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Digitalisierung in der Intensivmedizin

Digitalisierung und telemedizinische Unterstützung an der Schnittstelle Mensch-Medizintechnik können in Sachen Versorgungsqualität den Unterschied machen. Doch wie genau kann so etwas aussehen?

Bild: © Ralph Sondermann/ Land NRW

Bei der extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) handelt es sich um eine komplexe und spezielle Therapieform für schwer kranke Patient:innen mit akutem Lungenversagen.  Für diese Patient:innen stellt die ECMO-Therapie häufig eine letzte Rettung dar, da die herkömmlichen Therapiestrategien wie eine spezielle Beatmung, Bauchlagerung, Flüssigkeitsrestriktion oder z.B. inhalatives Stickoxid keinen Erfolg mehr versprechen. Die ECMO-Therapie, auch „künstliche Lunge“ genannt, ist ein Organersatzverfahren auf der Intensivstation, das die Funktionen der Lunge (Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe) zu einem gewissen Teil und zeitüberbrückend ersetzen kann. Durch die Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff überlebt weltweit etwa jede:r zweite:r Patient:in.


Erfahrung und Spezialisierung als Erfolgsfaktor

Im Rahmen der COVID-19-Pandemie ist die Anzahl der Kliniken in Deutschland, die eine ECMO-Therapie anbieten, von 231 auf 274 angestiegen (Sieber, 2021). Die Statistiken zeigen jedoch, dass ein hochkomplexes Verfahren wie die ECMO-Therapie vor allem von Erfahrung und Expertise profitiert. Werden nur wenige ECMO-Therapien (weniger als 20 ECMO-Patient:innen pro Jahr) in einer Klinik durchgeführt, so reduziert sich die Erfolgs- bzw. Überlebenschance der Patient:innen. Neben der medizinischen Erfahrung der Klinik mit dieser Behandlung spielt vor allem auch die richtige und adäquate Stellung der Indikation zur ECMO-Therapie eine entscheidende Rolle.


Im ARDS-Netzwerk (ARDS, acute respiratory distress syndrom) der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sind daher rund 85 Kliniken miteinander verbunden, die als spezialisierte Kliniken und Zentren für diese invasive und risikobehaftete Therapieform gelten (DIVI, 2020). Zwei Kliniken mit umfassender Expertise sind die Charité – Universitätsmedizin Berlin (Charité) und das Universitätsklinikum RWTH Aachen (jeweils etwa 100 bis 120 ECMO-Patient:innen pro Jahr). Sie verfügen nicht nur über jahrelange Erfahrung in der ECMO-Versorgung, sondern halten auch die entsprechenden Fachärzt:innen vor. In Aachen steht ein interdisziplinäres und interprofessionelles ECMO-Team 24/7 bereit, um Patient:innen in externen Kliniken mit ECMO-Therapie zu versorgen und sie ins Zentrum zu transportieren. Außerdem steht eines der wenigen ­ECMO-Mobile in Deutschland an der Charité. Das ECMO-Mobil ermöglicht bereits beim Transport den Anschluss an die „künstliche Lunge“, sodass ohne Zeitverlust mit der Behandlung gestartet werden kann.  


Die Statistiken zum Erfolg der ­ECMO-Therapie in Deutschland machen im Vergleich zu anderen Ländern eines deutlich: Die Sterblichkeitsrate der Patient:innen ist zu hoch. Im Ernstfall werden die Betroffenen nicht in eine spezialisierte Klinik verlegt, sondern an die nächste erreichbare ECMO angeschlossen. Um die bestmögliche Sicherheit der Patient:innen zu gewährleisten und  die damit verbundenen Verlegungsprozesse zu vereinfachen, bietet an dieser Stelle die Digitalisierung in Verbindung mit der Telemedizin eine bedeutende Unterstützung.


