Das Gesundheitswesen steht vor einer Vielzahl vernetzter Herausforderungen:
- Demografischer Wandel, leere Kassen und hohe Inflation führen zu einem sich verschärfenden Personalmangel, welcher seinerseits zu wachsenden Problemen der Versorgung, insbesondere im ländlichen Raum, führt.
- Um gegenzusteuern, wird die Ambulantisierung forciert (u. a. Hybrid-DRGs) und die Regionalisierung der Versorgung mittels Lotsen und Kiosken sowie Förderung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes (116/117) gestärkt.
- Ebenfalls vorangetrieben werden Value-based Healthcare-Modelle, die eine Outcome-basierte Vergütung auf Basis von Qualitätskriterien inklusive der Berücksichtigung der Patientenperspektive ermöglichen.
Bei der Bewältigung dieser und weiterer Aspekte spielt die Digitalisierung eine zentrale Rolle. Über die Telematikinfrastruktur hinaus können insbesondere digitale Patientenpfade dabei helfen, ein leistungsfähigeres, datenbasiertes Gesundheitswesen zu etablieren.
Vom „Krankheitswesen“ zum „Gesundheitswesen“
Digitalisierung und medizinischer Fortschritt schaffen in Kombination die Voraussetzungen dafür, um in Anbetracht immer knapper werdender Ressourcen die Qualität der Versorgung zumindest aufrechterhalten zu können. Digitale Patientenpfade sind dafür ein wichtiges Instrument. Im Kern geht es bei ihrem Einsatz jedoch um einen tiefergreifenden Paradigmenwechsel: Den erforderlichen Wandel weg vom bisherigen „Krankheitswesen“ hin zum „Gesundheitswesen“ der Zukunft!
Was bedeutet das genau? Auf Basis hoch personalisierbarer digitaler Patientenpfade kann und muss die exponentiell zunehmende „Krankheitslast“ (= Zunahme der in Krankheit verbrachten Jahre) in Richtung eines „Gesundheitswesens“ (= Zunahme der in Gesundheit verbrachten Jahre) umgelenkt beziehungsweise weiterentwickelt werden. Voraussetzung dafür ist das frühzeitige Erfassen individueller Gesundheitsrisiken inklusive eines darauf aufbauenden, von der primären bis zur tertiären Prävention reichenden, ebenso effektiven wie effizienten Gesundheitsmanagements.
Einsatzmöglichkeiten digitaler Patientenpfade
Dies ist auch möglich, da digitale Patientenpfade als Oberbegriff sowohl digitale Präventions-, Versorgungs- als auch Pflegepfade umfassen. Dementsprechend breit sind die Einsatzmöglichkeiten:
- Sie können bei der personalisierten Aufklärung und Vermittlung von (Verhaltens-)Tipps oder der Erfassung von Risiko- & Symptomfaktoren helfen und dadurch u.a. im Bereich der Prävention sowie dem Aufbau digitaler Gesundheitskompetenz unterstützen.
- Ein weiterer Anwendungsbereich ist das personalisierte longitudinale Monitoring. Dazu zählen die Überwachung von Patient:innen mit chronischen Erkrankungen oder die kontinuierliche Begleitung während des Behandlungsprozesses (vor, während und nach einer Operation z. B. im Hinblick auf Komplikationen).
- Des Weiteren leistet die Möglichkeit der standortunabhängigen und interdisziplinären Kommunikation einen wichtigen Beitrag, um Informationen im Rahmen einer Therapie schneller und einfacher zusammenzutragen.
- Last, but not least ermöglichen digitale Gesundheitspfade die Erhebung strukturierter Daten entlang eines Krankheits- bzw. Behandlungsverlaufes in Echtzeit.
Die Nutzung von digitalen Patientenpfaden ist bereits in vollem Gange. Sie hat nicht nur das Potenzial, die Patientenversorgung von einer Intervallmedizin zu einer kontinuierlichen Betreuung zu verändern, sondern auch die Datengenerierung für die medizinische Forschung im Alltag wesentlich zu verbessern.
Fachgesellschaften, Berufsverbände und Qualitätsverträge
Eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Entwicklung leitlinienkonformer Patientenpfade spielt die fachärztliche Führung. Ermöglicht wird sie insbesondere durch die Kooperation mit Fachgesellschaften und Berufsverbänden: Sie müssen bei der Definition von Qualitätskriterien und Datenpunkten digitaler Patientenpfade aktiv mit einbezogen werden. Beispielhaft sei die BNK Service GmbH genannt, eine Tochtergesellschaft des Bundesverbands niedergelassener Kardiologen e. V. (BNK), die im Wege eines Joint Venture den Aufbau einer Virtuellen Klinik plant, um auf Basis kardiologischer Patientenpfade neue Wege im Bereich der digitalen Patientenbetreuung zu beschreiten. Andere Fachgesellschaften planen ähnliche Ansätze, die insbesondere im Kontext hybrider, integrierter und intersektoraler Versorgung eine zentrale Rolle spielen werden.
