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Digitalisierung in der Pflege

Digitalisierung in der Pflege – gibt es das überhaupt? Auf der ersten Smart Nursing Conference stellte man sich genau diese Frage. Dabei zeigte sich: Nur wer vom konkreten pflegerischen Nutzen ausgeht, hat die Chance, dass alle Beteiligten mitziehen.

Foto: © M.Dörr & M.Frommherz - Fotolia

Die Pflege in Deutschland ist in keinem guten Zustand. Schon lange nicht. Der Kostendruck in den Pflegeheimen sorgt für knappes Personal und schlechte Arbeitsbedingungen. Pflege ist ein Knochenjob und trotzdem finanziell nur wenig rentabel. Zudem genießen Pflegekräfte kaum soziales Prestige. Getreu dem Motto: Einer muss es halt machen. Wie viel von der notwendigen Sensibilität für echte menschliche Zuwendung bleibt in einem solchen Umfeld?


Oder sind die vorgebrachten Einwände inzwischen zu einer ewigen Litanei des Jammerns geronnen, die kaum noch einen sachlichen Blick auf den Zustand der deutschen Pflege zulässt? Fest steht, es sagt bekanntlich viel über eine Gesellschaft aus, wie sie mit ihren alten Menschen umgeht.


Auch wenn der Gesetzgeber mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG), der Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung (PpUGV), der Konzertierten Aktion Pflege nachgebessert hat, ist die Stimmung in der Branche zwar leicht besser als im Vorjahr, aber prinzipiell weiterhin mies. Das geht aus dem CARE Klima-Index 2019 hervor, nach dem gut 40 Prozent der professionellen Pflegekräfte und des Pflegemanagements nach wie vor deutliche Vorbehalte gegenüber der Wirksamkeit der gesetzlichen Maßnahmen hegt. Die konkreten Arbeitsbedingungen werden von einer Mehrheit weiterhin als „schlecht“ bewertet.


Könnte die Digitalisierung daran etwas ändern? Gefragt nach der Relevanz zukünftiger Innovationen, steht die „Erweiterung der pflegerischen Kompetenz“ (68 Prozent) an erster Stelle. Weit abgeschlagen ist hingegen die Robotik (14 Prozent). Auf den weiteren Plätzen folgen mit 62 Prozent der Wunsch nach einer „Entbürokratisierung durch Digitalisierung“, 45 ­Prozent sehnen die Umsetzung der elektronischen Patientenakte sowie (39 Prozent) der „Digitalen Dokumentation“ herbei. Für 35 Prozent ist das AAL-Smart-Home von Relevanz und 26 Prozent sprechen sich für mehr Innovation im Bereich Telemedizin und Telepflege (Tele-Nurse, Tele-Care) aus.


Es gibt also Redebedarf, zumal es bis heute keine einheitliche „Strategie“ mit klaren Zielvorgaben für die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen von politischer Seite gibt. Zwar wurden zahlreiche neue Strukturen und Foren geschaffen – wie der health innovation hub. Es wurden Fördermittel bereitgestellt und Modellprojekte initiiert – wie die „Zukunftsregion digitale Gesundheit“ – sowie gesetzgeberische Initiativen – DVG, PDSG, Krankenhauszukunftsgesetz usw. – auf den Weg gebracht (und verabschiedet). Aber insbesondere für die Pflege resultiert daraus bisher nur wenig Konkretes, Verbindliches und Dauerhaftes.


Politisches Momentum erzeugen
Sechs Verbände aus dem Gesundheits- und Sozialwesen unter Federführung des Bundesverbands Gesundheits-IT (bvitg) haben sich deshalb zu einem Bündnis „Digitalisierung in der Pflege“ zusammengetan und in einem Positionspapier erste Grundforderungen gestellt. Darunter fällt eben zuvorderst die Forderung nach einem „nationalen Strategieplan“ für die Digitalisierung in der Pflege bis zum Jahr 2022. Darin geklärt werden soll u. a. die gezielte Refinanzierung von erbrachten digitalen pflegerischen Leistungen, z. B. durch die Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen sowie die Etablierung neuer Berufsbilder wie das eines „Pflege-Digital-Begleiters“, der Pflegebedürftige dabei unterstützt, die digitalen Chancen in der Pflege überhaupt erst für sich zu erschließen und auf die eigenen Bedürfnisse abzustimmen.


