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Digitaler Zwilling statt „nur“ Big Data

Die Covid-19-Erkrankung hat in Erinnerung gerufen, dass mechanische Beatmung lebensrettend sein kann. Sie kann aber auch schaden, und auch dafür ist Covid-19 ein Beispiel. Wissenschaftler aus München wollen mit personalisierten Lungenmodellen unerwünschte Beatmungsfolgen reduzieren. Statt auf reines Maschinenlernen setzen sie auf einen komplexen, modellbasierten Ansatz, hinter dem nicht nur CT-Aufnahmen der Lungen, sondern auch große Mengen an physikalischem Wissen stecken.

Quelle: © J. Richter / TUM

Laien denken beim Thema mechanische Beatmung an eine Art Blasebalg, der auf Intensivstationen Luft durch einen Plastiktubus in die Lungen presst und damit Menschen hilft, die nicht mehr selbst in der Lage sind, genug Sauerstoff aufzunehmen. Im Prinzip ist diese Vorstellung auch nicht so verkehrt, aber der Teufel steckt im Detail: Wie genau müssen die komplexen Beatmungsmaschinen eingestellt werden, damit der Patient daraus optimalen Nutzen zieht? Wie hoch muss der Beatmungsdruck sein, das Atemzugvolumen, die Atemfrequenz? Sollte am Ende der Ausatmung weiterhin ein Überdruck, ein positiver endexspiratorischer Druck, aufrechterhalten werden oder nicht? Und wenn ja, wie hoch genau sollte dieser „PEEP“ sein?


Was passiert wirklich tief unten in der Lunge?

Wer es sich einfach machen will, schaut nur auf das, was hinten rauskommt: Ob eine Beatmung funktioniert oder nicht, lässt sich an Sauerstoffsättigung und Sauerstoffpartialdruck im arteriellen Blut ablesen. Wer es präziser haben will, schaut noch auf den Kohlendioxidpartialdruck. Viel mehr Parameter, anhand derer Ärzte beurteilen können, ob eine mechanische Beatmung funktioniert, gibt es nicht. Das ist deswegen suboptimal, weil eine Beatmung der Lunge auch schaden kann. Selbst wenn der unmittelbare Erfolgsparameter „Blutgase“ vernünftig aussieht, kann es sein, dass es besser wäre, andere Beatmungseinstellungen zu wählen, um das empfindliche Lungengewebe, eine Art Schwamm aus mehreren Millionen Lungenbläschen oder „Alveolen“, zu schonen.


„Das Grundproblem ist, dass wir tief in der Lunge, also dort, wo beatmungsassoziierte Schäden auftreten, nichts messen können“, erläutert Prof. Dr. Wolfgang Wall vom Lehrstuhl für Numerische Mechanik an der TU München. Das heißt nicht, dass die mechanische Beatmung heutzutage ein Blindflug ist: „Ärzte, die Patienten beatmen, nutzen ihre Erfahrung, um die Geräte so einzustellen, dass es für den Patienten voraussichtlich optimal ist. Einen Messwert gibt es aber nicht“, so Wall.


Wenn bei einem Patienten mit akutem Lungenversagen in sich zusammengefallene Lungenareale per Beatmung wiedereröffnet werden, kann es sein, dass in anderen Bereichen das Lungengewebe geschädigt wird, weil Beatmungsdruck oder -volumen zu hoch sind. Genauso denkbar ist, dass Lungenareale durch eine Beatmung ständig geöffnet werden und wieder kollabieren, was ebenfalls schädlich sein kann. „Es gibt bisher einfach keine Möglichkeit, eine lokale Überdehnung der Lungen bei der Beatmung zu erkennen“, so Wall. „Von der Luftröhre bis in die feinsten Verästelungen besitzt die Lunge mehr als zwanzig Verzweigungsstufen. Was auf der Mikroebene passiert, ist nicht messbar.“


