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» Es geht um Steuerung, Qualität, Reputation «

Krankenhausstrukturreform, ökonomischer Druck und Fachkräftemangel – die Großwetterlage für die Krankenhäuser ist herausfordernd geworden. Strategische Digitalisierung ist für Hendrik Riedel von dem Beratungsunternehmen Digital Avantgarde das Gebot der Stunde. Er ist überzeugt: Die Enterprise-Architekturen und damit verbundenen Möglichkeiten im Krankenhaus werden sich verändern.

Was sind aktuell die großen Themen bei den Geschäftsführer:innen bzw. IT-Vorständen der Krankenhäuser?
Wir treten gerade in das Post-KHZG-Zeitalter ein. Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) hat dazu geführt, dass die Krankenhäuser sich über viele Themen Gedanken gemacht haben. Aber wo sie eigentlich hinwollen, merken einige eigentlich jetzt erst. Viele KHZG-Anträge gingen zumindest teilweise in die falsche Richtung. Das versuchen die Einrichtungen jetzt ein Stück weit zu korrigieren.

Worum geht es bei dieser Re-Orientierung?
Dreh- und Angelpunkt ist das Thema KIS-Strategie. Es geht um die Frage, wie eine Einrichtung mit klinischen Daten umgeht. Es geht darum, politische Entwicklungen zu antizipieren. Diese Entwicklung geht klar in die Richtung „digital vor ambulant vor stationär“ und dezentrale beziehungsweise ambulante Behandlung. Wir merken, dass den Häusern langsam bewusst wird, was auf sie zukommt, und dass die Anforderungen an die digitale Landschaft in der neuen Welt andere sind, als das bisher der Fall war. Viele würden ihre KHZG-Anträge heute wahrscheinlich anders schreiben, wenn sie hierzu noch einmal die Gelegenheit hätten.

Welche Möglichkeiten hat ein Krankenhaus, das merkt, dass es beim KHZG falsch abgebogen ist?
Bis zu einem gewissen Grad können in den Ausschreibungen noch Anforderungen und Kriterienkataloge verändert werden, sodass Lösungsstrukturen, die man anfangs nicht im Kopf hatte, ermöglicht oder zumindest nicht verbaut werden. Wir sehen mittlerweile deutlich, dass sich das Beschaffungsverhalten und das Anforderungsmanagement verändern, und dass andere Lösungen die Ausschreibungen gewinnen als die, die die jeweiligen Verantwortlichen ursprünglich vielleicht im Kopf hatten. Auch wären, wenn das zu beschaffende Produkt noch nicht ausgeschrieben wurde, Änderungsanträge beim Fördermittelgeber möglich, um noch Korrekturen vornehmen zu können.

Einige Wochen nach dem letzten „Meeting am Meer“ hat SAP im Herbst 2022 offiziell gemacht, was schon länger kolportiert wurde, nämlich dass IS-H, und damit auch das KIS i.s.h.med, auslaufen werden. Was bedeutet das für die deutschen Krankenhäuser?
Das betrifft sehr viele Häuser. Die haben jetzt gar keine andere Wahl, als sich Gedanken darüber zu machen, wie ihr KIS bzw. ihre klinische Anwendungslandschaft in Zukunft aussehen werden. Und da muss man einfach sagen: Die Enterprise-Architekturen im Krankenhaus werden sich verändern. Die Architektur eines KIS in den für die i.s.h.med Abkündigung relevanten Jahren 2027 bis 2030 wird deutlich anders aussehen als die KIS-Architektur der letzten 20 Jahre. Die Krankenhäuser können genau jetzt einiges tun, damit sie diesen Veränderungen relativ gelassen entgegensehen können.

Wohin bewegen wir uns in Sachen KIS-Architektur?