Lösungsansatz Digitalisierung: Wirkung in der Versorgung
Lebensbedrohliche Ereignisse erfordern eine zeit- und ortsunabhängige, vollständige Verfügbarkeit relevanter Daten. Das behandelnde medizinische Personal muss in der Lage sein, Patient:innen umgehend und bestmöglich zu versorgen. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schafft diese optimierte Datengrundlage: Die Verfügbarkeit von Informationen vor Aufnahme der Patient:innen bietet im konkreten Fall der ECMO-Behandlung einen zentralen Mehrwert. Die gesamte Krankengeschichte, umfangreiche Labordaten und die Daten zur Lungenfunktion sowie der Beatmungssituation stehen im Idealfall noch vor Eintreffen vollumfänglich digital zur Verfügung.  Kommt es zur Verlegung, so können die Behandlungsdaten sofort digital übernommen werden: Die Fehleranfälligkeit gegenüber der analogen Datenübermittlung ist reduziert, zudem sind bestimmte Daten in digitaler Form aussagekräftiger als analog. Die Therapieplanung sowie die Vorbereitung spezieller Maßnahmen können umgehend starten.


Neben der tatsächlichen Therapie bietet die Verfügbarkeit digitaler ECMO-­Daten noch vor der Behandlung einen bedeutenden Mehrwert für die Patientenflusssteuerung und Verlegungsplanung. Das Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stellt bundesweit online Informationen zu verfügbaren ECMO-­Kapazitäten bereit. Freie Plätze und Versorgungskapazitäten können zeitnah und patientenspezifisch zugewiesen werden.


Effekte der Digitalisierung
Wissenschaftlich untersucht werden konnte der Effekt, den die Digitalisierung auf die Letalität der ECMO-Patient:innen haben kann, leider bislang noch nicht. Allerdings steht die Hypothese im Raum, dass sich durch die schnellere Verlegung kritisch kranker Patient:innen die  Fehlerrate bei der Übermittlung von Daten reduziert. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Versorgung der Patient:innen aus. Die jeweils passende Therapie kann früher in einem erfahrenen, spezialisierten Zentrum begonnen werden, und es besteht eine umfangreichere Informationsgrundlage für die weiterbehandelnden Ärzt:innen. Ob das tatsächlich so ist, wäre Gegenstand einer klinischen Studie.


Der Einfluss des Zeitfaktors auf die Sterblichkeit ist hingegen bereits wissenschaftlich belegt: Eine frühe Behandlung bei ARDS ist nachweislich förderlich für die Heilung und das Überleben der Patient:innen. Insbesondere Patient:innen in kritischem Zustand benötigen die ECMO-Therapie umgehend, um einen Tod durch Ersticken zu verhindern.


Rahmenbedingungen für die Digitalisierung

Wie kann die Theorie in die Praxis umgesetzt werden? Die Etablierung einer Interoperabilitäts-Plattform (IOP) mit Clinical Data Repository (CDR) bildet die Basis zur Umsetzung digitaler Vernetzungsprojekte. Durch HL7 und HL7-FHIR-Konformität (HL7: Set internationaler Standards für den elektronischen Austausch von Daten im Gesundheitswesen) wird eine zukunftsfähige und nachhaltige Lösung abgebildet. Weitere Digitalisierungsprojekte können hier direkt aufgesetzt werden.


Über die Berücksichtigung (inter-)nationaler Standards der IHE (Integrating the Healthcare Enterprise) und Terminologien wie SNOMED CT, ­LOINC etc. sowie weiterer bundesdeutscher Vorgaben (z.B. der gematik) wird diese Grundlage geschaffen. Über die Etablierung einer IOP mit CDR wird sowohl der Austausch relevanter Behandlungsdokumente als auch die Übermittlung strukturierter Daten via HL7 FHIR möglich.


Im Kontext der Verlegung von ­ECMO-Patient:innen können über eine IOP mit CDR relevante Daten in strukturierter Form übertragen werden. Die Etablierung eines Terminologieservers ermöglicht die semantische Normierung anhand standardisierter internationaler Terminologien. Strukturierte Daten werden vom aufnehmenden Krankenhaus empfangen und können direkt umfassend eingesehen und weitergenutzt werden.