Smartes Modell erlaubt Simulation und Prädiktion

Wall und sein Team haben schon vor über 15 Jahren begonnen, sich Gedanken darüber zu machen, wie es gelingen könnte, eine stärker „lungenprotektive“ Beatmung zu erreichen. „Die Grundidee war und ist, die Beatmung anhand von individuellen Daten zur Lungenanatomie und zur Lungenfunktion zu personalisieren“, so Wall. Dazu arbeiten die Münchener mit einer Computertomographie der Lunge, die bei ARDS-Patienten ohnehin fast immer angefertigt wird, und mit einer separat davon durchgeführten Lungenfunktionsmessung, die dynamische Lungenparameter liefert, die die statische CT-Untersuchung alleine nicht liefern kann.
Bei allem gegenwärtigen Hype um Big Data und die computergestützte Bildanalytik ist man verführt, auch das Münchener Projekt in diese Schublade zu stecken. „Viele denken, es ist irgendeine Art von Bildauswertung mit Maschinenlernalgorithmen“, so Wall. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich erstellen die Ingenieure der TU München aus individueller CT-Untersuchung und Lungenfunktionsmessung einen anatomisch-funktionellen, digitalen Zwilling der Lunge. Den nutzen sie dazu, die Beatmung individuell zu simulieren und Vorhersagen zu generieren.


„Das große Ziel ist natürlich, vorherzusagen, was bei einem individuellen Patienten die bestmögliche Beatmungseinstellung wäre und dem Arzt das als Vorschlag zu präsentieren“, so Wall. Aber auch eine Stufe darunter könnte ein digitaler Lungenzwilling bei der mechanischen Beatmung viel Segen spenden: „Viele Ärzte sagen, dass es ihnen schon reichen würde, wenn wir ihnen sagen könnten, was genau bei einer bestimmten Beatmungseinstellung in der Lungenperipherie gerade passiert.“


Physikalisches Modell bildet komplexe Lungenperipherie detailliert ab ...
In einer vor drei Jahren publizierten Proof-of-Concept-Studie (Roth C et al. J Appl Physiol 2017; 122:855-67) konnten die Münchener erstmals anhand eines realen Patienten zeigen, dass sie genau das schaffen können. Bei dem gemeinsam mit Intensivmedizinern und Anästhesisten der Universität Kiel durchgeführten Projekt nutzten sie die elektrische Impedanztomographie (EIT), ein nichtinvasives, elektrisches Verfahren, das mit etwas logistischem Aufwand im Kontext einer Beatmung regionale Belüftungsunterschiede sichtbar machen kann. Es beruht darauf, dass sich die Gewebeimpedanz erhöht, wenn die Alveolarwände – zum Beispiel beim Einatmen – gedehnt werden. Die Wissenschaftler konnten demonstrieren, dass der digitale Lungenzwilling die Veränderungen der EIT bei Veränderung der Beatmungseinstellung vorhersagen kann. „Als wir das vorgeführt haben, wurde vielen klar, dass wir ein bisschen mehr machen als nur Bildanalytik“, so Wall.


Dieses „bisschen mehr“ ist ein über Jahre entwickeltes, realitätsnahes physikalisches Lungenmodell, das dem digitalen Zwilling der Lunge zugrunde liegt. Um dorthin zu kommen, waren neuartige Modellierungsmethoden und andere methodische Innovationen sowie, für einige Zwischenschritte, erhebliche Rechenkapazitäten nötig.
Die Algorithmen, mit denen die Software ihre individuellen Vorhersagen macht, funktionieren dagegen auf ganz normalen Rechnern. Sie nutzen nicht nur die Bild- und Lungenfunktionsdaten des Patienten und ein bisschen Maschinenlernen, sondern orientieren sich in erster Linie an dem hinterlegten Lungenmodell, das anhand der CT- und Lungenfunktionsdaten des einzelnen Patienten personalisiert wird. Das Modell berücksichtigt nicht nur die Physiologie der oberen Atemwege, sondern bildet auch die Lungenperipherie detailliert ab, bis hinunter zu den komplexen Interaktionen zwischen benachbarten Lungenbläschen bzw. benachbarten Lungenazini, den kleinsten Bau- und Funktionseinheiten der Lunge (eine gesunde Lunge besteht aus mehreren zehntausend Azini.)