Gegenfrage: Wohin bewegt sich die Versorgung? Sie bewegt sich in Richtung kooperativer, regionaler Versorgungsstrukturen, innerhalb derer die Daten den Patient:innen strukturiert folgen können. Das muss die IT leisten können. Ein Beispiel aus unserem eigenen Umfeld ist die Marienhaus-Gruppe. Die führen jetzt ein Clinical Data Repository zur Umsetzung einer systemunabhängigen und vollständigen institutionellen ePA ein, eine separate Pflegebehandlungsdokumentation und zusätzlich, ebenfalls separat, eine strukturierte Medikation. Die bisherigen KIS wandeln sich in dieser neuen Architektur in Richtung klinische Arbeitsplatzsysteme und die Gesamtarchitektur wird zukunftsfähig. Klassische KIS stehen nicht mehr im Mittelpunkt, sondern reihen sich in die Applikationslandschaft ein und werden nach ihrem operativen und strategischen Nutzen bewertet. Das Entscheidende bei der genannten Ausschreibung ist: Anfangs dachte die Mehrheit sicher, die Zuschläge gehen an die KIS-Hersteller. Am Ende gingen sie an modulare Hersteller, die integriert werden in eine offene, innovations- und transformationsfähige IT-Welt.

Politisch ist der Elefant im Raum derzeit die Krankenhausstrukturreform. Da ist noch viel unklar, aber „digital vor ambulant vor stationär“ gilt als gesetzt. Mit welchen Architekturen sind Krankenhäuser auf das, was da auf sie zukommt, Stand im Moment optimal vorbereitet?
Aus unserer Sicht ist das Entscheidende die konsequente Trennung von Daten und Applikationen. Egal ob sie stationär, ambulant oder telemedizinisch entstehen, egal ob sie aus der Dokumentation oder einem Wearable stammen, die Daten werden alle in einem Clinical Data Repository verarbeitet, semantisch korrekt aufgearbeitet und dann allen Prozessen und Systemen zur Verfügung gestellt, egal wo der Patient oder die Patientin physisch versorgt wird. In jedem Prozess sind die Daten vollständig strukturiert und annotiert verfügbar, völlig system- und herstellerunabhängig. Das heißt: Je besser die Datenqualität und je besser die Interoperabilität, umso leichter werden harmonisierte Systemintegrationen und -wechsel oder jegliche Transformationen klinischer Systeme, weil es nicht mehr diese aufwendigen Abstimmungen und Migrationsprojekte gibt. Wir reden da nicht nur über „digital vor ambulant vor stationär“. Solche Architekturen machen es auch einfacher, zum Beispiel personalisierte Medizin umzusetzen, sie ermöglichen eine klinische Entscheidungsunterstützung mit und ohne KI, ein präventives Gesundheitsmanagement. Wenn Daten und Applikationen getrennt werden, dann wird die jeweilige Einrichtung hinsichtlich weiterer Digitalisierungsschritte sehr viel schneller und freier, aber es geht nicht darum. Es geht um Steuerung, um medizinische Qualität, um Reputation. Digitalisierung wird ein Business Case und ein Qualitätsmerkmal, sie ist nicht mehr nur ein notwendiges Übel. Dieser Wandel ist schön zu sehen.

Sehen die KIS-Hersteller das auch so?
Wir hatten in den letzten Monaten eine ganze Reihe von Gesprächen mit diversen KIS-Herstellern. Fast alle konzentrieren sich in ihren Strategien darauf, sich in solche Datenstrukturen zu integrieren. Es geht nicht mehr darum, die eigene Applikation mit monolithischer Daten- und Systemarchitektur zu untermauern. Der KIS-Markt hat erkannt, dass dieser Wandel stattfindet und dass es nicht so weitergeht wie bisher.

Neben der Trennung von Daten und Applikationen ist das Thema Cloud zuletzt wieder etwas stärker in den Fokus gerückt. Es gibt erste KIS-Projekte, die in Public Clouds angesiedelt sind. Es wurden regulatorische Hürden abgebaut. Nimmt das Thema jetzt Fahrt auf?
Das nimmt stark Fahrt auf, aber hier muss man immer gut differenzieren, was unter dem Buzzword „Cloud“ verstanden wird. Reden wir über Private Clouds? Über Amazon, Microsoft und Co? Über Rechenzentren in der Cloud? Oder über Software-as-a-Service (SaaS)? Wenn wir die Clinical Data Repositories betrachten: 90 Prozent der Projekte, die wir in diesem Bereich betreuen, werden als SaaS bzw. als Managed Service aus der Cloud geliefert. Da wird nichts mehr on-premise installiert. Allerdings sind das Stand heute Private Clouds, also nicht die Amazons und Microsofts dieser Welt.