„Ist die Pflege eigentlich schon bereit für eine Digitalisierung?“, fragte Moderator Stephan Hohndorfs, Projektmanager am NursIT Institute, das zugleich Ausrichter der Veranstaltung war, gleich zu Beginn der ersten, rein virtuell ausgetragenen Smart Nursing Conference 2020 sinngemäß. In deren Rahmen kamen rund 15 Redner vor allem aus der Gesundheits-IT-Wirtschaft zu Wort – viele davon selbst mit langjährigen Berufserfahrungen in der Pflege, wie z. B. der Unternehmensgründer von NursIT Heiko Mania oder die Diplom-Pflegewirtin Annemarie Fajardo von der Beratungsfirma Curacon. Und wo fängt man am besten an?


Fajardos Vortrag kurz vor der Mittagspause war es, den man vielleicht auch hätte ganz an den Anfang stellen können, um diese Frage zu beantworten. Sie präsentierte eine von ihrer Beratungsgesellschaft erarbeitete „Digi-Landkarte“, um konkrete Handlungsfelder für eine Digitalisierung in der stationären Altenhilfe überhaupt erst einmal zu identifizieren. Aus dieser Vogelperspektive wurde schnell deutlich, was Digitalisierung im Kern letztlich bedeutet: nämlich nicht nur die elektronische Patientenakte vor Ort, telemedizinische Zusatzangebote oder auch die Einbindung neuer Geräte in den Versorgungsalltag, sondern vor allem die Vernetzung der unterschiedlichen Akteure des Ökosystems Pflege, vom Pflegepersonal, anderen Krankenhäusern, dem Hausarzt über die Krankenkasse, externe Service-Dienstleister bis hin zu den Angehörigen in der häuslichen Versorgung. Woraus sich auch die besondere Komplexität des Vorhabens ergibt. Und die Erfordernis zu einer systematischen Überzeugungsarbeit. Oder, wie Guido Burkhardt von der Beratungsfirma qhit healthcare consulting es zuspitzte: „In der Regel wollen viele Mitarbeiter ja keine Veränderung, sondern nur eine Verbesserung.“


Für gute Überzeugungsarbeit braucht es stichhaltige Argumente. Ein gutes Argument für eine gelungene digitale Anwendung im Pflegealltag lieferte Annemarie Fajardo mit der Formulierung „Diese Anwendung entlastet mich“, die in kluger Software aber nicht nur ausschließlich einen Benefit für das Personal, sondern z. B. auch eine Möglichkeit für Pflegeeinrichtungen sieht, sich als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren.


Mit der Dokumentation fängt alles an
Heiko Mania berichtete von seinen Erfahrungen bei der Entwicklung und Einführung von medizinischer Software für den Pflegealltag, insbesondere für die Pflegedokumentation. Die Digitalisierung der Pflegedokumentation ist für ihn der Schlüssel für eine weitere Digitalisierung in der Pflege. Er regte an, Digitalisierung weniger als reines IT-Projekt, das um ein Produkt herum angelegt sei, zu sehen, sondern den Prozess und das Change Management im Hinblick auf das anvisierte und im Vorfeld klar definierte Ziel in den Mittelpunkt zu stellen. Dabei sei die Digitalisierung „eine Lösung“ für die Bewältigung vieler Herausforderungen im deutschen Gesundheitswesen und in der Pflege.

 

Mania entwarf das Szenario einer „mobilen, automatisierten Pflege-Expertenplattform“, einem „Daten-Drehkreuz“, in das sich die Pflegeprozessdokumentation langfristig weiterentwickeln soll.