… auch bei COVID-19-ARDS
„Letztlich versuchen wir, keine reine Dateninterpolation zu betreiben, sondern die Vorhersagen ganz stark auf physikalische Prinzipien zu basieren“, so Wall. Erst dadurch würden zuverlässige Simulationen und Prädiktionen möglich. Die Stärke des Münchener Ansatzes besteht darin, dass durch die Überlagerung des physikalischen Lungenmodells mit den realen CT- und Funktionsdaten auch erkrankte Lungen realistisch nachgebildet werden können. Das geht bei Lungenerkrankungen aller Art, auch bei bisher unbekannten Erkrankungen wie der Covid-19-Lungenentzündung.


Die Beatmung bei der Covid-19-Lungenentzündung wurde und wird international intensiv diskutiert. Prinzipiell ist das sogenannte Atemnotsyndrom der Erwachsenen (ARDS) die gemeinsame Endstrecke von Lungenentzündungen aller Art. Entsprechend haben Intensivmediziner sich auch bei Covid-19 anfangs eng an die Beatmungsempfehlungen für ARDS-Patienten gehalten. Die gehen zurück auf die ARDS-Network-Studie von vor fast zwanzig Jahren, bei der gezeigt werden konnte, dass die Sterblichkeit gesenkt wird, wenn ein bestimmtes Tidalvolumen genutzt wird.


„Bei dieser Studie wurde aber letztlich nur nach einem einzigen Parameter geschaut“, so Wall, „dabei ist die Lunge viel komplexer.“ Bei Covid-19 wird das nicht zum ersten Mal deutlich, aber es wird besonders deutlich. SarsCoV2 verursacht ein eher ungewöhnliches Infektionsmuster, bei dem zumindest anfangs nicht die gesamte Lunge betroffen ist. Intensivmediziner stießen deswegen mit einer „Beatmung nach ARDS-Standard“ an Grenzen und änderten ihr Vorgehen im Verlauf der Pandemie in Richtung einer vorsichtigeren Strategie.
Das Lungenmodell der TU München kann hier Informationen liefern, davon ist Wall überzeugt: „Das ist letztlich ein Nebenprodukt unserer Arbeit. Dadurch, dass wir die Patientenlunge so genau modellieren können, wird es natürlich auch möglich, bei anderen Fragestellungen im Zusammenhang mit Diagnose und Beurteilung von Krankheitsverläufen Unterstützung zu leisten.“ Konkret kamen Ärzte aus der schwer von Covid-19 betroffenen Lombardei mit ihren CT-Datensätzen Ende März auf die Münchener zu, weil sie besser verstehen wollten, was genau in den Lungen von Covid-19-Patienten eigentlich passiert. Die Modellierungen zeigen ein auffälliges Nebeneinander von stark betroffenen und relativ intakten Lungenabschnitten: „Das sieht schon anders aus als bei anderen Lungenentzündungen, und das kann Auswirkungen auf die Beatmungseinstellungen haben“, so Wall.


Meilenstein Medizinproduktezulassung
Mittlerweile ist der digitale Lungenzwilling für die mechanische Beatmung so weit ausgereift, dass er weiter an das Patientenbett herangebracht werden kann. Gemeinsam mit den Ärzten aus Kiel startete bereits eine retrospektive Studie. Genutzt werden dabei reale Datensätze von Patienten, bei denen CT-Untersuchungen und Funktionsuntersuchungen zu einigen vorab durchgeführten Atemmanövern vorliegen. „Daraus versuchen wir, Vorhersagen über die mechanische Beatmung zu generieren, die wir dann anhand der realen Beatmungsdatensätze überprüfen können“, so Wall.


Ob diese retrospektiven Daten für einen ersten klinischen Einsatz in einer prospektiven Studie reichen, oder ob vorher noch eine prospektive Studie am Krankheitsmodell erforderlich ist, bevor es wirklich in Richtung Medizinproduktezulassung gehen kann, ist derzeit noch nicht ganz klar. „Für die kontrollierte Patientenstudie haben wir in jedem Fall schon einige renommierte Kliniken an Bord, die unbedingt mitmachen wollen“, so Wall. Umgesetzt wird der Schritt zur Produktreife von dem ausgegründeten Unternehmen Ebenbuild, das im ersten Schritt eine PC- oder Tablet-Applikation anstrebt. Irgendwann könnte eine solche Software auch auf den Beatmungsmonitoren angezeigt oder sogar in Beatmungsgeräte integriert werden, aber das ist derzeit noch kein Thema.