E-HEALTH-COM ist das unabhängige Fachmagazin für Gesundheitstelematik, vernetzte Medizintechnik , Telemedizin und Health-IT für Deutschland, Österreich und die Schweiz.
Mehr

Für das ePaper anmelden

Geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein, um sich an der Website anzumelden

Anmelden

Passwort vergessen?

Top-Thema |

Es tut sich was in der Provinz

Strukturschwache und ländliche Regionen zeigen, wie medizinische Versorgung in Zukunft aussehen kann, und entpuppen sich dabei als echte Leuchtturmprojekte mit Signalwirkung auch in Richtung Städte. Dabei bringen unterschiedliche Versorgungsformen neue Kooperationen und geänderte Rollenbilder mit sich. Was allen gleich ist: Digitalisierung als konstituierendes Element.

Bild: © Oulaphone – stock.adobe.com, 369188941, Stand.-Liz.

Es brennt in Deutschland! Pflegenotstand, Ärztemangel, steigende Kosten – das Gesundheitssystem kommt immer mehr an seine Grenzen. Das ist nichts Neues, aber nun sind viele Beteiligte so weit, sich konkrete Gedanken über Löscharbeiten zu machen. Dabei zeigt sich, dass ländliche Regionen als Vorreiter vorangehen und auf neue, spannende Versorgungsformen setzen. Zwar aus der Not geboren und weil sich die „pain points“ in der Peripherie schneller offenbaren. Doch mit interessanten Ideen und viel gutem Willen machen sich unterschiedliche Akteur:innen auf, die medizinische Versorgung auf dem Land zu sichern, und das mit Projekten, die Leuchtturmcharakter haben. Ein Wermutstropfen: Wie so oft mangelt es nicht an erfolgversprechenden Ideen, am Ende bleibt jedoch die Frage, was nach Ablauf der geplanten Projektzeit passiert. Damit sie nicht zu Rohrkrepierern werden, müssen Leuchtturmprojekte den Sprung in die Regelversorgung und letztlich in die Fläche schaffen.


Genossenschaftlich organisierte Gesundheitsversorgung
Da, wo die medizinische Versorgung nicht mehr oder nur noch schwer gewährleistet werden kann, blühen neue Versorgungsformen, das zeigte der letztjährige Kongress des Bundesverbands Managed Care (BMC) in Berlin sehr deutlich. So treiben Kommunen und Ärzt:innen die Gründung von genossenschaftlichen MVZ voran. Ein Beispiel: „Campus GO – smarte Gesundheitsregion bayerischer Odenwald“, eine Genossenschaft, die von neun Kommunen und einem Hausarzt gegründet wurde und als Betreiberin eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) fungiert.


In der Region sah es zuvor düster aus: Es gab kein regionales Ärztenetz, das ansässige Krankenhaus hatte große Vertrauensprobleme in der Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzt:innen. Die MVZ-Gründung hat die Gesundheitsversorgung nun gesichert und neue, attraktivere Anstellungsoptionen für Mediziner:innen geschaffen (s. Grafiken oben). Zwar wurde das Genossenschaftsmodell primär für den hausärztlichen Bereich entwickelt, es schließt jedoch die mögliche Beteiligung anderer Facharztgruppen oder kommunaler Krankenhäuser nicht aus. Ein wichtiger Erfolgsfaktor für die Gründung war eine moderne IT. Inzwischen hat das MVZ einen Förderbescheid des Landes Bayern für das Projekt „IT und TI für das hausärztliche MVZ“ des Campus GO erhalten.


Ebenfalls genossenschaftlich organisiert ist das Gesundheitsnetz Genial eG. Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Haus- und Fachärzt:innen in Lingen und Umgebung. Auf Basis eines netzinternen Qualitätsmanagements bilden die Praxen ein einheitliches System, in dessen Rahmen Patient:innen behandelt werden. Im „Heimarztmodell“ der Genial eG fungiert der „Heimarzt“ als Bindeglied zwischen Heim und Praxen und ermöglicht eine reibungslose Kommunikation. Der „Genial-Lotse“ steht arbeitsunfähigen Patient:innen zur Seite und hilft ihnen, belastende Lebensumstände zu verändern. Er steht dabei in engem Kontakt mit dem behandelnden Arzt / Ärztin und informiert diese:n über den Verlauf der Begleitung und den gewählten Lösungsweg. Das Netz hat sich inzwischen zu einem Kompetenzzentrum für Gesundheitsfragen in der Region entwickelt.