Ihm schwebt die Entwicklung „vom Formular zum Management eines komplexen Datenmodells“ vor, in das Daten aus verschiedenen Produkten, z. B. Sensoren oder anderen Krankenhaus-IT-Systemen (KIS, PDMS, Abrechnung, Überleitportale) einfließen und dort (auf KI-Basis) ausgewertet werden sollen. „Vom smarten Teller in die Akte“, so Mania salopp. Ziel einer solchen Plattform sei es, das Fachwissen der Pflegekräfte anzureichern, hin zu einer „agilen Pflege“ auf der Basis eines „digitalen Workflows“. In diesen könnten langfristig auch Vorhersagemodelle für Patienten einfließen. Wann muss der Bewohner wieder auf die Toilette? Der Algorithmus könnte dafür in Zukunft eine Antwort parat haben.


Letztlich sollen die Pflegekräfte so wieder mehr Zeit für ihre eigentliche Aufgabe gewinnen, die echte Zuwendung zum Patienten. Nur 25 Prozent der Pflegezeit sei derzeit der direkten Arbeit am Patienten gewidmet, sagenhafte 60 Prozent des Arbeitstages verfielen auf Dokumentationsaufgaben, so Mania. Das sind zutiefst ernüchternde Zahlen.


Produkte für das Daten-Ökosystem
Dokumentation ist natürlich nicht alles. Wenn die Pflege ein (auch) digitales Ökosystem werden soll, dann wird es dort, wie in anderen digitalen Ökosystemen, eine ganze Reihe an Produkten geben, die Daten und Ressourcen erzeugen, verarbeiten, anzeigen oder organisieren. Die virtuelle Smart Nursing Conference war auch ein Kaleidoskop solcher Anwendungen, die sich teils im frühen Stadium befinden, teils schon sehr ausgereift sind.


Bertrand Hughes vom Schweizer Unternehmen compliant concept, das sich auf die Sturz- und Dekubitusprophylaxe spezialisiert hat, stellte den „Mobility Monitor“ vor, ein einfach anzubringendes Monitoring-System für Betten, das z. B. fehlende oder überflüssige Bewegungen in der Nacht registriert und so ein dynamisches Risikoprofil für Stürze oder die Entwicklung eines Dekubitus erstellt. Das System soll u. a. die Nachtruhe verbessern, weil Pflegende nur dann eingreifen müssen (z. B. durch die regelmäßige Umlagerung des Patienten), wenn der Patient sich nachts nicht selbständig ausreichend bewegt. Oder drohende Stürze werden erkannt, z. B. weil sich ein Patient nachts aufrichtet oder auf die Bettkante setzt. Das Pflegepersonal erhält dann eine entsprechende Warnmeldung. Schnittstellen zur Patientendokumentation oder auch zu den Smartphones der Pflegemitarbeiter sollen einen reibungslosen Datenfluss garantieren.
Thorsten Amann von der Firma Clinaris präsentierte ein Echtzeit-Tracking-System für Medizinprodukte im Krankenhaus, das auch den Hygienezustand und den technischen Status der Geräte abbildet. Daten, die für das Wartungs- und Hygienepersonal, die Pflegedienstleistung für das Abstellen von Ressourcen, aber auch für Ärzte, die schnell ein brauchbares freies Bett oder eine verfügbare Beatmungsmaschine suchen, von Bedeutung sein können.


Stefan Schieck, Business Development Manager bei 3M, präsentierte das System „360 Encompass Smarte KI“, zur automatisierten Codierung und Integration von Daten zu erbrachten pflegerischen Leistungen, insbesondere von Daten der medizinischen Dokumentation (Pflegedokumentation, Arztbriefe, technische Unterlagen, Formulare im KIS, Scans, Tages- und Pflegekurven, Labordaten, Medikationsdaten). Die Plattform soll für eine sichere automatisierte Erlössicherung sorgen.