Regionen Aachen und Berlin als praktische Beispiele
Unter der Koordination des Universitätsklinikums RWTH Aachen wurde als „Pandemic Response“ im März 2020 die Vorstufe des „Virtuellen Krankenhauses NRW“ eröffnet, aus der mittlerweile ein Netzwerk mit über 140 Krankenhäusern entstanden ist. Unter Verwendung einer webbasierten Plattform, eines Audio-Video-Links sowie einer elektronischen Fallakte wurden die digitale Vernetzung und telemedizinische Unterstützung etabliert. Die Expertise der beteiligten Universitätsklinika Aachen und Münster kann durch Telekonsile mit den Intensivmediziner:innen in den Krankhäusern der Regelversorgung geteilt werden. Die bedarfsgerechte Versorgung sowie die zeitgerechte Verfügbarkeit für die ECMO-Therapie wird somit rund um die Uhr gewährleistet. Über eine elektronische Fallakte erfolgt ein datenschutzkonformer Austausch der Behandlungsinformationen. Dieser digitale Ansatz konnte im „Virtuellen Krankenhaus NRW“ nicht nur die vorhandenen Intensivkapazitäten bedarfsgerecht gewährleisten, sondern auch die Mortalität beatmeter COVID-19-Patienten um mehr als 20 Prozent reduzieren (Dohmen, 2021).


In der Charité wird derzeit ein medizinischer Anwendungsfall umgesetzt, der den Austausch des ECMO-Übergabeformulars über die an die Primärsysteme der Klinik angebundene Interoperabilitäts-Plattform ermöglicht. Die Etablierung eines Clinical Data Repository dient seit Frühjahr 2022 der Übermittlung strukturierter Daten an die angebundene Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH (Vivantes). Die aktuelle Digitalisierung des ECMO-Übernahmeformulars hat nun zum Ziel, den Informationsfluss bei Verlegung von Patient:innen mit akutem Lungenversagen aus der Vivantes in die Charité zu optimieren.

 

Bislang wurde das ECMO-Übernahmeformular ausgedruckt, ausgefüllt und per Fax an die Charité übermittelt. Die Digitalisierung des Formulars und die Übergabe der Daten in strukturierter Form ermöglicht die automatische Befüllung des Übernahmeformulars aus den Primärsystemen der Vivantes Klinik. Nach dem Empfang der Daten erfolgt die Übernahme der strukturierten Daten in die Systeme der Charité. Das Formular enthält neben den Daten zu den Patient:innen und übergebenden Ärzt:innen ausgewählte Laborparameter, therapeutische Informationen und Informationen zum aktuellen Zustand des Betreffenden. Zudem gibt es die Möglichkeit, Empfehlungen zur Therapie-
optimierung zu geben und in Form eines Freitextes weitere relevante Informationen zu übermitteln. Die für die Übermittlung relevanten Inhalte wurden mit Intensivmediziner:innen beider Kliniken diskutiert und ein entsprechendes Datenset festgelegt. Die Behandlung der Patient:innen kann somit direkt und ohne Informationsverlust in einer erfahrenen ECMO-­Klinik starten – die Überlebenschance steigt.


Beide Kliniken profitieren vom Austausch
Der digitale Austausch strukturierter Daten anhand des ARDS / ECMO-Formulars kann ebenso als bidirektionaler Prozess umgesetzt werden. In Zeiten mit geringer Bettenkapazität, wie wir es in der COVID-19-Pandemie aktuell erlebt haben, kann die Rückverlegung von Patient:innen nach der ECMO-Therapie ebenfalls relevant werden. Wird ein:e Patient:in z.B. von der Charité in ein Vivantes Haus zurückverlegt, so übermittelt die Charité die aktuellen Daten anhand des Übernahmebogens an Vivantes. Der/die Patient:in wird also räumlich verlegt, es kommt im Rahmen dieser Verlegung aber nicht zu Medienbrüchen, infolgedessen werden Inkonsistenzen in der Behandlung reduziert. Perspektivisch wird ein noch umfangreicheres Vorhaben in der Charité umgesetzt: die Etablierung eines Intensivverlegungsportals, das die beschriebenen Funktionalitäten für den gesamten intensivmedizinischen Bereich bereitstellt.