Krankenhäuser bauen Gesundheitsportale auf
Der Trend zur Vernetzung geht auch vonseiten der Krankenhäuser aus. Diese warten immer häufiger mit ausgezeichneten Plattformen auf, um Sektorengrenzen zu überbrücken. Das Universitätsklinikum des Saarlandes (UKS) plant mit seinen Kooperationspartnern „Das Virtuelle Krankenhaus“. Langfristig sollen damit Kliniken, Leistungserbringer und andere Einrichtungen des Gesundheitswesens digital vernetzt werden. „Hausärzte sollen nicht nur via KIM, TIM oder ePA, sondern mit ihren Praxissystemen angeschlossen werden“, berichtet Lars Ohlen, Bereichsleiter Klinische Verfahren am UKS, auf dem BMC-Kongress 2023 in Berlin.


Außerdem ist sogar eine Abdeckung über das Saarland hinaus in die Großregion Saar-Lor-Lux geplant. Das UKS übernimmt dabei den federführenden Part, anfängliche Partner sind das Caritas Krankenhaus Lebach und das Kreiskrankenhaus St. Ingbert. In einem ersten Schritt erfolgt der telemedizinische Netzwerkaufbau im Bereich Intensivmedizin. Hierzu wurden die beteiligten Pilotkliniken mittels gesicherter Tablets miteinander verbunden. Später, im letzten Quartal dieses Jahres, soll ein plattformgestütztes intersektorales Versorgungsnetzwerk zur Optimierung des Patientenpfades mit virtueller Sprechstunde, Telekonferenzen und interdisziplinären Fachbesprechungen, Fallakten, KI-Analysen Televisite und einem Überleitungsmanagement – alles auf der Basis der „Connected eHealth Plattform Saar-Lor-Lux“ – hinzukommen. Die Kommunikationsplattform fußt auf einer Interoperabilitätsplattform mit FHIR Data Repository und einem angebundenen Patientenportal. Das Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie fördert den Projektstart mit 221 800 Euro.


Für das Projekt alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen und an dem Vorhaben mitzuarbeiten, war eine der größten Hürden, die es zu überwinden galt. Doch die Notwendigkeit, schnelle Lösungen zu finden, die nah an den realen Bedingungen in den jeweiligen Regionen sind, wird für alle immer dringlicher. „Die gematik ist oft von der Realität entfernt und wir in der Region können die Dinge schneller umsetzen und auch weiter in unseren Lösungen gehen“, findet Ohlen. Als direkte Konkurrenz zur gematik will er sich nicht sehen, andererseits belebt ja Konkurrenz bekanntlich das Geschäft.


Kassen etablieren Telemonitoring für geriatrische Patient:innen
Auch auf Kassenseite mag man nicht mehr warten, bis die Politik sich bewegt. Krankenkassen rutschen immer mehr in die Versorgerrolle und initiieren Projekte. Als besonders umtriebig präsentiert sich die AOK. Für eine bessere medizinische Versorgung startete die AOK Rheinland-Pfalz / Saarland das für Teilnehmende kostenlose telemedizinische Projekt „patego“, bei dem es um eine bessere geriatrische Versorgung geht, die via Telemonitoring erreicht werden soll. Dafür werden den Teilnehmenden und ihren Angehörigen eine App, telefonische Betreuung durch Gesundheitsberater und Pflegeberater für ein Vor-Ort-Assessment zur Verfügung gestellt. Der Kontakt zur Zielgruppe wurde über gezieltes Anschreiben hergestellt. Das für die Patient:innen kostenfreie Programm soll mittel- und langfristig nicht nur die Versorgungsqualität verbessern, sondern auch – etwa durch eine Reduzierung von ungeplanten Krankenhausaufenthalten – Kosten reduzieren.