Alina Guther von der Firma ACD stellte den neuen, modular erweiterbaren Handheld Computer M2Smart®SE vor, der sich nach dem „Build your own device“-Prinzip mit verschiedenen Modulen erweitern lässt, z. B. mit dem Kamera-Modul zur Wunddokumentation M2Care-W mit TOF-Laser und Radar-Sensor zur Ermittlung von Wundgröße und -tiefe. Stoyan Halkaliev, CEO von NursIT, zeigte die dazu passende Wund-Manager-Software zur intelligenten Wunderfassung und mit Schnittstellen für die direkte Übertragung in die Wunddokumentation, z. B. in die elektronische Patientenakte oder auch in ein DICOM-Bild­archiv.


Sascha Stützer von Datalogic präsentierte das „Clinical Smartphone“ M20, das u. a. einen Barcode-Scanner und ein Minidisplay zur Anzeige von dringenden Mitteilungen umfasst, ohne dass das Gerät direkt berührt werden muss. Dafür verlangt Datalogic aber auch stolze 1 799 Euro.


Wesentlich günstiger ist da die cloudbasierte Team-Management-App HLth.care Team. Die ist nämlich kostenlos. Das gilt allerdings nur für die reine App, die nach dem Messenger-Prinzip funktioniert. Der SaaS- und die Enterprise-Services vor Ort können mit mehreren tausend Euro zu Buche schlagen. Guido Burkhardt von qhit healthcare consulting präsentierte das Tool, mit dem sich die Dienstplanung schnell, unbürokratisch und sicher in der Cloud abwickeln lassen soll – vor allem bei spontanen Dienstausfällen, die in der Pflege nicht selten sind. Damit soll die Work-Life-Balance des Pflegepersonals deutlich verbessert werden.


Was ist gute Pflege?
Viel Technik also, doch die Frage ist, ob und wie sie auch wirklich dort ankommt, wo sie hin soll. In einem Interview mit E-HEALTH-COM (Link zum Beitrag) äußerte sich Pflegeexperte Holger Dudel zur Frage, was gute Pflege im digitalen Zeitalter bedeutet. Er antwortete wie folgt: „Theoretisch wissen wir, was wir tun müssen. Das steht alles in der Pflegecharta drin. Wir müssen Menschen aktivieren und die Selbstbestimmung verbessern, wir müssen die Pflegequalität stärken und Pflegebedarf vermeiden. Bei all diesen Punkten können technische Lösungen in unterschiedlichem Maße helfen. Es braucht also Anreize, die Einrichtungen belohnen, wenn sie Pflege vermeiden, Qualität anbieten und die Selbstständigkeit fördern. Die gibt es aber nicht. Eine Pflegeeinrichtung profitiert heute tendenziell davon, wenn der Pflegegrad steigt, weil sie dann mehr Geld erhält, der Aufwand aber nicht in gleichem Maße ansteigt. So lange das so ist, werden wir in der Fläche keine präventiv ausgerichtete Pflegetechnik sehen.“


Für ein neues „Bild“ von Pflege plädierte im Rahmen der Smart Nursing Conference deshalb auch Medizinfotograf Bertram Solcher von medizin-photo.de. In seinem Vortrag ging es nicht um die Details der neuesten Technik, sondern um die Macht der Bilder in der Darstellung der Aufgaben in Medizin und Pflege und aller Beteiligten in diesem System. Wie lassen sich alte Traditionsmuster von Pflege durch neue Motive aufbrechen, die über die Klischees von klassischen Stock-Fotos hinausgehen? Müssen Arzt und Pflegekraft eigentlich immer am Krankenbett von oben herab auf den Patienten blicken? Welche Bedeutung haben Berührung und Zuwendung gerade jetzt, in Zeiten von Corona? Lässt sich in einem Rollstuhl vielleicht noch mehr tun als nur sitzen? Ein bisschen Phantasie kann an dieser Stelle sicher nicht schaden. Für gute Pflege. Und vor den harten Verhandlungen ums knappe Geld.