Ausblick und Vision
Der Anwendungsfall ist derzeit insbesondere durch die COVID-19-Pandemie hochaktuell und bietet zudem weiteren Spielraum zur Optimierung. Wichtig wäre als nächster Schritt eine effizientere Planung der Versorgungskapazitäten. Hier gilt es, regional und überregional Patientenströme (z.B. digital, ggf. mit KI-Unterstützung) so zu steuern, dass Ressourcen, insbesondere Personalressourcen, und Patient:innen adäquat alloziert werden. Das Intensivregister der DIVI (www.intensivregister.de) ist bereits ein bundesweites Instrument, das diese Aufgabe zunehmend erfüllt. Eine Quervernetzung würde hier einen erheblichen Mehrwert generieren, sowohl aus Sicht der Versorgung, der Qualität, der Ökonomie als auch aus Sicht der Forschung.  


In einer großen, prospektiven und randomisierten Studie konnte gezeigt werden, dass Telekonsile die Einhaltung von Leitlinien in der Behandlung signifikant und klinisch relevant erhöhen. Die Qualität der Behandlung lebensbedrohlicher Infektionskrankheiten wird dadurch gesteigert und es entsteht ein deutlicher Mehrwert für die Patient:innen (Marx, 2022).


Eine wünschenswerte Erweiterung / Ausbaustufe wäre zudem die Darstellung der Verläufe der Patient:innen in einem Dashboard. Wird der/die Patient:in aus der vorbehandelnden Klinik übernommen, so werden bisher nur die aktuell zuletzt erhobenen Daten mitgeliefert. Bei einem hochkomplexen Verfahren wie der ECMO kann eine Übersicht über den Verlauf der Patient:innen aber ebenso wichtige Aufschlüsse für Behandlungsentscheidungen und Prognose liefern.


Durch die Umsetzung des medizinischen Anwendungsszenarios zur digitalen ECMO-Verlegung wurden die technischen Voraussetzungen sowie der rechtliche Rahmen geschaffen. Der weitere Ausbau auf andere (intensiv-)medizinische Krankheitsbilder sowie der Einschluss von komplexeren Daten oder speziellen Untersuchungsergebnissen ist dann sukzessive und mit weniger Aufwand möglich. Weitere Ausbaustufen betreffen andere intensivmedizinische Krankheitsbilder wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Tumortherapien, die einer speziellen und umgehenden Therapie bedürfen.


Im Fazit trägt die Etablierung von telemedizinischen und intersektoralen digitalen Netzwerken zur Verbesserung der wohnortnahen Gesundheitsversorgung bei; Behandlungsprozesse werden optimiert, und aufgrund von umfangreicheren Daten und Expertenwissen wird die Behandlungsqualität insbesondere von schwer kranken Patient:innen gesteigert. Durch die digitale Verfügbarkeit der Behandlungs- und Patienteninformationen verbessern sich Genauigkeit, Geschwindigkeit und Umfang der relevanten Daten. Dem Behandlungsteam werden durch die elektronische Übermittlung aufwendige adminis­trative Tätigkeiten erspart, wodurch mehr Zeit für den direkten Patientenkontakt bleibt. Versorgung auf Basis bereits vorhandener Evidenz sollte zeitnah bundesweit den Patient:innen zugänglich gemacht und durch weitere wissenschaftliche Studien untersucht und ergänzt werden.

 

Autor:innen

  • Nina Sodogé, Beraterin bei eHealth.Business

  • Marcus Beck, Seniorberater bei eHealth.Business

  • Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Felix Balzer, Chief Medical Information Office der Charité – Universitätsmedizin Berlin

  • PD Dr. med. Mario Menk, Oberarzt Klinik für Anästhesiologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

  • Univ.- Prof. Dr. med. Gernot Marx, FRCA, Direktor der Klinik für operative Intensivmedizin und Intermediate Care Uniklinik RWTH Aachen

  • Prof. Dr. med. Johannes Bickenbach, Leitender Oberarzt, Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care Uniklinik RWTH Aachen

 

 

Literatur