handlungsbedarf sieht die Politikerin auf der Ebene der Pflegeheime: Hier habe die COVID-19-Pandemie jedem deutlich gezeigt, dass es häufig an der Umsetzung ganz normaler und eigentlich selbstverständlicher Hygienemaßnahmen mangele. Bessere Hygiene hätte möglicherweise auch das eine oder andere Besuchsverbot überflüssig gemacht: „Ich halte die absoluten Besuchsverbote für einen großen Fehler. Bei weiteren Wellen und überhaupt in Zukunft brauchen wir dringend Besuchskonzepte, die Hygiene und Infektionsschutz ohne totale Isolation sicherstellen.“


Desinfektionsverhalten über-wachen, Keimübertragungen verhindern

Dass nicht nur individuelles Verhalten und politisches Engagement, sondern auch technische und nicht zuletzt digitale Hilfsmittel dazu beitragen könne, die Hygiene in medizinischen Einrichtungen und damit die Patientensicherheit zu verbessern, darauf wies Delia Strunz vom Fachbereich Nosokomiale Infektionen des BVMed hin. Als Verband verfolge man das Ziel, innerhalb der nächsten fünf Jahre zumindest eine von fünf nosokomialen Infektionen zu vermeiden. Das sei nicht nur aus Sicht der Patientensicherheit ein Imperativ, sondern auch aus Versorgungssicht geboten: „Jede verhinderte nosokomiale Infektion sorgt für ein freies Bett.“


Wie eine technische Maßnahme zur Verbesserung der Hygiene und zur Verringerung nosokomialer Infektionen konkret aussehen kann, verdeutlicht das Beispiel von GWA Hygiene. Das Unternehmen hat mit NosoEx einen digitalen Assistenten für die Krankenhaushygiene entwickelt. Die Lösung zielt auf eine Optimierung der Händedesinfektion: Sensormodule im Desinfektionsmittelspender registrieren, wenn der Spender genutzt wird. Optional kann per Mitarbeitertransponder auch die Berufsgruppenzuordnung an einen Daten-Hub übermittelt werden. Auf dieser Basis werden detaillierte Auswertungen des Desinfektionsverhaltens erstellt, die der Krankenhaushygiene oder den Chefärzten Hinweise darüber geben, wo Handlungsbedarf ist.


Eine Lösung wie diese – es gibt andere Firmen, die Ähnliches anbieten – ist offensichtlich nützlich, aber das heißt noch nicht, dass es einfach ist, solche Lösungen auch wirklich in die medizinischen Einrichtungen zu bringen – zumal für ein vergleichsweise junges Unternehmen. Tobias Gebhardt, Geschäftsführer des 2015 als Spin-off der Hochschule Stralsund ausgegründeten Unternehmens GWA Hygiene, wies beim BVMed Roundtable darauf hin, dass Krankenhaushygieniker bei der Anschaffung ein gewichtiges Wort mitzureden haben und dass es beim Einkauf nicht nur um den Preis gehen dürfe. Hygiene-Lösungen von einheimischen Unternehmen könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, sich – auch im Pandemiefall – unabhängiger von internationalen Lieferketten zu machen.


Echtzeitüberwachung des Hygienestatus mit IoT-Technologie
Eine andere einheimische IT-Lösung zur Verringerung nosokomialer Infektionen ist das HPM Hygiene-Prozess-Management des Münchener Unternehmens Clinaris. Diese Anwendung, ebenfalls im Internet-of-Things-Umfeld angesiedelt, hat einen etwas breiteren Fokus. Sie verknüpft ein Tracking auf Basis von Bluetooth-Sendern mit einer Prozessmanagement-Software, die nicht nur die Standorte, sondern auch Aufbereitungs- und Reinigungsprozesse dokumentiert.


Auf diese Weise lassen sich der Standort und der Hygienestatus von Krankenhausbetten oder beliebigen Medizinprodukten in Echtzeit ermitteln, und es können den Mitarbeitern an den einzelnen Stellen der Reinigungsketten über Display-Systeme punktgenaue Informationen zur Verfügung gestellt werden. Der Charme dieser Lösung besteht in der Verknüpfung von Hygiene mit Ressourcenoptimierung. In den Zeiten von ­COVID-19 und Social Distancing eignet sich die Lösung auch für eine Überwachung des Abstandsgebots sowie für eine Nachverfolgung von Infektionsketten.