Wie sieht es bei den klinischen Arbeitsplatzsystemen aus?
Auch da. Die Kliniken, mit denen wir reden, haben bei diesem Thema keine Berührungsängste mehr. Es gibt natürlich eine Menge hybride Modelle. Viele haben das KIS noch On-Premises, aber das Ausfallsystem als SaaS. Was Sinn macht, weil dann die Verfügbarkeit gesichert ist, auch wenn das eigene Netzwerk wegbricht. Insgesamt haben wir die Diskussion On-Premises versus SaaS eigentlich nicht mehr. Der Trend geht ganz klar in Richtung Managed Services, da ist die Ausfallsicherheit eigentlich immer besser als bei On-Premises-Lösungen. Das gilt auch bei den klinischen Systemen.

Der Trend geht Richtung Managed Services, aber damit nicht automatisch in Richtung Public Cloud?
Public Clouds sind die Ausnahme bisher. Ob sich das irgendwann ändert, werden wir sehen. Einen echten Trend sehen wir hier noch nicht.

Von der Cloud auf den Boden der Tatsachen: Der Fachkräftemangel bereitet praktisch jeder Klinik Bauchschmerzen. Die Charité schickt Delegationen durch die halbe Welt, um Pflegekräfte im Ausland abzuwerben. Wie können digitale Lösungen helfen, den Fachkräftemangel zu lindern?
Automatisierte digitale Prozesse im Bereich Administration entlasten, wenn sie gut umgesetzt werden, das Personal stark, ob bei der Aufnahme oder bei der Pflegekraft auf Station. Auch Kommunikation ist ein Thema: Je strukturierter, je asynchroner die Kommunikation abläuft, desto stärker wird das Personal entlastet, und das lässt sich mit entsprechenden IT-Lösungen umsetzen. Dokumentation ist ein drittes Thema. Auch hier kann IT enorm unterstützen, insbesondere dann, wenn zusätzlich auf Interoperabilität geachtet wird. Schwierig ist es, solche Effekte direkt zu messen.

Wenn wir über digital vor ambulant vor stationär reden, dann reden wir auch über Telemedizin in Richtung Patient:innen. Diese Telemedizin, und auch die B2B-Telemedizin, also Telekonsile, will die Politik mit dem Digital-Gesetz voranbringen. Wird Telemedizin für Krankenhäuser ein eigenes Geschäftsfeld?
Das ist noch offen. Wir begleiten ein Projekt in Oldenburg, wo das dortige Pius-Hospital anhand eines Clinical Data Repository eine telemedizinische Versorgungsstruktur für die Region aufbaut. Inwieweit man mit solchen Angeboten in den neuen Krankenhausstrukturen künftig dann auch Geld verdienen kann, muss sich zeigen. Tatsache ist: Wir haben kaum noch Kliniken in unserem Umfeld, die die Telemedizin bei ihrer Digitalstrategie ausklammern. Im B2B-Bereich spielt sie ohnehin mittlerweile eine große Rolle. Zum Patienten hin wird viel von der Entwicklung der Vergütung abhängen. Es gibt viele Telemedizinprojekte im KHZG-Kontext. Die Politik muss jetzt gewährleisten, dass das nachhaltig finanzierbar ist. Sonst werden diese Projekte wieder eingestampft in ein paar Jahren.

Wie ist generell die Erwartungshaltung in der Branche, was das Post-KHZG-Zeitalter angeht? Wird eine wie auch immer geartete Verstetigung von Finanzierung erwartet oder eher nicht?
Die Krankenhäuser, zu denen wir Kontakt haben, gehen nicht davon aus, dass es weitere Geldspritzen in diesem Ausmaß gibt. Die machen sich intensive Gedanken darüber, wie sie das selbst profitabel betreiben können.



Das Interview führte Philipp Grätzel von Grätz, Chefredakteur E-HEALTH-COM.

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Meeting am Meer 2023

Vom 4. bis 6. Oktober 2023 richtete das Beratungsunternehmen Digital Avantgarde im Seebad Heiligendamm das Meeting am Meer 2023 aus. Es war das siebzehnte derartige Meeting. Das Themenspektrum reichte von KHZG über KI-Assistenten für die medizinische Versorgung bis hin zu Telemedizin, OP-Logistik und Cloud-Installationen. Eng mit all diesen Einzelthemen verknüpft sind übergeordnete Digitalstrategien und die Frage, wie ein Krankenhaus eine zukunftsfähige Governance für seine Digitalisierung aufsetzen sollte. Auch darüber ist „am Meer“ intensiv diskutiert worden.

www.meeting-am-meer.de