Das Projekt „patego“ wird durch den Innovationsfonds gefördert. Um den Sprung in die Regelversorgung zu schaffen, muss das Projekt nach Förderablauf einen Nutzennachweis bringen. Martin Faust, Leiter Rehabilitative Versorgung, AOK Rheinland-Pfalz /Saarland, berichtete auf dem BMC-Kongress, dass das Projekt über die Einordnung in den Selektivvertrag auf drei Jahre mit Aussicht auf eine Verlängerung von weiteren drei Jahren finanziell abgesichert ist. Doch das geht bei Weitem nicht allen Innovationsfonds-Projekten so – mit Folgen: War die anfängliche Begeisterung angesichts verfügbarer Gelder durch den Fonds noch groß, wächst nun die Kritik. Denn die zeitliche Begrenzung der Projekte hat ihre Tücken. Der Nutzen zahlreicher Projekte lässt sich erst nach einem längeren Zeitraum belegen. Entsprechende Nachweise können nicht erbracht werden, weil vorher die Finanzierung ausläuft. Tun sich dann keine neuen Geldquellen auf, müssen die Projekte neu angefangen werden oder drohen in der Versenkung zu verschwinden. Eine Möglichkeit, die Finanzierung zu sichern, könnte sein, mit einem Projekt Teil einer Gesundheitsregion zu werden. Diese sollen, wie im Koalitionsvertrag angekündigt, ­attraktivere Versorgungsverträge erhalten und darüber hinaus einen erweiterten gesetzlichen Spielraum für Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern, um innovative Versorgungsformen zu stärken. Konkrete Ausgestaltungen für die Finanzierung gibt es allerdings noch nicht.


Kurzstationäre Versorgung: Ausblick auf die neue Krankenhauslandschaft?

Ebenfalls vom Innovationsfonds gefördert ist das Projekt StatAMed. Federführend unter der Leitung der AOK Rheinland/Hamburg baut das Projekt auf dem Modell der kurzstationären Versorgung auf, wie es die Stadtteilklinik Hamburg (SKH) bereits erfolgreich umsetzt. Ziel ist, intersektorale Versorgungslücken zu schließen. Da, wo sich Krankenhäuser nicht mehr wirtschaftlich betreiben lassen, stellt der mit dem Projekt geplante neue sektorenübergreifende Patientenpfad eine Alternative zur ersatzlosen Schließung der Kliniken dar und offeriert den Menschen vor Ort ein bedarfsgerechtes Angebot. Ähnliche Ziele verfolgt die von der Bundesregierung geplante Krankenhausreform, über die allerdings weiterhin heftig gestritten wird und bei der Stand Anfang Mai 2023 unklar ist, ob, wann und wie sie jemals kommen wird.  


Das Konzept hinter StatAMed ist einfach: Zunächst wird eine kleine Klinik mit einer allgemeinmedizinischen Abteilung (falls Bedarf vorhanden ist, können auch einige wenige operative Belegbetten bereitgehalten werden) ohne Notaufnahme installiert. Diese verfügt über eine medizintechnische Basisausstattung. Unbedingt notwendig sind ein:e vor Ort arbeitende:r Allgemeinmediziner bzw. -medizinerin oder Internist bzw. Internistin sowie Pflegekräfte.


Die Mediziner:innen führen vor der Patienteneinweisung ein strukturiertes Einweisungsgespräch mit den einweisenden Kolleg:innen, stationären Pflegeeinrichtungen, Rettungsdiensten oder ambulanten Pflegediensten und dem medizinischen Koordinator der Klinik durch. Dabei wird das Behandlungsziel und der Behandlungsplan formuliert. Während des Aufenthalts gibt es eine tägliche Entscheidervisite, Arzneimitteltherapiesicherheitskonsile und gegebenenfalls die Einbindung externer Konsile via Telemedizin. Das Modell sieht eine sektorenübergreifende Behandlungsplanung sowie ein Case Management vor, mit dem die interdisziplinäre Versorgung koordiniert wird. Für die Zeit nach der Entlassung wird unter anderem eine telemedizinische Nachsorge eingerichtet. Es werden regionale Netzwerk-Ärzt:innen über telemedizinische fachärztliche Konsile eingebunden und ihnen stehen Gesundheitslotsen zur Seite. Für die häusliche Versorgung der Patient:innen im häuslichen Umfeld kommen „flying nurses“ zum Einsatz.


Die Beispiele zeigen: Die Versorgung in der Peripherie wird immer schwieriger, doch es tut sich was auf dem Land. Es gibt funktionierende Konzepte und auch guten Willen, diese umzusetzen. Außerdem markieren die genannten Beispiele einen Paradigmenwechsel: Kommunen, Landkreise und auch Krankenkassen wechseln in Sachen Gesundheit immer mehr in die Versorgerrolle. Gleichzeitig steigt die Kooperationsbereitschaft – auch aufseiten der Ärzt:innen. Sicher passiert das vor allem vor dem Hintergrund wachsender Not, denn die Verantwortlichen wollen und können nicht mehr auf die Politik warten, bis diese mit geeigneten Ideen kommt. Außerdem reicht ein „One size fits all“-Ansatz nicht. Es braucht granulare Lösungen, die unkompliziert und schnell in die Regelversorgung überführt werden können.