Und noch ein Beispiel: Das US-amerikanische Unternehmen Darvis Healthcare, das seine Deutschland-Niederlassung in Hamburg hat, bietet einen innovativen Hygiene-Schnelltest, der seit Juli an der Asklepios
Klinik Nord in Heidelberg pilotiert wird. Es handelt sich um eine Art virtuelle Schleuse, bei der mit KI hinterlegte Sensortechnik kontrolliert, ob persönliche Schutzkleidung von Mund-Nasen-Schutz über Schutzbrille bis Kopfbedeckung korrekt angelegt ist. Korrekte und nicht korrekte Kleidung wird über einen Monitor grün bzw. rot angezeigt. Ein mögliches Einsatzszenario für eine derartige Lösung seien die COVID-Intensivstationen, sagte der Geschäftsführende Direktor der Asklepios Klinik Nord, Dr. Ulrich Koop, bei der Vorstellung der Pilot­­-
in­stallation.


HiGHmed Use Case Infektions-kontrolle: Krankenhaus-IT überwacht mit

Die Krankenhaushygiene und Infektionskontrolle ist auch ein Thema eines Use Cases im HiGHmed Konsortium der Medizininformatik-Initiative (MII). Unter Leitung der Krankenhaushygienikerin Prof. Dr. Simone Scheithauer von der Universitätsmedizin Göttingen wurde dort auf Basis der Kerndatensätze der MII und der dort konsentierten Standards eine Softwarelösung entwickelt, die Labordaten, klinische Daten und Daten zur Lokalisation von Patienten zusammenbringt und gemeinsam auswertet.


Diese Plattform, smart infection control system oder SmICS genannt, lässt unterschiedliche Anwendungen zu, die dazu beitragen können, Krankenhausinfektionen zu vermeiden oder deren Folgen zu minimieren. Der MII-Use-Case konzentriert sich im ersten Schritt auf Infektionen mit multiresistenten Keimen. Hier geht es darum, den Weg eines Infizierten durchs Krankenhaus und mögliche Kontaktpersonen nachzuvollziehen. Denkbar sind auch Alarmfunktionen, wenn an unterschiedlichen Stellen im Krankenhaus derselbe Erreger auftritt und es daher ein Cluster geben könnte.


Den Vorteil darin, eine solche Software als Teil der MII zu entwickeln, statt Stand-alone-Lösungen zu nutzen, die es für diesen Zweck ebenfalls gibt, sieht Scheithauer in der Standardisierung und in der Möglichkeit einer dezentralen Vernetzung unterschiedlichster Einrichtungen. So sollen im nächsten Schritt kooperierende Einrichtungen angebunden werden, was eine Nachverfolgung von Infektionsketten über Klinikumsgrenzen hinweg ermöglicht. Auch wird dank Standardisierung eine Art Dashboard denkbar, das es unterschiedlichen Einrichtungen erlaubt, sich miteinander datenschutzkonform zu vergleichen.


Surveillance-Plattform für die Universitätsmedizin und darüber hinaus

Dass eine Anwendung wie SmICS in Zeiten der COVID-19-Pandemie auch über multiresistente Keime hinaus Interesse weckt, ist nicht erstaunlich. Und so entsteht, eng verzahnt mit den MII-Aktivitäten im Bereich Infektionskontrolle, im Rahmen des „Netzwerk Universitätsmedizin“ als eines von dreizehn BMBF-geförderten Projekten ein „Bundesweites Forschungsnetz Angewandte Surveillance und Testung“, kurz B-FAST.


Das Netzwerk Universitätsmedizin wurde als Reaktion auf die derzeitige Pandemie im Frühjahr 2020 ins Leben gerufenen. Treibende Kräfte waren Charité-Chef Prof. Dr. Heyo Krömer und der Charité-Chefvirologe Prof. Dr. Christian Drosten. Im ­B-FAST-Projekt, das von Scheithauer und von Prof. Dr. Gerd Fätkenheuer von der Infektiologie am Universitätsklinikum Köln koordiniert wird, geht es um eine überregionale Abstimmung der zahlreichen SARS-CoV-2- Test- und Surveillance-Konzepte, die Krankenhäuser im Rahmen der Pandemie in kürzester Zeit entwickeln mussten. Ziel ist eine skalierbare, auf künftige Pandemien oder Epidemien übertragbare Surveillance- und Teststrategie, die auf der IT-Plattform der MII aufsetzt und perspektivisch auch auf Schulen, Kitas und andere Kontexte übertragbar sein soll, für die Surveillance-Strategien nötig sind.