Wichtig ist, dass die Fachgesellschaften und Berufsverbände ihrerseits von den vielfältigen Erfahrungen profitieren können, die Leistungserbringer, Kostenträger, Gesundheitswirtschaft und Infrastrukturanbieter u. a. im Rahmen von Qualitätsverträgen nach § 110 a SGB V sammeln konnten:
- So ist die Balance von Standardisierung und individueller Anpassung an Prozesse von hoher Relevanz, um Outcomes von Therapien mehrerer Leistungserbringer bestmöglich messen, vergleichen und bewerten zu können. Mit anderen Worten: Eine zu rigide Standardisierung behindert die praktische Anwendung bzw. Umsetzung. Zu wenig Standardisierung reduziert wiederum den Erkenntnisgewinn.
- Von hoher Relevanz sind auch Zusatzanreize für Leistungserbringer, wie sie im Rahmen von Qualitätsverträgen nach § 110 a SGB V vorgesehen sind.
Weiterentwicklung von Versorgungs-, Daten- und Vergütungsstandards
Die Praxis der Qualitätsverträge hat verdeutlicht, dass der Einsatz digitaler Patientenpfade im Hinblick auf Vergütung und Abrechnung (hybrider) medizinischer Leistungen kontinuierlich weiterentwickelt werden muss, bevor sie fester Bestandteil der Regelversorgung werden und so den Übergang vom „Krankheitswesen“ zum „Gesundheitswesen“ aktiv unterstützen können. Fakt ist, dass für die Umsetzung des diesbezüglichen Zielbilds EBM, DRG und mitunter auch GOÄ in das digitale Zeitalter überführt werden müssen. Gleiches gilt für das Ziel von Value-based Healthcare.
Der Gesetzgeber hat diese Notwendigkeit erkannt, und er hat mit den Qualitätsverträgen nach § 110 a SGB V wichtige Voraussetzungen für eine praxisgerechte Weiterentwicklung geschaffen. Doch es ist nicht nur die GKV-Welt, die diesbezüglich Neuland betreten kann: Auch PKVs können und planen z. T., entsprechenden Verträgen beizutreten und dadurch den Erfahrungsaustausch unter den Kostenträgern aktiv zu fördern. Letztlich bieten Selektivverträge allen Kostenträgern die Chance, weiterführendes Neuland über die in § 110 a SGB V genannten Fälle zu erschließen – sei es im Bereich der Kardiologie, der Dermatologie oder der Onkologie u.v.m.
Fazit und Ausblick
Digitale Patientenpfade sind weit mehr als „nur“ ein digitales Abbild klassischer Versorgungspfade:
- Sie sind eine wichtige Basis, um in individualisierter sowie teilstandardisierter Weise das Gesundheitswesen zukunftssicher weiterzuentwickeln.
- Sie helfen durch teilstandardisierte Pfade bei der Gewinnung von strukturierten Real-World-Daten nahezu in Echtzeit.
- Sie ermöglichen zudem die erforderliche Weiterentwicklung zukunftsgerechter Vergütungs- und Abrechnungsprozesse für eine Integrierte Versorgung im digitalen Zeitalter (IV 4.0).
Damit die skizzierten Potenziale digitaler Patientenpfade umfassend gehoben werden können, ist:
- die Einbeziehung von medizinischen Fachgesellschaften und Berufsverbänden erforderlich.
- Gleiches gilt für den engen Austausch von und mit Leistungserbringern und Kostenträgern.
- Für alle Beteiligten wichtig ist die Bereitschaft zum interdisziplinären und intersektoralen Prinzip des „Learning by Doing“, wie er z. B. im Bereich der Qualitätsverträge erfolgt ist.
Der diesbezügliche Weg ist begonnen. Nun gilt es, ihn zielgerichtet, gemeinschaftlich und kooperativ weiterzugehen!
Autoren
Oliver M. Merx
Head of Partner Management & Market Access Oncare GmbH
Initiator der ePA-LinkedIn-Gruppe
Kontakt: Oliver.Merx(at)myoncare.com
Dr. med. Christoph Coch
CEO/ CMO nextevidence GmbH, Facharzt für Klinische Pharmakologie
Kontakt: Christoph.Coch(at)nextevidence.io