______________________________________________________________________________________

 

INTERVIEW

»Es gibt nicht nur eine einzige Lösung«

 

Die HealthCare Futurists GmbH ist ein Netzwerk, das Innovation im Gesundheitswesen anstößt. Geschäftsführer Dr. Tobias D. Gantner plädierte beim BMC- Kongress für einen praktischen und patientenzentrierten Ansatz für die Sicherstellung der Versorgung in ländlichen Regionen.

 

Sie bauen Prototypen und testen neueste smarte Entwicklungen aus der ganzen Welt. Was machen Sie in Bezug auf Telemedizin?
Ja, es gehört zu unserer Unternehmens-DNA, die Versorgung von der Seite der zu Versorgenden zu denken. Insofern bringen wir prozessuale Innovationen und technologische Neuerungen zusammen. Dabei geht es darum, notwendige, d. h. die Not wendende Veränderungen dort einzusetzen, wo sie benötigt und gewünscht werden. Für die Telemedizin greifen wir aber meist auf bereits bestehende, am Markt verfügbare Angebote zurück, die wir dann entsprechend modifizieren. Brauchen wir etwas, das es nicht oder nicht in der Qualität, die wir benötigen, gibt, dann bauen wir es selbst. Das hat den Vorteil, dass wir häufig „out of the box“ arbeiten können, was insgesamt unsere Arbeit im Unternehmen als Pragmatiker der Versorgung und Innovation kennzeichnet.

Was ist aus Ihrer Sicht für die Versorgung ländlicher Regionen interessant?

Uns interessiert im Hinblick auf die ländliche Versorgung dabei, dass sich die Technologie den Menschen anpasst – und nicht umgekehrt. Dabei denken wir viele Konzepte neu, von Prozessen zur Kommunikation, von der Technologie zur Erstattung. Ich glaube, dass im Rahmen einer zukünftigen Versorgung auf dem Land auch digitale Geräte, d. h. Wearables mit dazugehörigen Programmen, sehr interessant sein können, um eine adäquate Versorgung zu gewährleisten. Dabei wird es darum gehen, Krankheit zu verhindern bzw. rechtzeitig zu erkennen, und dann um die Führung von Patient:innen mithilfe telemedizinischer Werkzeuge. In der klugen Anwendung von künstlicher Intelligenz liegt hier ein großes Potenzial, von dem Menschen jedweden Versorgungsbiotops, ob urban oder ländlich, profitieren können.

Es gibt viele Projekte und Ideen für die medizinische Versorgung der Peripherie. Welche sind für Sie am vielversprechendsten?
Wahrscheinlich müssen wir uns auch davon verabschieden, zu denken, es gäbe eine einzige Lösung für alle unsere Herausforderungen. Wir haben gelernt, dass sich die Probleme ähneln, aber eben nicht identisch sind, und die Fälle von Kommune zu Kommune unterschiedlich sind. Es bedarf dafür aber nicht nur des politischen Willens, eine langfristige Versorgung unter den Herausforderungen und Rahmenbedingungen, die mit dem demografischen Wandel einhergehen, über eine Förderperiode hinaus umzusetzen, sondern auch einer klugen und ehrlichen Kommunikation mit denen, die diese neuen Versorgungsstrukturen betreffen und deren Lebenswirklichkeiten sich in den nächsten Jahren verändern werden, weil eine flächendeckende, wohnortnahe und persönliche medizinische Versorgung in der gewohnten Form nicht mehr für alle sicherzustellen ist.

Wie kann so eine Kommunikation aussehen?

Wir benötigen einen Bürgerdialog darüber, wie wir uns die zukünftige medizinische Versorgung auf dem Land vorstellen. Dazu gehört neben technologischem Grundverständnis auch der Wille, ein Gesundheitswesen aktiv mitzugestalten. Wir sehen viele Projekte auf kommunaler Ebene, die z. B. durch den Inno-Fonds gefördert sind oder in Regie der Gemeinden stattfinden. Aus diesen Projekten können alle Projektinitiatoren und Verantwortlichen für ländliche Versorgung viel lernen. Wenn wir es schaffen, die Ergebnisse den Bürger:innen näherzubringen und die digitale Kompetenz auf dem Gebiet bei Patient:innen und Ärzt:innen zu stärken, haben wir eine gute Grundlage, herauszufinden, welche Konzepte in welche Rahmenbedingungen am besten passen. Ich glaube, wir müssen einfach mehr Dinge ausprobieren, zügig lernen, mehr Einsatz wagen.